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04.2
Geschichten - John Henry Mackay
Die Menschen
der Ehe
Schilderungen
aus der kleinen Stadt
1912
Der Zauber war gebrochen.
Sie
war ihm nur noch eine Studie, wie sie dort vor ihm saß -: die kleinen
Füße
in den eleganten Schuhen vorgestreckt, ermüdet durch Nichtstun,
scherzend,
liebäugelnd mit der Wohlhabenheit ihrer Umgebung, denn sie fand, daß er
es doch
wenig weit gebracht haben mußte, seiner einfachen, fast unmodernen
Kleidung
nach zu schließen.
Doch
sie begann es zu merken, daß auch er sie beobachtete, obwohl er sie
nicht
ansah und offenbar nicht hörte, was sie sagte.
Sie
wurde unruhig.
-
Aber du hörst mir ja gar nicht zu, und ich sitze hier und erzähle dir
alle
Neuigkeiten von Bedeutung, die seit zehn Jahren hier geschehn sind -
Er
sah auf. Und wieder
errötete sie unter seinem Blick.
Wie
er suchte sie ihn
abzulenken.
-
Und nächsten Mittwoch ist Harmonieabend im Kasino: Musik und Ball, da
wirst
du Alle wiedersehen, die du kennst, unsere ganze Gesellschaft. –
Zum
erstenmal sprach sie von ihrem Mann:
-
Er hat mir zwar verboten hinzugehen,
er sagt, es sei zu viel für mich, sie stampfte mit dem Fuße auf, - aber
jetzt,
wo du hier bist, muß er es mir erlauben, m u ß
e s,
m u
ß e s!
Sie
hielt einen Augenblick inne, etwas erschöpft und erhitzt von dem langen
Sprechen, aber schon ging es weiter.
-
Oder besser noch, wir geben eine Gesellschaft, eine große Gesellschaft
dir zu
Ehren – sie klatschte in die Hände vor Vergnügen und wartete offenbar
auf einen
ähnlichen Ausbruch des Entzückens bei ihm.
Aber
er erkannte jetzt, daß es die höchste Zeit war, dieser Komödie ein Ende
zu
machen.
Er
rückte seinen Stuhl näher und beugte sich etwas vor, so daß er gerade
vor
ihr saß.
Sie
fühlte, nun kam es.
Fast
scherzend begann er.
-
Ich glaube, du langweilst
dich, Klara.
-
Ach ja, ich langweile
mich – seufzte sie.
-
Nun, so solltest du dir Tätigkeit suchen –
Sie
antwortete nicht. Er lächelte unmerklich und fuhr fort: „Oder aber
Zerstreuung
– „
Da
sah sie auf und richtete ihre schwimmenden Augen auf ihn.
-
Zerstreuung – aber wie? – Was gibt es hier für Zerstreuung?
-
Reise.
-
Reisen – ich kann ja
nicht, er hat ja nie Zeit.
-
Wer? –
-
Nun, er, mein Mann.
-
Daran dachte ich nicht. Ich meinte natürlich, du solltest allein reisen.
-
Allein?! wiederholte sie mit dem Ausdruck des Erstaunens, des
Erschreckens. –
Wie kann eine verheiratete Frau allein, ohne ihren Mann, reisen?
-
Weshalb kann denn eine verheiratete
Frau nicht allein, ohne ihren Mann reisen? Unwillkürlich brauchte er
dieselben
Worte wie sie. Aber es geschah ganz ohne spottende Absicht.
Er
wartete auf ihre Antwort. Sie wich ihm aus.
-
Ja, ich weiß, daß du so seltsame Ansichten über die Ehe hast. Wie heißt
doch
dein Buch darüber? – Eine Freundin – die Frau von Redlich, du kennst
sie nicht,
sie sind erst drei Jahre hier, der Mann ist Hauptmann – ja, sie hat es
mir
gesagt. Sie wollte mir auch das Buch leihen, sie hat es mir ganz fest
versprochen, aber sie hat es mir immer noch nicht gebracht, denn sie
muß erst
den Professor Hastrich vom Gymnasium fragen, dem gehört es.
Grach
hatte Mühe nicht loszulachen.
Daß
man ein Buch auch kaufen könne, war dieser Frau offenbar noch nicht
bekannt
und sie, die gewohnt war, auf Damast und von silbernen Schüsseln zu
speisen,
scheute sich nicht, die schmutzigsten Leihbibliotheksbände durch ihre
weißen
Hände gleiten zu lassen. Auf dem Tische
vor ihm lagen einige Exemplare dieser Art.
Die
Sonne brannte durch die Blätter der Laube. Ihre Glut hatte die höchste
Höhe
erreicht. Ihn dürstete. Er bat um etwas Wein und Wasser. Während der
Diener es
brachte schwiegen sie. Da sie sah, daß er nicht antwortete, sagte sie:
„Könntest du mir nicht sagen, was du in deinem Buche geschrieben hast
über die
Ehe, nur ganz kurz – ich komme so selten dazu, ein Buch zu lesen –„
Er
beugte sich wieder zu ihr hin.
- Ich
glaube, daß es so viel verschiedene Neigungen und Bedürfnisse gibt, als
es Menschen gibt, und ich wünsche, daß jeder Mensch diesen seinen
Neigungen
ungestört nachlebe, aus dem einfachen Grunde, um selbst ungestört den
meinen
folgen zu können.
Ich
maße mir nicht an, die Menschen zu verstehen. Wir verstehen überhaupt
wenig
voneinander. Aber frech greifen wir täglich und stündlich in das Leben
unserer
Mitmenschen ein, unter dem lügenhaften Vorgeben, ihnen helfen zu
wollen.
Ich
möchte, daß ein jeder nach seiner Fasson glücklich werde hier auf der
Erde.
So
ungefähr ist der Grundgedanke meines Buches. Du hast es nicht gelesen;
ich
mußte ihn dir daher schnell herzeichnen.
Wovon
man dir aber wahrscheinlich erzählt haben wird, das ist das Kapitel,
das
ich „Die Menschen der Ehe“ betitelt habe. Ohne irgendwie zu
klassifizieren oder
zu Schematisieren habe ich in ihm die Frage gestellt, ob es nicht einen
größeren Teil Menschen gäbe in unserer Zeit, auf welche diese
Bezeichnung mit
Recht sich anwenden ließe: Menschen der Enge im Gegensatz zu den
Menschen der
Weite; Menschen, die nie in Konflikt kommen mit ihrer Umgebung, da sie
alle
Geschicke – alle, die da aus der Menschen Hände kommen – als von Gott
ihnen
auferlegt betrachten; Menschen der kleinen Zufriedenheit, die ihr Glück
finden
in den Winkeln
des
Tages, immer an dem einen Tische und immer derselben Brust; Menschen,
die
nicht wissen, was es heißt, ein Versprechen auf Lebenszeit zu geben,
weil sie
nicht wissen, was es heißt: zu leben; Menschen der Stagnation, nicht
Menschen
der Bewegung; Nummern, aber Nummern, welche zu Zahlen werden, und
welche ich
deshalb hasse! –
Menschen
der Gewöhnlichkeit! – Menschen der Ehe! –
Er
hatte fast langsam, mit Ruhe und ohne äußere Leidenschaft gesprochen.
Aber
während er sprach, hatte er vergessen, zu wem er sprach.
Als
er endete und es merkte, verdroß es ihn. Seit so langer Zeit war er
gewohnt, zu sprechen, wie er wirklich dachte, daß er es verlernt hatte,
seine
Gedanken zu modeln nach dem Ohr seiner Zuhörer.
Es
hätte ihn nicht zu verdrießen brauchen. Denn er hatte zu tauben Ohren
gesprochen.
-
Verzeih, sagte er – er glaubte, sehr lange gesprochen zu haben - -
verzeih,
daß ich so lange sprach. Ich möchte nicht mißverstanden werden in dem,
was ich
dir jetzt sagen muß.
Wieder
zwang er sie, ohne es zu wollen, zu erröten. Er hatte bis jetzt kaum
den
Mund aufgetan, sie hatte unaufhörlich geplappert -: er bat sie um
Entschuldigung.
Sie
begann ihn zu hassen.
Verstanden
hatte sie kaum etwas von dem, was er gesagt. Sie hatte ihm fast so
wenig zugehört, wie er ihr. Ihre Gedanken waren damit beschäftigt, wie
sie ihn
auf die beste Manier los werden könne.
Für
sie gab es keine bedeutenden und unbedeutenden Menschen. Für sie gab es
nur
Menschen, die ihr zuhörten. Und die Männer zumal! Von denen war
sie ja gar nicht anders gewohnt, als daß
sie ihr zu Füßen lagen.
Daher
beleidigte sie diese Ruhe und Sicherheit.
-
Ach, ich bin sehr unglücklich! rief sie und deckte mit beiden Händen
die
Augen. - - Ich
weiß nicht, was ich tun soll . . .
Es
war ihr zweites Mittel, mit diesem Manne fertig zu werden. Ihr letztes
waren
die Tränen. Aber zu diesem wollte sie erst greifen, wenn alle anderen
erschöpft
waren.
-
Ja, Klara, wenn du nicht weißt, was du tun sollst, wer soll es dann
wissen?
Sie
sah ihn an mit ihren hellen Augen, wie ein hilfloses Kind.
-
Du bist doch hergekommen, um mir zu helfen.
Er
stand auf. Diese Frau
verstand nichts, konnte und wollte nichts verstehen.
Er
mußte sie zwingen, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen, vor denen sie
floh,
feig, jammernd und haltlos.
Er
blieb vor ihre stehen.
-
Nach Deinem Briefe mußte
ich annehmen, daß du den unwiderruflichen Entschluß gefaßt hattest,
dich von
deinem Manne auf immer zu trennen, da du ein Weiterleben mit ihm als
unmöglich
erkannt hast. In der Ausführung dieses Entschlusses dir zu helfen, bin
ich
hergekommen, nicht aber, um dich in deinen Entschlüssen zu
beeinflussen. Und
auch nicht, wie du dir vorhin glauben zu machen suchtest, um diese
Stadt,
welche mir ganz uninteressant ist, und alte Bekannte, von denen ich
nichts mehr
weiß und die nichts mehr von mir wissen wollen, wiederzusehen, oder auf
eure
Bälle und in eure Gesellschaften zu gehen, denn ich verkehre überhaupt
nicht in
bürgerlichen Kreisen. – Meine Zeit ist sehr bemessen. –
Er
ging hastig umher. Sie fürchtete sich vor ihm.
-
Aber du hast mich gerufen
mit dem Schrei nach Hilfe. Läßt man den Sinkenden vor seinen Augen
untergehen,
wenn man seine verzweifelnde Stimme vernimmt? Und wenn – so unterbrach
er sich
unwillkürlich lächelnd - - ich dich auch nicht auf dem offenen Meere
kämpfen
sah, so sah ich dich doch ringen mit der trüben Flut dieses – Teiches.
Es
wurde wärmer.
-
Deine verstorbene Mutter ist sehr gut gegen mich gewesen. Sie hat mir,
dem
Verwaisten, ein Dach und einen Tisch geboten viele Jahre lang. Und dann
haben
wir beide unsere beste Jugend nebeneinander verlebt, wenn auch nicht
miteinander. Das vergißt sich nicht so leicht. Darum bin ich gekommen,
nur
darum.
Er
hatte eine Rose vom Strauch gerissen und zerstreute während des
Sprechens
ihre Blätter achtlos umher.
-
Wie er die Blume behandelt! – dachte sie. Sie hatte nur noch einen
Wunsch:
diese erbarmungslos klare und schneidende Stimme nicht mehr zu hören.
Aber
diese Stimme klang weiter.
-
Ich komme hierher in dem festen Glauben, dich bereit zu finden, den
entscheidenden Schritt zu tun. Ich finde dich völlig schwankend, ohne
jeden
Entschluß – sage mir doch, weshalb du mich eigentlich gerufen hast?
Sie
sah sich bis auf den letzten Punkt gedrängt und verließ ihn, um sich zu
retten, indem sie zum Angriff überging.
-
Du sprichst soviel, klagte sie, - von den Mißständen in der Ehe. Willst
du
mir nicht sagen, wie du dir denn die Ehe denkst? – Wenn du etwas
beseitigen
willst, so mußt du doch etwas anderes an dessen Stelle setzen können.
Diesen
letzten Satz hatte sie einmal irgendwo gehört und er däuchte ihr gut
und
passend, um ihn jetzt anzuwenden. Kein Weib ist ganz ohne Schlauheit.
Auch sie
war es nicht.
Grach
antwortete sofort.
-
Ich kenne nur ein Verhältnis wie zwischen Mensch und Mensch, so
zwischen Mann
und Weib, das ich würdig nenne: das auf gegenseitiger Unabhängigkeit
beruhende;
denn es ist zugleich das einzige, welches die gegenseitige Achtung
ermöglicht.
Der Herr verachtet den Knecht, und der Knecht haßt den Herrn.
Mit
verständnislosem Lächeln sah sie vor sich hin.
-
Und in der Ehe? – fragte sie unsicher.
-
Bemitleidet der Mann heimlich die Frau, während die Frau ihn heimlich
belächelt.
Verstohlen
blickte sie ihn
von der Seite an. Woher weiß er das? – war ihr erster Gedanke
-
Es gibt doch so viele glückliche Ehen -
-
Wie viele kennst du?
-
Nein -, aber -
-
Nun, ich leugne es. Es gibt verschwindend wenige. Was Glück genannt
wird ist
Zufriedenheit. Und was Zufriedenheit scheint, ist nur Gewöhnung – jene
Gewöhnung
der schwächlichen Ohnmacht , die davor zurückschaudert, Ketten zu
brechen, und
in feiger Nachgiebigkeit Schritt für Schritt zurückweicht, Stück um
Stück ihrer
eigenen Würde, ihrer eigenen Freiheit und – was das Traurigste ist –
ihres eigenen
Glücks opfert, um das zu werden, was eine alberne Öffentlichkeit einen
guten
Ehegatten, ein treues Eheweib nennt.
-
Aber wie denkst du dir denn . . . begann sie zu wiederholen.
-
Das Verhältnis zwischen Mann und Frau in der Freiheit? – Ich verstehe
eine
solche Frage kaum. Vernünftige Menschen kommen zusammen, wenn sie sich
lieben
und gehen auseinander, wenn sie sich nicht mehr lieben. Mag sein, daß
sie bis
an ihr Lebensende zusammen bleiben in
Liebe und Einigkeit. Oft wird es nicht der Fall sein.
Auch
sie stand nun auf.
-
Aber um Gottes willen, das ist ja im höchsten Grade unmoralisch, was du
da
sagst! rief sie. – Es ist ja unanständig!
Er
lachte nur, laut und rücksichtslos.
Er
hatte ihr so viel
Klugheit zugetraut, daß sie ihn fragen würde, was aus den Kindern der
freien
Verbindungen werden würde. Aber er täuschte sich auch diesmal. Sie rief
– wie alle
Schwachköpfe – die Moral zur Hilfe, wo ihr Verstand nicht mehr
ausreichte.
Gleichmütig
sagte er:
-
Ja, über Anständigkeit
und Ehrenhaftigkeit gehen meine Anschauungen und die deiner Klasse,
welche du
teilst, wie ich sehe, weit auseinander. Ich weiß, daß es noch viele,
viele
Menschen gibt, die eine Vereinigung erst dann für anständig halten,
wenn sie
sich dieselbe gegenseitig erlaubt haben: Standesamt – Kirche und Pfaffe
–
Hochzeitsreise; die es anständig nennen, wenn zwei Menschen
zusammenbleiben,
die sich nicht mehr sehen können und die erkannt haben, daß auch das
leiseste
Gefühl sie nicht mehr zusammenhält, sondern nur noch das gegebene Wort.
Ich
weiß aber auch, daß es Menschen gibt, welche jede Umarmung, die aus
anderen
Gründen erfolgt, als aus gegenseitiger Liebe, gemein nennen, und zu
diesen
Menschen gehöre auch ich. Und Eins möchte ich dir und allen, welche die
Ehe
verteidigen und unsere Anschauungen der freien Liebe so laut und
emphatisch
beschreien, Eins möchte ich euch allen, euch Menschen der Ehe, sagen:
Tut, was
ihr wollt, aber zeigt uns durch eure eigenen glücklichen Ehen, daß wir
im
Unrecht sind und ihr im Rechte seid mit eurer Heiligsprechung der Ehe!
Dann
werden wir euch vielleicht glauben, eher nicht!
Er
griff nach Hut und Stock.
-
Adieu, Klara, sagte er und gab ihr die Hand, - leb’ wohl! Ich habe
gesehen,
daß du nicht unglücklich bist. Du bist unzufrieden, natürlich – du bist
ja
nicht frei. Aber wer kann dir da helfen, wenn du es nicht selbst tust?
Sie
war vollständig verwirrt. Sie wollte ihm noch etwas entgegnen, sie
hatte
den glühenden Wunsch, ihn noch zu demütigen, aber sie fand kein Wort
mehr
seiner kalten Überlegenheit gegenüber.
Nicht
einmal ihr letztes Mittel jetzt anzuwenden, schien ihr zweckmäßig. O,
wenn sie das vorher gewußt hätte, nie hätte sie ihm geschrieben!
Und
sie kämpfte mit ihren Tränen der Wut und des Zornes, als sie ihm gegen
ihren Willen die Hand geben mußte. Er aber ergriff sie und schüttelte
sie
freundlich. Dann ging er mit seinen schnellen Schritten den Kiesweg
entlang,
durch den hohen und kühlen Flur an der weißen Treppe vorbei und über
den weiten
Platz, der verlassen lag wie vor einigen Stunden.
Als
er in seiner Mitte angelangt war, kam von der anderen Seite her ein
älterer
Herr. Er ging schon gebeugt.
Grach
sah ihn in die Türe treten, die er soeben verlassen. War das ihr Mann?
Wenn
er mit den Blicken die Wände hätte durchdringen können, wäre ihm
folgendes
Bild erschienen: Frau Klara Böhmer hing an dem Halse dieses älteren
Herrn,
küßte ihn stürmisch und bettelte ihm die Erlaubnis ab, am nächsten
Mittwoch den
Ball im „Kasino“ besuchen zu dürfen ( - in einem ganz neuen Kleide - ),
während
sie in ihrem Innern beschlossen hatte, ihm fürs erste noch nichts von
dem
Besuch zu erzählen, den sie so schnell und dazu noch auf eine
verhältnismäßig
so gute Art und Weise losgeworden war.
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