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Literatur


04.2



Geschichten - John Henry Mackay

Die Menschen der Ehe
Schilderungen aus der kleinen Stadt
 1912


 Quellenangabe

Aus der kleinen Stadt 7
 

Auf hohen Terrassen erhob sich vor ihm das „Schloß“, ein massives, altes Gebäude mit vielen Anbauten aus neuerer Zeit. Uralter Efeu hing an den Mauern nieder, von einem Garten in den anderen, bis er die Dächer der an ihrem Fuße fast berührte.
Das Schloß hatte keine Bestimmung mehr. Seine einzelnen Stockwerke mit ihren vielen Flügeln und unzähligen Zimmern waren an einige Familien vermietet, an die reichsten der „Alldahiesigen“ und „Hiesigen“, die, welche keine eigenen Häuser besaßen.
 
Der Fremde, welcher hier nicht fremd war, stieg langsam den steilen Weg hinauf, der an der alten düsteren Kirche – sie stand in seltsamen unterirdischen Gängen, die längst verschüttet waren, mit dem Schlosse in Verbindung – zu dem weiten, totenstillen Platze hinauf, der die Flügel des Schlosses gleichsam bis an die Ränder der Anhöhe auseinandergedehnt hatte. Gras, welches eine glühende Sonne gelb sengte, wucherte hier zwischen den plumpen, unregelmäßigen Pflastersteinen; nie spielte hier die Jugend der Stadt, auf diesem weiten Platze, der wie geschaffen war zum Umhertummeln. Zuweilen nur bewegte sich eine der weißen Gardinen hinter den hohen Fenstern und ein behaubter Kopf lugte zwischen ihnen durch, um bald wieder zu verschwinden, denn die leere Öde dieses weiten Raumes wurde selten unterbrochen durch eine Gestalt, die ihren Weg über ihn hinweg nahm, um die andere Seite zu erreichen. Die meisten gingen an den langen Fluchten entlang, um plötzlich in einer der Türen zu verschwinden. Öfter während des Tages, in den Nachmittagsstunden, geschah es, daß Wagen – moderne, elegante Geschirre mit vortrefflichen Pferden – an den Toren hielten.
 
Und wieder mußte Grach lächeln, als er diesen weiten toten Platz überschritt, auf dem die Sonne ungestört die Spiele ihrer Schatten trieb, den er als Kind nie betreten hatte und von dem er nie geglaubt hätte, daß er ihn je betreten würde.
Aber hier mußte sie – die Adresse in ihrem Briefe nach – jetzt wohnen.
 
Er ging langsam. Und doch war er neugierig geworden auf das Wiedersehen. So lange war es her, daß er keine Blicke mehr in das Heimwesen deutschen Bürgertums getan hatte. Er ein Fremder – und alles ihm fremd geworden, was von dorther kam . . .







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