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04.2
Geschichten - John Henry Mackay
Die Menschen
der Ehe
Schilderungen
aus der kleinen Stadt
1912
Quellenangabe
Da
war er wieder, der
große, totenstille Platz, jetzt eingehüllt in das Dunkel des Abends, da
war sie
wieder, die alte Kirche, an der er jetzt vorbeischritt und die er als
Knabe so
oft betreten gezwungen war, um tödliche Stunden der Langeweile auf
ihren Bänken
zu verbringen, da waren sie wieder, die alte Brücke von Stein und der
alte
Fluß.
Er
stand lange über das Geländer gebeugt. Ein Gefühl von Versöhnung begann
sich
in sein Inneres zu schleichen.
Er
haßte sie nicht mehr, diese Stadt; er haßte sie nicht mehr, diese
Menschen.
Was
waren sie ihm denn, daß er sie hassen sollte? Nichts.
Mochten
sie leben und sterben, wie sie wollten, ihm war es gleich. Litten sie
selbst nicht am meisten darunter, daß sie so dicht aufeinander saßen,
einer in
dem Genick des anderen, und sich so gegenseitig langsam zu Tode
quälten?
Und
warum sollte er ihnen nicht das harmlose Vergnügen der
Selbstgefälligkeit
gönnen? Mehr als ein Lachen war die Eitelkeit dieser aufgeblähten
Kleinheit
sicher nicht wert.
Sie
hatte hier gelebt und gelitten, drei Jahre lang. Er schämte sich, wenn
er
seinen eigenen Unmut über den einen heutigen Tag verglich mit ihrer
vornehmen,
schwermütigen Ruhe und ihrem milden, starkem Ernst, der diese Menschen
nicht
ändern wollte, sondern sie gehen ließ, aber sie beiseite schob, wenn
sie ihr
lästig wurden.
Arme
Stadt! lächelte er vor sich hin. Und er nahm ihr noch ihr kostbarstes
Gut
. . .
Noch
zwei Stunden. Immer noch zwei Stunden?
Er
überschritt die Brücke und bog in die Hauptstraße ein. Dann betrat er
eine
große öffentliche Wirtschaft und setzte sich still in eine Ecke.
Er
bestellte sich zu essen. Aber als das Fleisch vor ihm stand, erlosch
plötzlich der Hunger vor dem warmen Geruch und er schob es wieder von
sich.
Innerlich
war er dennoch aufs höchste erregt.
Er
sah sich um. In seiner Nähe stand ein großer runder Stammtisch, der
sich
langsam zu besetzen begann. Mehr als ein Gesicht kam Gnach bekannt vor
und
plötzlich fiel es ihm ein: das waren ja – es war kein Zweifel mehr
möglich –
die „Schlitzöhrigen“, die größten Männer der Stadt, weise im Rat und
vorsichtig
in der Tat, die er da vor sich sah. Weshalb sie die „Schlitzöhrigen
genannt
wurden, wußte er nicht mehr und hatte es wohl auch früher nie gewußt,
aber der
Name tauchte wieder in ihm empor mit ganzer Deutlichkeit.
Und
doch hatten sie sich verändert, die Zeiten; denn früher hatten diese
Gewaltigen allabendlich im „Nähkörbchen“ verkehrt, und jetzt – welcher
Unterschied – saßen sie hier im Rachen des „Krokodils“!
Innerlich
lachte er heimlich und herzlich. Die Lustigkeit siegte in ihm. Jetzt
konnte er essen, während er einzelne Worte auffing, die von dort zu ihm
herüberflogen.
Man
sprach über städtische Angelegenheiten. Natürlich. Grach wußte, über
Politik zu sprechen war hier verpönt.
Plötzlich
hörte er eine Stimme, die er kannte. Er sah schärfer hin. Kannte er
dieses Gesicht? – Nein, es war nicht möglich.
Dieser
philiströs aussehende Mann, der in kleinen bedächtigen Zügen sein Bier
trank und in kleinen, bedächtigen Zügen seine Zigarre rauchte, der so
aussah,
als ob er kein größeres Glück kenne, als hier zu sitzen und zuzuhören,
dieser
Mann mit den schweren Bewegungen und der zufriedenen Stimme, der
offenbaren
Hochachtung vor jedem dieser alten Zöpfe, das war nimmermehr sein
alter,
lustiger, zu allen Dummheiten stets aufgelegter Fritz, der mit dem
Gebrüll
seiner Stimme so oft die Gasse erschüttert hatte in der spätesten aller
späten
Stunden! –
Grach
rief die Kellnerin herbei und fragte leise.
- J
–e, sagte sie, - das ist der Herr Stadtverordnete Beuer.
Da
trank er schnell sein Bier aus, zahlte und verließ das Lokal. Er hatte
plötzlich Angst bekommen, jener möge auch ihn wieder erkennen und
anreden. Und
das wäre für sie beide doch zu niederdrückend gewesen.
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