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04.2
Geschichten - John Henry Mackay
Die Menschen
der Ehe
Schilderungen
aus der kleinen Stadt
1912
Quellenangabe
Die
letzte Rauchwolke
seiner Zigarre verflog an der Decke und er sah nach der Uhr.
Es
war nach zwei. Ein
langer Nachmittag lag jetzt vor ihm. Er ging daher auf sein Zimmer,
warf sich
auf das Bett und schlief länger als eine Stunde, bleiern und traumlos.
Verwundert
fuhr er in
die Höhe, als er erwachte. Er mußte sich
darauf besinnen, wo er war, und es war mit einem Gefühl des
Mißbehagens, daß er
die Treppe hinunterstieg. Ihm war, als sollte er nun an die Erfüllung
einer
unangenehmen Pflicht gehen, und er wünschte hinter sich zu haben, was
ihm bevorstand.
Dann
trat er vor die Tür.
Die
Hitze war noch
gestiegen. Um diese Stunde des Nachmittags stockte das Leben.
Eine
lange Straße zog sich
vor ihm hin – die Hauptstraße der Schwesterstadt, die längste und
belebteste in
beiden Städten und der Mittelpunkt des Handels und Wandels beider.
Wie
oft er sie als Knabe
durchschritten hatte, hinauf und wieder hinunter, und wieder hinauf!
Wenig
schien sich an dem
äußeren Ansehen der Stadt verändert zu haben. Einige Lücken, wo früher
auf
steinigem Rasen Zirkus- und Karrusselbesitzer ihre flüchtige Leinwand
gespannt,
waren ausgebaut worden und nur die Nebenstraßen noch öffneten sich dem
Blicke
nach dem Flusse hin. Die neu entstandenen Häuser zeigten das Bestreben
Schritt
zu halten mit modernem Stil. Gesimse und Balkone hingen überall an
ihnen herum
und in ihren Erdgeschossen waren Läden und Bierhallen entstanden mit
hohen
Fensterscheiben und lauten Aushängeschildern, welche mit dem
leuchtenden Gold
ihrer Lettern die armen, verblaßten und altertümlichen Inschriften der
alten
Firmen verdrängten . . .
Der
Schwindel des Handels,
welcher die Arbeit mordet, trieb sein Unwesen diese ganze Straße
entlang.
Arme
Arbeiter! Des Sonntags
kamen sie, weither aus den Dörfern und Flecken, mit ihren schweren
Schuhen, die
Männer mit plumpen Socken und die Weiber mit ungeheuren, unförmigen
Parapluies,
halb noch bedeckt mit dem Schweiße und dem Staub der Woche, ganz noch
erdrückt
unter der Wucht ihrer Sklaverei, kamen sie um einzukaufen, was sie
brauchten,
das heißt drei-, vier-, fünf- und zehnfach verteuert einzutauschen, was
sie
selbst erschaffen hatten in anderer Form: die Arbeit. Verlegen,
unsicher,
bittend und schüchtern traten sie in die „Geschäfte“ und ließen sich
von
schwatzenden Juden, und Christen, die schlimmer waren als die Juden,
das Fell
über die Ohren ziehen, daß es nur so flutschte.
In
erschreckender Menge
hatten sich die offenen Geschäfte in diesen paar Jahren vermehrt.
Gleich aber
war der trostlose, nüchterne Eindruck dieser Straße geblieben, und vom
Morgen
bis zur Dämmerung glich sie noch immer in ihrem reizlosen, staubigen
Grau einem
alternden, ungekämmten und ungewaschenem Weibe.
Grach
ließ seine Blicke
überall hin gehen. Eigentümlich verändert erschien ihm
alles
-: fremd und doch bekannt. Aber alles war kleiner geworden,
zusammengeschrumpft, und, wie alte Leute, in sich zusammengesunken.
Größer
sieht das Kind die
Welt, kleiner sieht sie der Mann.
Vor
den Läden lungerten die
Kommis, an den Brunnen standen die Mägde und schrien sich an. Warum
schrien sie
so laut? Stritten sie sich? Nein, es war nur eine „gemütliche
Unterhaltung“.
Aber dieser Dialekt war breit, geeignet nur zu einem lauten Sprechen,
und
schwer verständlich für den Fremden. Grach bemühte sich Worte und Sätze
der
Vorübergehenden aufzufangen und verstand meist was sie sagten. Hatte er
selbst
früher so gesprochen?
Und
wie die Menschen sich
grüßten! Mit beängstigender Sorgfalt überspähten sie die Straße,
knickten den
Arm nach auswärts in einen spitzen Winkel und zogen oder rissen dann
den Hut
herab, entweder steil in die Luft hinaus oder hinunter bis fast auf den
Boden.
„Ihr Diener“, sagten sie dabei, „Ihr Diener“ – und ein langer Titel
folgte.
Die
unverhüllte Neugier,
mit der die Menschen ihn an- und ihm nachsahen begann ihn zu ärgern.
Ihre
Blicke wurden ihm lästig und er bildete sich ein von ihnen erkannt
werden zu
müssen. Er vergaß, daß kein Fremder diesen Blicken entging.
Er
ging schneller. Diese
Nebenstraße mußte über die Brücke nach dem jenseitigen Ufer führen. Er
schlug
sie ein.
Eine
junge Dame kam ihm
entgegen. Sittsam die Blicke zu Boden gesenkt, den Schirm in der Länge
einer
kleinen Ulanenlanze gegen die Brust gedrückt, eingeschnürt und
aufgeputzt mit
Bändern und Bauschen, trippelt sie daher und gegen seinen Willen mußte
er
lachen, erst heimlich, dann herzlich und offen.
So
war, genau so war schon
damals alles gewesen: diese ängstliche Unsicherheit im Verkehr, diese
feige
Rücksichtnahme auf tausend und abertausend in Watte sorgsam gehegter
Vorurteile, diese engbrüstige Steifheit, diese pappedeckelne Würde –
wie kannte
er das alles, wie erkannte er das alles wieder!
Und
über all dies lachte
er, hatte er gelernt zu lachen.
Und
abermals lachte er, als
er über die Brücke ging, die alte Brücke, und sah, daß alle Scheiben in
den
Gaslaternen heil und unverletzt waren.
Wie,
wurden sie nicht mehr
geschlagen, die Schlachten der Ehre? – War Waffenstillstand zwischen
den
erschöpften Schwestern geschlossen? – Oder aber – wart – Versöhnung –
Friede -
- aber nein, es war ja Wahnsinn, daran zu denken! . . .
Eine
komische Stadt! Eine
komische, kleine Stadt! – murmelte Grach vor sich hin
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