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Literatur


04.2



Geschichten - John Henry Mackay

Die Menschen der Ehe
Schilderungen aus der kleinen Stadt
 1912


Quellenangabe

Aus der kleinen Stadt 3
 

Mit dem Schnellzug, der um elf Uhr Vormittags eintraf, kam der Reisende an. Er wies die Kofferträger von sich, als er ausstieg und trug seine Handtasche selbst die Treppe hinab bis zum Ausgang.
 
Vier oder sechs Portiers nahmen dort die Reisenden in Empfang. Er überflog die Schilder ihrer Mützen und da er den Namen nicht fand, den er suchte, nannte er ihn selbst: „Zur alten Post“.
 
Man grinste, man sah sich fragend an, indem man mit den Augen zwinkerte. Endlich sagte der älteste von ihnen: „Es gibt hier keine ‚alte Post‘ mehr; sie ist seit sechs Jahren eingegangen. Wollen der Herr hier gleich am Bahnhof bleiben, dort unten liegt unser Haus, ganz neu eingerichtet - -„
 
Der Fremde zögerte einen Augenblick, aber als sie nun alle nach seiner Handtasche griffen, überließ er sie achselzuckend dem Sprecher, gab ihm Auftrag, seinen Koffer sofort zu besorgen und ging den Weg hinab, der sich in die Stadt hinunterzog.
 
Es war ein schwüler und staubiger Tag. Er war müde, denn er war die halbe Nacht gereist, und er war bestaubt von der langen Fahrt. Er fühlte Hunger und Durst und die Zunge klebte ihm am Gaumen.
 
Doch nachdem er ein Bad genommen und sich umgezogen hatte, fühlte er sich frisch und gesund wie immer. Er stieg die Treppen hinab und schrieb in das ihm vorgelegte Fremdenbuch: Franz Grach. Während er sich für eine Minute in der Loge des Portiers befand, erkannte er plötzlich das Haus wieder.
 
Er vermied die Table d’hôte. Die langen, weißen Tische mit den Reihen von schmatzenden und schwatzenden Menschen waren ihm zuwider. Man deckte ihm in einem Nebenzimmer.
Einmal ließ er Messer und Gabel sinken, so schreiend-deutlich stand plötzlich eine Szene aus seiner Jugendzeit vor seinen Augen, die sich vor langen Jahren hier in diesem selben Raume abgespielt hatte.
 
Nicht das saubere Frühstückszimmer eines modernen Hotels, das trübe Hinterzimmer eines übel beleumdeten Gasthofs zweiten Ranges war der Raum damals gewesen. Die Möblierung hatte sich geändert, wie der Wirt und die Gäste, und doch wurde ihm Alles wieder lebendig:
 
Sie waren alle noch jung, kaum einer von ihnen hatte das zwanzigste Jahr erreicht. Alle hatten sie dieselben Schulbänke gedrückt, und sich, nun vielfach getrennt, den größten Teil des Jahres hindurch auf auswärtigen Schulen, in den Ferien wieder zusammengefunden zu lustigen Tagen und ausgelassenen Nächten – eine tolle, von Jugendmut und Lebenskraft überschäumende, zu allen tollen Streichen immer aufgelegte Gesellschaft, deren Zahl jahrelang auf sieben, acht Mann beschränkt
blieb . . .
 
An jenem Abend nun waren sie alle nach einer langen Wanderung hier hinein gestürmt, wie sie wahllos in alle Wirtschaften, wo „noch Licht war“, drangen. Eine dicke Kellnerin war aus dem Vorderzimmer mit hereingezogen worden, durch die Tür wurde niemand mehr hereingelassen und eine jener nächtlichen, dem Dunst des Bieres und dem Qualm des Tabaks entstiegenen Szenen entrollte sich, wie sie dem Alter so widerlich, der Jugend so reizvoll erscheinen.
 
Auch der Einzelheiten erinnerte sich der, vor dessen Auge sie wieder stand nach so langen Jahren, noch: wie er selbst in eine vorhanglose Fensternische gepreßt ihr zugesehen hatte, die Beine heraufgezogen und das Glas auf einem Stuhl neben sich, damals schon noch in der Trunkenheit erkennend, was er sah, beobachtend, was ihn umgab, und Sieger so auch noch über die Stunde, die ihn mit sich gerissen hatte; wie der „Dicke“ das Klavier bearbeitete und seine schaurigen Baßtöne in den hellen Jubel und Lärm der anderen mischte; wie die ganze Bande plötzlich im Kreise um das grobe Frauenzimmer und den „Kleinen“ – einen schmächtigen Menschen mit wasserblauen Augen, voll Gelehrsamkeit trotz und voll Schüchternheit wegen seiner Jugend, herumgetanzt war und die Vermählung des ungleichen Paares proklamiert hatte . . .
 
Die Gläser klirrten; die Stimmen schrieen durcheinander; schwere Füße stampften den Boden; an der Decke lagerte sich der Rauch; einer, in einer trüben Erinnerung an Nana, leerte sein Bierglas in das Klavier; ein anderer riß die rotgestreiften Decken von den Tischen und hüllte darin ein, was ihm unter die Hände kam, indes die letzten – mit der zähen Hartnäckigkeit der halben Trunkenheit – nicht abließen, sondern auf der Erfüllung ihrer tollen Idee bestanden – und bereits war die Grenze überschritten, wo das Verzeihliche aufhört, um der Sinnlosigkeit zu weichen, als er mit einem großen Satze aus seiner Fensternische aufgesprungen war, mitten unter die Schreienden und sie überrief:
 
Und er schob die Kellnerin zur Tür hinaus, ungeachtet aller schreienden Proteste, setzte seinen Hut auf, und ihm nach war die ganze Gesellschaft gestolpert, einer anderen Kneipe, einer anderen Torheit zu, die stille Straße mit neuem Singen und Lärmen erfüllend, daß friedliche Bürger aus dem Schlaf ihrer Ruhe fuhren und das träumende Gespons mit der Frage weckten: ob es denn etwa brenne . . .
 
Nein, es waren diesmal nur die hoffnungsvollen Kinder ihrer eigenen Liebe.






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