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04.2
Geschichten - John Henry Mackay
Die Menschen
der Ehe
Schilderungen
aus der kleinen Stadt
1912
Quellenangabe
-
Menschen der Ehe! sagte
sie, als ich geendet hatte. Er sah auf. Sie hatte also sein Werk
gelesen. Er
wußte nicht, daß es seit Jahren keinen Mann gab, den sie im stillen
seines
Mutes und seiner unerschütterlichen Energie wegen so bewunderte wie
ihn.
-
Menschen der Ehe! wiederholte sie, ohne Geringschätzung oder
Verachtung,
sondern mit der Ruhe, mit welcher der Forscher das Objekt seines
Studiums
benennt. Aber lachen schien sie doch nicht zu können über Grachs
hastige
Erzählung. Dazu war sie diesen Menschen doch zu nah.
Mehr
und mehr überzeugte sich Grach während des Gespräches der nächsten
Stunde,
wie sehr sie es verstanden hatte, sich Allem, was die Zeit an Gutem,
Bedeutendem und Großem leistete, nah zu halten. Fast nichts war ihr
unbekannt
geblieben: jedes Buch hatte sie gelesen, jedes Ereignis mit dem ihr
eigenen
Scharfblick betrachtet und beurteilt, jede neue Erscheinung in den
Kreis ihres
Verstehens gezogen.
Sie
sprachen von Allem, wie es ihnen kam. Über vieles gingen ihre Ansichten
auseinander, aber über jedes hörten sie des anderen Meinung und über
nichts
verschwiegen sie die eigene.
Er
forsche sie aus. Aber es war so, wie er dachte: sie stand hier ganz
allein,
ohne Freunde, ohne Verkehr, ohne Verständnis bei irgendeinem Menschen.
Sie las
viel. Aber sie war die einzige vielleicht in der ganzen Stadt, welche
anderes
las als Zeitungen und die Romane der Leihbibliothek.
Kein
Mensch auch wußte hier, wer sie war. Eine fremde Erscheinung war sie
hierhergekommen und mit scheuer Achtung ging man ihr aus dem Wege,
während man
ihr nach dem ganzen Klatsch der Verständnislosigkeit und des Hasses,
weil sie „anders
war“, schüttete.
Wer
sollte hier auch ihren Namen kennen! Hier waren nur die Namen berühmt,
die
die Schilder der Straßen und die Zeitungen des Tages nannten.
Sie
war plötzlich verschollen und der Laut ihres Namens war schon fast
verhallt. War sie hier untergetaucht in diesem Sumpf, um hier zu
sterben? – Der
Gedanke machte Grach schaudern.
Und
wieder betrachtete er sie mit den Blicken der Liebe, während er auf den
Klang dieser tiefen, schönen Altstimme lauschte. Sie sprach langsam das
Ernste,
das sich in ihrem Hirn bildete, und mit Nachdruck in jedem Wort. Leicht
jedoch
und ungezwungen beantwortete sie seine Fragen nach ihrem persönlichen
Leben,
mit einem ganz kleinen Anflug von Spott und Wehmut in ihrer Stimme.
Sie
war wohltuend, diese Stimme. Unwillkürlich mußte er einmal diese
einfache
und schöne Sprache mit dem Geplapper vergleichen, das ihn den ganzen
Nachmittag
gefoltert. Auch in allen Nebensächlichkeiten war keine größere
Verschiedenheit
denkbar, als die zwischen diesen beiden Frauen.
Welche
wunderbare Frau! Welche wunderbare Frau! dachte er immer wieder und
ließ
keinen Blick von ihr. Immer mehr begann er sie zu verstehen. Täuschte
er sich
dennoch? – War sie glücklicher hier, als sie es früher gewesen? Oder
war diese
Resignation nur die Folge eines äußeren Zwanges?
Nein,
er konnte sich nicht
täuschen!
Sie
litt.
Eine
herrliche und fast unerschöpfliche Fülle von Lebenskraft hatte sie
bisher
aufrecht erhalten. Noch war nichts in ihr angegriffen, geschweige denn
gestört.
Aber
der äußere Dunst begann sie zu bleichen. Sie verlangte nach Leben, wie
die
Pflanze nach Wasser verlangt.
Drei
Jahre schon hatte sie keinen Tropfen vielleicht äußeren Glücks genossen
–
jenes Glückes, welches ein tägliches Bedürfnis ist: für Körper und
Geist eine
Befriedigung.
Und
noch immer stand sie aufrecht! – Aber von heute schon auf morgen konnte
sich das erste dieser dunklen Haare bleichen, konnte sich diesem Munde
zum
erstenmal ein Schrei der Wildheit: der Wut und der Klage, entblössen
und er
sich dann auf immer in Schweigen schließen, konnte dieser noch so helle
und
klare Geist sich trüben in der Nacht dieses Lebens . . . Und dann
war er zu spät!
Nein,
nie durfte das sein!
Er
lachte plötzlich laut und bitter.
Sie
sah erstaunt auf.
-
Weshalb lachen Sie so?
Alles
in ihm schäumte auf.
-
Dora Syk, rief er, und
lachte wieder, wie eben, - Dora Syk – und zweite Klassenlehrerin in der
Schule
für höhere Töchter zu Abdera! – Nun, wenn das kein Witz ist, über den
man
lachen darf, dann weiß ich es nicht!
Sie
erblaßte erst, dann überzog ein tiefer Unmut ihre Stirn. Zum erstenmal
mischte sich ein Klang von Schärfe in ihre Stimme.
- Sie
verstehen meine Stellung völlig falsch, Grach. Sie sah ihn fest an. –
Ich
bin nicht nur hierhergekommen, um für einige Zeit in sicherer,
äußerlich
sicherer Situation leben zu können, sondern ich bin auch
hierhergekommen, weil
ich – ich wiederhole es: für einige Zeit – der inneren Ruhe bedurfte.
Und das
ist genug Entschuldigung für meine Flucht, wenn sie überhaupt einer
bedarf.
Aber
Grach war so erregt, daß er nur halb vernahm, was sie sagte.
- Ach
was, rief er ungestüm, - eine Frau, wie Sie, hat überhaupt keine
Entschuldigung! Die einzige welche es gäbe, wäre die: daß Sie hier Ihr
Leben
wirklich leben. Aber zwischen diesen Mumien und Geldsäcken, diesem
stagnierenden Haufen müssen sie ja über kurz oder lang ersticken!
Ihre
Antwort erfolgte sofort. Sie war erzürnt.
- Sie
gehen immer wieder von der unbegründeten und ganz falschen
Voraussetzung
aus, daß ich mich auf immer hier vergraben wolle. Ich denke nicht
daran.
Er
war aufgesprungen und ging auf und ab.
Sie
war wieder völlig
ruhig. Auch während der letzten Worte hatte sich keine Linie ihrer
ruhigen
Haltung verändert.
- Ich
weiß, was ich zu tun und zu lassen habe. Und wenn Sie es durchaus
wissen
wollen, nun ja, ich denke, ich gehe bald zurück in die weite Welt
meiner Heimat
. . .
Er
stand ihr zur Seite und sie hörte seinen schweren Atem.
- Tun
Sie es noch heute! rief er leidenschaftlich. Und mit bebender Stimme
fügte er, kaum hörbar selbst für sie, hinzu: - Und – tun Sie es mit
mir! . . .
Er
sah auf sie nieder. Sie rührte sich nicht. Die leise Dämmerung, die
hinter
den hängenden Zweigen lag, verhinderte ihn zu sehen, wie die Farbe
ihres
Gesichts wechselte.
Sie
antwortete nicht. Seine
Hand lag auf der Lehne ihre Stuhles. Da sah sie auf seinen Sitz. Er
verstand
sie und setzte sich langsam.
Sie
nahm das vor ihre
stehende Glas und leerte es mit einem Zuge.
Sein
Herz klopfte.
Da
sah sie ihn an und lächelte. Noch immer entgegnete sie ihm mit keinem
Worte.
Aber er wußte jetzt, was er begehrte zu wissen.
Er
nahm ihre schlaff
herabhängende Hand. Er küßte sie nicht. Aber mit beiden Händen umfaßte
er sie
innig, mit einem zugleich zarten und festen Druck.
-
Dora Syk, sagte er leise
und seine Stimme bebte noch immer, - die Erde ist so arm an Glück in
unseren
Tagen. Sollten wir nicht einmal versuchen, zusammen glücklich zu sein?
Sie
sahen sich an. In seinen Augen glühte die heiße, stumme, begehrende
Bitte.
Er
hatte gesiegt. Er sah es an dem Ausdruck ihrer Augen, dem Lächeln ihres
Mundes
und er fühlte es an der Wärme ihrer Hand, die er nicht losließ.
Sie
zog sie zurück. Sie wollte nicht, daß die Stimmung sie überwältigte.
-
Schenken Sie mir noch einmal ein, Grach. – So. – Und nun lassen Sie uns
vernünftig zusammen sprechen, nun, wie Leute, die nicht mehr ganz jung
sind,
über so etwas sprechen sollten.
Ihre
Stimme hatte nur äußerlich den scherzhaften Klang. Sie machte noch eine
Pause, ehe sie begann.
- Ja,
sagte sie endlich. – Sie haben recht. Ich muß fort von hier. Ich will
es
selbst. Und auch darin haben Sie recht: es soll bald, es soll sofort
sein, -
Meine Ferien beginnen erst in acht Tagen. Aber ich kann mich vertreten
lassen.
Es ist das erstemal, daß ich eine Hilfe dieser Art in Anspruch nehme,
und da es
auch das letztemal ist, habe ich keine Ursache, eine Zustimmung erst
abzuwarten. Es genügt, wenn ich dem Direktor die Anzeige meines
Fortgehens
mache.
Auch
meine Verhältnisse kann ich sofort ordnen. – Aber bevor ich mit Ihnen
gehe, müssen Sie die folgenden Bedingungen annehmen:
Ich
liebe meine Freiheit über Alles, wie Sie die Ihre. Wir werden also
vollständig, in jeder Beziehung, unabhängig voneinander sein. Wir
werden uns
gegenseitig verschonen mit allen läppischen Zudringlichkeiten an Zeit
und
Stimmung. Wollen wir einen Weg nicht zusammen miteinander gehen, so
geht jeder
seinen eigenen. Und – was das Wichtigste ist – wir werden uns trennen
in der
ersten Stunde, in welcher wir - - anfangen werden uns miteinander zu
langweilen.
Sie
beugte sich vor und sah ihn mit ihren schönen, klugen Augen an.
-
Wollen Sie auf diese Bedingungen eingehen, Grach, dann geben Sie mir
nochmals
die Hand.
Er
griff nach ihren beiden Händen.
-
Dora Syk, rief er in jugendlicher Begeisterung, - weiß der Himmel, aber
Sie
sind doch die herrlichste Frau, die ich je in meinem Leben kennen
gelernt habe!
Da
lachte sie hell auf und der Bann zwischen ihnen war gebrochen. Frage
auf
Frage und Antwort auf Antwort folgte sich nun in buntem Wirbel.
Nach
Paris wollten sie gehen. Noch heute Abend. Mit dem Schnellzug um halb
elf
Uhr. Morgen früh waren sie dort. Er zweifelte, daß sie bis zehn Uhr
fertig sein
konnte. Gewiß, drei Stunden würden genügen für sie. Hatte sie doch von
Niemand
hier Abschied zu nehmen.
Aber
lange hier bleiben durften sie dann nicht mehr. Welche Zeit war es
denn?
Schon sieben? Ja, es war dunkel schon unter den Bäumen. Einen Abschied
aber
wollte sie doch noch nehmen: von der Kleinen, die sie so oft hier
bedient und
mit der sie so manches freundliche Wort getauscht, in der Einsamkeit
ihrer
vielen Stunden, die sie hier verbracht.
Sie
ging in das Haus und bat ihn, zu warten.
Nach
zehn Minuten – zehn Minuten,
in denen er wie betäubt von seinem neuen Glück dagesessen hatte -
- kam sie zurück.
-
Armes kleines Ding, sie hätte beinahe geweint. Aber ich habe ihr
gesagt, sie
solle es so machen, wie ich.
Da
hielt er sich nicht mehr und nahm sie in seine Arme. Sie ließ es
geschehen,
daß er sie küßte.
Ernst,
Würde, Fassung – Liebreiz, Güte, Harmonie, der Witz der Feinheit – ein
außergewöhnlicher
Verstand, ein unergründbares Herz: wie, alles dies besaß er plötzlich,
ohne es
sich erworben zu haben? - -
Das
letzte Glas stand vor ihnen. Der gelbe Wein schimmerte in der
Dämmerung.
- Auf
unsere Liebe! – Dora!
– rief er.
-
Nein, auf die Freiheit unserer Liebe, die sie so schön macht! sagte sie
langsam, bevor sie trank.
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