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04.2
Geschichten - John Henry Mackay
Die Menschen
der Ehe
Schilderungen aus der kleinen Stadt
1912
Quellenangabe
Während
der Neuangekommene
seinen Kaffee trank und die Wolken seiner Zigarre in die Luft blies,
war die
flüchtige Erinnerung schon wieder versunken und andere, dem heutigen
Tage
angehörende Gedanken beschäftigten ihn.
Ein
Brief hatte ihn wieder
in diese Stadt gerufen, welche er seit länger als zehn Jahren nicht
mehr
gesehen. Auf vielen Umwegen hatte er ihn erreicht und nachdem er ihn
gelesen,
war sein erstes Gefühl gewesen, ihn in die Ecke zu werfen.
Er
lachte erst; dann ärgerte
er sich.
Aber
zugleich dachte er an
die mancherlei Freundlichkeit, die er von der Mutter der Frau – sie war
lange
tot -, die ihn geschrieben, empfangen vor langen Jahren und an ihre
größte
Freundlichkeit: daß sie ihn meist unbehelligt gelassen hatte, und der
bemaaß
Zeit und Geld, sah, daß beides reichte und war kurz entschlossen
hierher
gereist.
Es
stand früh allein und
wurde, fast noch ein Kind, von einer entfernten Verwandten aufgenommen,
in
deren Heim er lange Jahre lebte, nicht abhängig von ihrer Gnade, aber
doch oft
angewiesen auf ihre Freundlichkeit. Sie hatte eine einzige Tochter, die
ihr
Abgott war; er beanspruchte nichts von der sentimentalen Zärtlichkeit,
mit
welcher das verzogene, launische Kind einer kurzen und sehr
unglücklichen Ehe
überschüttet wurde.
Fast
von dem Augenblick an,
in dem er diese Stadt verlassen, hatte sich sein Leben so von Grund aus
geändert, waren Kreise und Beziehungen desselben so andere geworden,
daß er
selten veranlaßt worden war, zurückzudenken, um so mehr, als ihm die
Muße
behaglicher, lässiger Einkehr und Umschau fast nie beschieden und kaum
ein Tag
gewesen war, der ihm Zeit gelassen hätte, ihn einzuspinnen zwischen die
weißen
Träume der Vergangenheit und der Zukunft.
Zweimal
nur hatte er den
Namen dieser Stadt auf die Adresse eines Briefes geschrieben: das
erstemal, als
seine Verwandte gestorben war, und er der Tochter freundliche Worte des
Beileids sagte; das zweitemal, als er sie zu ihrer eigenen Verheiratung
kurz
beglückwünschte.
Dann
kam dieser Brief,
unerwartet und unerwünscht.
Er
lag vor ihm und noch
einmal las er ihn, aufmerksam, Wort für Wort.
Von
dem blaßrosa Papier
stieg der starke Duft eines eigentümlichen Parfüms auf. Die Schrift,
die seine
vier Seiten bedeckte, war liegend, sinnlich und weibisch-schwach.
Er
las ihn zum viertenmal
und zum vierten Male suchte er hinter den leblosen Worten nach der
lebendigen
Seele derer, welche sie geschrieben: er fand sie nicht.
Das
war es, was sie ihm
mitteilte.
Erstens:
daß sie sehr
unglücklich sei; zweitens: daß sie so unglücklich sei, daß sie es nicht
mehr
„aushalten“ könne; drittens: daß ihr Mann der Grund ihres Unglücks sei;
viertens: daß sie gehört habe, er, ihr Bruder, der „Freund ihrer
Jugend“, habe
ein Buch geschrieben, in welchem er sich „freisinnig“ über die Ehe
geäußert
habe; fünftens: daß er sie „retten“ möge; sechstens: daß sie sehr
unglücklich
sei; und siebentens: daß sie so unglücklich sei, daß sie es nicht mehr
„aushalten“ könne . . .
Das
Alles war sehr albern.
Er
sagte sich mit Recht,
daß das Unglück so nicht nach Hilfe ruft.
Aber
er sagte sich auch,
und er sagte es sich immer wieder, daß Frauen dieser Art nicht imstande
sind,
einen individuellen Ausdruck für ihre Gefühle – und wären es ihre
wahrsten – zu
finden. Wie sie gelehrt wurden zu sprechen,. so sprachen sie: immer in
denselben Ausdrücken und Redewendungen ihrer spezifischen Kreise, die
Männer so
und die Frauen so, und waren sich daher so ähnlich, wie immer nur es
möglich
ist.
Und
daher waren sie
meistens auch so langweilig.
Wie
sie sprachen, so
schrieben sie auch.
Es
ist, als fürchteten sie
sich davor, ein neues Wort zu gebrauchen, und sorgsam verbergen sie,
kommt
ihnen einmal, nicht ein neuer Gedanke, nein, nur eine eigene Anschauung
über
irgend etwas, die verbrecherische Regung hinter der gewohnten
Gewöhnlichkeit.
Er
wußte, daß das Unglück
ein großer Befreier ist. Und er dachte weiter, und seine Augen sahen
den gegen
die Ketten der Tage ringenden und in diesem Ringen blutenden Menschen
vor sich,
wie er schreien will, aber seine ungewohnten Lippen finden nur die
alten,
kleinen Worte für den neuen, großen Schmerz und das Schreien des
selbständigen
Herzens, es klingt auf dem Mund nur wie das Stammeln der
Unselbständigkeit und
Gleichgültigkeit.
Konnte
es so nicht hier
sein?
Er
strengte seine Augen an,
um hinter die Worte sehen zu können. Was lag da? – Ein zu Boden
gestürztes, mit
Füßen getretenes Weib? – Oder eine faule, unzufriedene Frau der Welt,
die sich
einfach langweilte? –
Fand
er denn nicht ein
Wort, ein einziges ungefüges, in seiner Hilflosigkeit rührendes, in
seiner
Einfachheit erschütterndes Wort? –
Er
fand keines. Und dennoch
folgte er dem Rufen dieser platten und nichtssagenden Sprache.
Es
gibt Menschen, von denen
wir nie glauben können, daß sie unglücklich zu werden imstande sind.
So
ging es ihm mit ihr.
Und
dennoch kam er hierher.
Er
tat es in letzter Linie
seiner selbst wegen, um ganz sicher zu sein vor den Vorwürfen es
eigenen
Herzens.
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