Geschichten - John Henry Mackay
Zwischen den Zielen
1911
Der Kleine Finger
Eine unheimliche Geschichte
Ich bemerkte, daß die
Treppe fremdartig knarrte, So fremdartig, daß es mir auffiel, aber
dennoch
merkte ich nicht, daß ich Mittwoch abend in der zweiten Septemberwoche
des
Jahres 187 . aus Versehen eine Treppe höher gestiegen war, als mein
neugemietetes Zimmer lag. Auch als ich die Korridortür aufschließen
wollte und
fand, daß der Schlüssel von innen stak und die Tür unverschlossen war –
ein Umstand,
der mich hätte zum Nachdenken bringen können -, ließ ich mich nicht
abhalten,
einzutreten und mich in der wohlbekannten Richtung nach meinem Zimmer
hin auf
den Fußspitzen, um meine schlafende Wirtin nicht zu stören, zu tasten.
Ich finde die Tür, klinke
auf; trete ein – das Zimmer ist stockdunkel -, schließe die Tür von
innen nach
meiner Gewohnheit und gehe sicher auf meinen Tisch zu, wo ich wußte,
daß
Streichhölzer lagen.
Bis dahin kam ich, ohne daß
mir etwas Besonderes aufgefallen war. Als ich aber auf dem Tisch, der
wie seltsam
weit nach der Mitte des Zimmers zu vorgerückt schien, nach
Streichhölzern
herumfühlte, erfasse ich etwas Kaltes, Schwammiges, das auf einer
weichen
Unterlage zu liegen scheint. Noch heute, wenn ich die Augen schließe
und die
Hand vorstrecke, glaube ich dieses eigentümliche Gefühl, welches damals
in der
Mittwochmitternachtstunde meine Fingerspitzen durchrieselte, wieder zu
spüren.
Ich zog die Hand zurück;
ich klemmte meinen nassen Schirm in die linke Achselhöhle und wühlte
mit beiden
Händen in meinen Überzieher- und Westentaschen nach Streichhölzern.
Meine an
einem Ring befestigten Hausschlüssel gaben das Geräusch eines
rasselnden
Klirrens von sich. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie es mir wie
das
beruhigende Zeichen eines „andern Lebens“ in diese Stille hineinklang.
Endlich finde ich in der
linken Westentasche einige Schwefelhölzchen. Ich mache eine Bewegung
nach der
Wand – in der Richtung meines Fensters – und streiche mit raschem
Strich,
nachdem ich mit den Fingern den Kopf der Hölzchen gesucht habe, an ihr
nieder.
Während sich langsam der Schein des Lichtes durch das Zimmer gießt,
fühle ich
mehr, als ich sehe, mit einer geradezu überwältigenden Deutlichkeit,
welche
mich kalt überrieselt, daß ich in einem völlig fremden Zimmer bin, das
nur in Größe
und Lage Ähnlichkeit mit meinem darunterliegenden hat.
In der Zeit einer einzigen
Sekunde nehme ich wahr: daß das Bett in der entgegengesetzten Stellung
des
meinen steht – das war, glaube ich, das erste, was ich sah -; daß der
Tisch
auffallende Ähnlichkeit mit dem meinen hat; daß die Decke des Zimmers
niedriger
hängt, wie die des meinigen; und daß hinter dem Tisch, lang ausgetreckt
auf dem
Sofa, ein schlafender Mensch liegt.
Völlig unbewußt bin ich
mechanisch einige Schritte von dem Tische zurückgetreten, auf dem jetzt
die
Flamme des Lichtes nach dem ersten Aufschlagen kleiner wird und das
Wachs
schmilzt, um sich neue Nahrung zu suchen; und während ihr Schein immer
mehr
zusammensinkt, fühle ich, wie mein Schrecken und meine Angst immer
größer werden.
Ich gäbe viel darum, wenn ich noch wüßte, was ich dann gesagt habe. Ich
fing
nämlich in meiner Angst an zu sprechen. Ich glaube, ich versuchte es,
mich zu
entschuldigen. Ich weiß nicht mehr, was meine Lippen stammelten, es war
jedenfalls in leisestem Tone, aber das weiß ich, daß ich plötzlich
aufschrie
und daß mein Schirm aus meiner Achselhöhle mit einem klatschenden
Geräusch zu
Boden fiel. Ich hatte gesehen, wie sich die Augen des auf dem Sofa –
das hinter
dem Tische stand – Liegenden halb geöffnet hatten und sich halb von
unten
herauf mit einem entsetzlichen Ausdruck auf mich richteten.
Ich fange wieder an zu
sprechen. Ich will hinaus, ich will fort, aber ich vermag es nicht. Ich
sehe
nur immer auf den daliegenden Menschen. Und plötzlich kommt mich der
Gedanke
an: der Mann ist tot!
Das Licht flammt langsam
wieder auf und leuchtet nun stetig und hell durch das ganze hintere
Zimmer. Ich
zittere wie Espenlaub. Ich weiß gar nicht, was ich anfangen soll.
Endlich, ganz
langsam, mit dem letzten Aufgebot schwindenden Willens trete ich
zitternd etwas
näher an den Tisch und sehe den Daliegenden an. Er regt sich nicht.
Seine
Stellung ist seltsam: lang ausgestreckt stemmt er den linken Fuß gegen
die eine
Seitenlehne des Sofas, während der andere herabhängt und durch den
Tisch
verdeckt ist. Der Kopf liegt hintenübergebeugt gegen die andere
Seitenlehne,
schlaff hängt der rechte Arm, von dem ebenfalls fast nichts sichtbar
ist,
nieder.
Ebensowenig bemerke ich von
der linken Hand, welche hinter den Rücken gehalten ist. Die ganze,
starke,
hünenhafte Gestalt liegt wie eingerammt zwischen den Lehnen des Sofas.
Sie ist
mit einem langen, schwarzen Tuchrock bekleidet. Vom Kragen ist nichts
sichtbar.
Das glattrasierte Kinn hängt schwer über denselben herab. Das Gesicht
ist groß,
rohgeschnitten, fleischig und stark, das bartlose Gesicht eines
dreißigjährigen
Mannes. Die Stirn ist niedrig, das schwarze Haar kurz geschnitten, fast
borstig
und dicht. Wie die Augen, so ist der Mund halb geöffnet, wie von
Schmerz
verzogen, und läßt die Oberreihe schneeweißer, tadelloser Zähne sehen.
Die Augen sind entsetzlich!
Halb offen, starren sie mich mit einem leeren blöden, verglasten
Ausdruck an,
daß ich nicht mehr daran zweifeln kann: es sind die gebrochenen Augen
eines
Toten!
Und in diesem Augenblick,
während ich mich vorbeuge über den Tisch, fühlt meine Hand wieder jenes
Kalte,
fast Feuchte, Weiche, und ich sehe etwas sehr Seltsames: vor mir auf
dem Tisch
liegt auf einem Bogen weißen Papiers ein dunkelbrauner, weicher
Frauenhandschuh, ganz ausgebreitet, so daß sich jeder Finger scharf von
der
weißen Unterlage abhebt. Der kleine Finger fehlt an diesem Handschuh,
und ist –
und das ist das Unbegreifliche – ausgefüllt mit dem wirklichen Finger
einer
menschlichen Hand. Und dann – da, wo ihn das Leder umschließt, spannt
sich über
Leder und Finger ein schmaler Goldreif, gleichsam so, als hielt er den
losen
Finger in dem Handschuh fest
Der Anblick dieser
ungeheuerlichen Seltsamkeit brachte mich vollends außer Fassung. Es war
mir,
als müsse jeden Augenblick etwas ganz Unerhörtes, etwas Niedagewesenes
sich
ereignen: der Tote vielleicht aufspringen und mir den Handschuh ins
Gesicht
schleudern, oder irgend etwas Derartiges.
Gepackt von einem
schüttelnden Entsetzen, gehe ich Schritt für Schritt rückwärts zur Tür,
klinke
und schließe sie auf, mache sie draußen wieder zu, taste mich über den
stockdunklen Flur, fühle den Griff der Glastür in der Hand, drehe den
Schlüssel
herum, bin draußen im Treppenhaus und gelange in mein Zimmer auf dem
gewohnten
Weg. Ich zünde meine Lampe an, atme. Dann stürze ich zur Tür zurück und
schließe ab.
Wie heimlich und still mir
mein Zimmer erscheint! Auf dem Tisch liegen meine Bücher.
Neuangekommene Briefe
dazwischen. Habe ich denn eigentlich geträumt?
Ich zittere. Ich möchte etwas
tun und weiß nicht was. Dann läßt meine Aufregung nach. Ich setze mich
nieder,
um nicht umzufallen.
Dann – nach wie langen
Minuten wohl? – nehme ich Mantel und Hut ab. Ich trockne mir die Stirn,
welche
kalt und mit Schweiß beperlt ist. Ich weiß noch, wie ich alles an Ort
und
Stelle hänge: Mantel und Hut. Die Gewohnheit. Dann muß ich mich
abermals
niedersetzen.
Und dann gab ich mir eine
geradezu wahnsinnige Mühe, über das eben Erlebte nachzudenken.
Ich vermag es nicht. Ich
schaudere noch immer so zusammen, daß ich meine Zähne
aufeinanderschlagen höre.
Stoßweise. Ich versuche meine Briefe zu lesen. Das Papier geht in
meinen Händen
in Stücke. Plötzlich durchrinnt mich von Kopf bis zu Fuß: mein Schirm!
Mein Schirm, der oben
liegen geblieben ist! Und gleichzeitig: das Licht brennt dort noch!
Dort – dort
oben!
Ich glaube wirklich,
verrückt werden zu müssen vor Angst. Auf dem Schirmgriff steht mein
Name.
Morgen früh wird er dort gefunden werden.
Was tun? Was anfangen?
Wieder hinauf!
Aber woher dazu den Mut nehmen?
Den Heldenmut, noch einmal dort oben dem Toten, diesen Augen,
gegenüberzustehen?!
Nein, es ist unmöglich!
Lieber auf der Stelle sterben! Ich glaube, so ist den zum Tode
Verurteilten
zumute in der Stunde vor der Hinrichtung.
Mit überwältigender Deutlichkeit
sehe ich alles, was kommt, voraus. Immer deutlicher tritt die
Notwendigkeit an
mich heran, hinaufzugehen, meinen Schirm zu holen und das Licht zu
löschen.
Es mus sein! Es muß auf alle Fälle sein!
Ich sehe nach meiner Uhr.
Aber ich muß minutenlang auf das Zifferblatt sehen, um etwas zu
erkennen.
Endlich: es ist halb eins. Vor einer halben Stunde noch saß ich im
„Pfauen“ mit
den Freunden. Wenn ich noch einmal dort hingehe und mir irgend jemand
hole, um
mir zu helfen? Aber es hat keinen Zweck; der „Pfau“ schloß sich um
zwölf hinter
uns, seinen letzten Gästen.
Ich muß es allein tun! Ich
muß! Ich muß! Ich muß!
Plötzlich kann ich wieder
denken. Der Notwendigkeit gegenüber befällt mich eine eiserne
Entschlossenheit.
Mit einem Ruck springe ich auf. Ich entledige mich meiner schweren
Stiefel.
Um durch nichts in meiner
freien Bewegung gehindert zu sein, werfe ich auch den Rock von mir.
Dann richte
ich alle meine Gedanken auf das Eine. Ich löse den Schlüssel der
Glastür meiner
Etage von seinem Ring, damit das Klappern mich nicht etwa verrät, oder
mich –
diesmal! – wieder stört.
Dann schließe ich meine Tür
auf, und mit dem vollen Bewußtsein der Gefährlichkeit dessen, was ich
zu tun
beabsichtige, schleiche ich mich auf den Socken die Treppe hinauf. Die
Türen
hinter mir lasse ich offen. Ich stehe wieder vor der fremden Etagentür.
Ich
zittere, aber nur etwas. Ist sie unterdessen verschlossen? Nein. Ich
klinke mit
größter Behutsamkeit auf. Es ist alles stockdunkel. Wieder beginne ich
zu
tasten. Schritt für Schritt in atemloser Spannung.
Ich stehe vor einer Tür?
Ist es auch die rechte?
Es ist einer der
furchtbarsten Augenblicke meines Lebens, in welchem ich – alle Sinne
auf das
Höchste angespannt – den Griff der Tür niederdrücke. Er gibt lautlos
nach. Ich
trete ein. Jetzt weiß ich, wo das Bett steht: dort – in der
entgegengesetzten
Ecke des meinigen. Die Tür bleibt hinter mir offen. Aber da werde ich
mir
plötzlich der enormen Unvorsichtigkeit bewußt, welche ich begangen:
vorhin
hätte ich mir bei einer Entdeckung mit der Entschuldigung helfen
können, aus
„Versehen“ in ein fremdes Zimmer geraten zu sein. Jetzt aber: in
Hemdsärmeln
und auf Socken - -? Zu dieser Stunde -? !
Jedoch es ist keine Zeit
mehr zum Überlegen. Vorwärts! Schritt für Schritt. Ich trete auf etwas
– es muß
mein Schirm sein. Ich bücke mich, und während ich mit der linken Hand
niedergreife, erfaßt meine rechte, vortastend zum drittenmal den
Handschuh.
Ich weiß nicht, woher mir
der Gedanke kam, ihn zu packen und nicht mehr loszulassen. Mit dem
nassen
Schirm in der linken und mit dem Handschuh in der rechten Hand gehe ich
rückwärts. Ich sehe und unterscheide im ganzen Zimmer nicht das
geringste.
Als ich wieder an der
offenen Tür bin, überwältigt mich ein ganz neues, anderes Gefühl: das
der
kühnen, ruhigen Sicherheit. Keine Spur mehr von Angst und Grauen. Ich
fühle
instinktiv, daß ich gerettet bin. Und anstatt mich nun auf mein Zimmer
zu
schleichen und alle Anzeichen des Geschehenen zu vertuschen, tue ich
etwas ganz
anderes
Ich habe oft darüber nachgedacht,
wie dieses Gefühl zu erklären ist. Es ist sehr einfach. Wer hat nicht
schon von
Einbruchsdiebstählen gehört, bei denen die Diebe eine ganz
staunenswerte
Frechheit an den Tag gelegt haben? Bei denen sie sich in den Zimmern
des
Bestohlenen stundenlang aufgehalten, alles Eß- und Trinkbare an Ort und
Stelle
in vollster Lustigkeit verzehrt und genossen, und dann mit dem
gestohlenen Raub
sich fortgemacht haben? Sicher hatten sie diese Absicht nicht vorher.
Aber ihr
gelungener Raub machte sie sicher. In dieser Sicherheit wagen sie das
Unerhörteste, das Äußerste.
Und mit dieser selben
unerhörten Sicherheit gehe ich noch einmal in das Zimmer zurück, lege
Handschuh
und Schirm langsam und behutsam auf das Bett, trete an den Tisch, und
nehme mit
einer Armstreckung über den ganzen Tisch das Glas fort, das vor dem
Toten
steht. Ihn selbst sehe ich gar nicht an. Ich trete an den Waschtisch,
greife
zur Wasserflasche und lasse ihren Inhalt das Glas füllen und den Rand
überrieseln in das Waschbecken, dann gieße ich den ganzen Inhalt des
Glases
fast lautlos aus. Der geringe Rest gelblich-brauner Substanz – was für
ein Gift
ist es? – löst sich (- das Licht wirft vom Tisch her seinen Schein
gerade auf
meine Hände -) vor meinen Augen in der trüben, seifigen Wassermasse des
Beckens
unsichtbar auf. Ich halte das Glas gegen das Licht. Es ist völlig rein.
Ich
drehe es um, stelle es neben die halbgeleerte Flasche auf den
Waschtisch hin.
Bis morgen wird es trocken sein und für gänzlich ungebraucht gehalten
werden.
Dann kehre ich zum Tisch
zurück. Es liegen auf ihm nur das weiße Blatt, welches den Handschuh
getragen,
und einige Bücher. Kein beschriebenes Papier. Nichts dergleichen.
Jetzt sehe ich auch noch
einmal den Toten an. Aber gleichgültig, überdenkend, ja neugierig. Die
Augen
scheinen sich noch mehr geöffnet zu haben. Sie haben das Entsetzliche
und
Drohende für mich verloren. Ich nehme das Licht und hebe es höher, so
daß sein
Schein voll auf den Toten fällt.
Ich haßte ihn, obwohl er
tot war! .
Dann stelle ich das Licht genau
auf den Fleck, wo es gestanden hat, werfe einen Blick auf das Bett und
die Tür,
um die Richtung zu messen, blase dann die Flamme aus, und während das
Zimmer
wieder in schweigendem Dunkel liegt, gehe ich mit leisen Schritten auf
das Bett
zu, ergreife Schirm und Handschuh, dann zur Tür, leise sie schließend,
über den
Flur, und genau wie vorher: nur mit größerer Sicherheit und Vorsicht
gelange
ich wieder in mein Zimmer.
Wieder ist das erste, was
ich tue, die Tür abzuschließen! Wieder das Aufatmen und wieder der
Anfall von
Schwäche, daß ich mich niedersetzen muß. Dann erst komme ich zu einem
halben
Bewußtsein dessen, was ich getan habe. –
Es war kalt in meinem
Zimmer. Ich zündete eine Lampe an und suche nach einem Blatt Papier.
Auf dem
Blatt dann breite ich sorgfältig und genau, wie es gewesen war, den
Handschuh
aus.
Plötzlich bemerkte ich
etwas anderes. Der Finger war im Verhältnis zu den übrigen vier Fingern
zu
kurz. Oder vielmehr: er schien es zu sein. Jetzt mußte ich Gewißheit
haben. Ich
zog mit Anstrengung den Finger aus dem Handschuh. Der Ring fiel auf den
Tisch.
Ich griff zuerst nach ihm: es war ein völlig einfacher Goldreif, ohne
Namen,
ohne Datum, ohne Initialien, weder auf der Außen- noch Innenseite.
Mein Erstaunen wuchs immer
mehr. Es wurde zur Begierde. Ich nahm den nun leeren Handschuh und
betrachtete
den Schnitt. Und mit einem ganz eigentümlichen Grauen sah ich: der
Finger mußte
von der mit dem Handschuh bekleideten Hand einer lebenden Person, und
zwar
dicht oberhalb des Ringes, der an diesem kleinen Finger saß,
abgeschnitten
sein! Erst nachdem der Schnitt – wie gesagt, ein meisterhafter Schnitt
–
vollzogen war, mußte der Handschuh von der Hand abgezogen sein und von
dem
Stummel des kleinen Fingers den Ring mit abgestreift haben. Auf diesen
Gedanken
kam ich, weil es offenbar war, daß der Schnitt an der mit dem Handschuh
bekleideten Hand vollzogen war: zu genau paßten der Rand des Fingers
und der
Rand der Öffnung am kleinen Handschuhfinger aufeinander. Wäre der
Finder des
Handschuhs von dem leeren Handschuh abgeschnitten, sicher wäre nicht
dieselbe
minutiös genaue Stelle getroffen worden.
War diese Vermutung – die
mir erst selbst absurd erschien – nicht richtig, dann gab es nur eine
zweite
Möglichkeit: der Finger war von der Hand einer erst heute gewaltsam
gemordeten
Person abgetrennt. Denn ich habe noch keinen gesehen, der Handschuhe
anzieht,
wenn es zum Sterben geht. Aber ich blieb bei meiner ersten Annahme –
alles
drängte mich zu ihr hin – und kombinierte weiter: erstens der Schnitt
muß gegen
oder mit dem gewaltsam erzwungenen Willen einer lebenden Person
ausgeführt
sein: bei einer freiwilligen Operation an der Hand zieht man gewöhnlich
seine
Handschuhe aus; zweitens der Schnitt muß mit überwältigender
Schnelligkeit vor
sich gegangen sein, sonst wäre der Handschuh vorher, abgestreift
worden;
drittens durch einen leichten Zirkelschnitt oberhalb des Ringes muß
zuerst der
Lederfinder vom Handschuh getrennt worden sein. Warum? Weil er sonst
noch an
dem Finger säße oder doch – die Wahrscheinlichkeit sprach hier gegen
die
Zufälligkeit – auf dem Tisch des Selbstmörders sich hätte finden
müssen;
viertens ergibt sich hieraus die Weiterfolgerung, daß es sich um den
Besitz des
Ringes gehandelt haben muß, und nicht um den des Fingers. Und ganz
offenbar war
dieser mitgenommen, da man ohne den letztern sich in der Eile nicht des
ersteren bemächtigen konnte.
Genau verglich ich noch
einmal Finger und Ring: fest, untrennbar fest mußte jener in diesen im
Lauf
langer Jahre hineingewachsen sein. So eng war der Ring, daß er für den
Finger
eines Kindes bestimmt gewesen sein mußte. Für diese Vermutung sprach
ferner die
Tatsache, daß der Ring von dem kleinen Finger der rechten Hand getragen
worden
war.
Als ich bis dahin Vermutung
auf Vermutung, Folgerung auf Folgerung getürmt hatte, fiel mir ein, daß
keine
einzige unter ihnen mit voller Bestimmtheit auf meine hartnäckig
festgehaltene
Voraussetzung: der einer lebenden Person, hinwies. Alle diese
Kombinationen
trafen ebenso bei einer toten – allerdings erst kürzlich verschiedenen
Person
zu. Dennoch mochte ich meinen ersten Gedanken nicht preisgeben. Ich
wandte
Handschuh, Ring und Finger hin und her und grübelte weiter.
Dann hatte ich plötzlich,
was ich suchte: fünftens wäre der Finger von der Hand einer Toten
abgenommen
und wäre es dem Verstümmler nur auf den Ring angekommen, so hätte er
den Finger
rücksichtslos und ohne Anwendung dieser trotz der Schnelligkeit
auffallenden
Sorgsamkeit jedenfalls unterhalb des Ringes abgetrennt, um so in seinen
Besitz
zu gelangen. Daß er dies nicht tat und das Messer genau oberhalb des
Ringes
ansetzte, daß er die Muskeln des Handknöchels – der Ring mußte dicht an
diesem
gesessen haben – schonen wollte, und daß es ihm nur darauf ankam, den
Ring, der
nicht von der Hand lassen wollte, zu bekommen, das
zeigte . . . – Aber halt, was sagte mir,
daß dem so war?
Konnte der Wunsch oder der
Befehl nach den Ring nicht nur ein Vorwand gewesen sein, diese
vielleicht
geliebte Hand zu verstümmeln? Und mit der Hand den Körper? Und ein
ganzes
Leben?
Bis
hierher hatte ich
ziemlich klar und stetig gedacht, wie in einer Art von Fieberanfall.
Oder in
einem Anfall von Wahnsinn?! Es mußte schon sehr spät sein. Es war noch
kälter
im Zimmer als vorher. Ich schauerte zusammen. Und plötzlich fange ich
an, in
die Stille, welche um mich her war, hinein zu lachen und sage ganz
deutlich:
- Du bist verrückt. – Ich
werfe alles von mir: Ring, Handschuh und Finger.
Eine so überwältigende
Müdigkeit erfaßte mich, daß ich mich zurücklegte und einschlief.
Frostzitternd erwachte ich
am nächsten Morgen. Es war hell im Zimmer geworden, die trübe
Helligkeit eines
regnerischen Septembermorgens. Ich fühlte wohl, daß irgend etwas
vorgegangen
war mit mir am vorhergegangenen Abend. Aber mein Kopf war wüst und
schwer. Ich
entkleidete mich und ging zu Bett, um sofort wieder einzuschlafen.
Gegen zehn Uhr aber
erwachte ich wieder. Ich hatte im Traum einen Schrei gehört. Im Haus
herrschte
Bewegung. Über meinem Kopf das eilige Umhergehen vieler Füße. Langsam
fiel mir
wieder alles ein, die Angst kam wieder. Was sollte nun werden? Doch ich
stand
auf und zog mich an. Meinem Tisch kam ich dabei nicht nahe. Dann
entschloß ich
mich, meine Wirtin zu rufen. Als sie schon in der Tür – mit dem
Frühstücksbrett
in der Hand – war, raffte ich mich zusammen und verschloß in meinem
Schreibtisch, was sie nicht (und keiner) sehen sollte.
Ich dreht ihr gleichgültig
den Rücken zu, damit sie meine Erregung nicht bemerken sollte. Aber sie
fing
sofort mit der hausbewegenden Neuigkeit an: der Herr, der über mir
wohne und
erst gestern eingezogen sei, sei soeben tot aufgefunden worden. Die
Polizei sei
schon oben. Sie sagten, es müsse ein Schlaganfall gewesen sein. Ob ich
gestern
abend denn nichts gehört habe?
Nein, ich sei erst spät
nach Haus gekommen.
Sie ging hinaus und ich versuchte
meinen Kaffee zu trinken. Mir war zu Mute, als müßten sie jetzt gleich
kommen und
mich wegen Mordes festnehmen.
Nach fünf Minuten war das
Weib schon wieder da. Die Leiche sei schon fortgetragen. Man habe
nichts
gefunden, als einen kleinen Koffer. Noch wisse keiner, wer er sei, der
Tote.
Woher ich den Mut nahm, in
diesem Augenblick zu sagen: „Vielleicht hat er einen Selbstmord
begangen?“ das
weiß ich heute nicht mehr.
Womit denn? Da müsse doch
irgendwo ein Revolver oder die Überreste von Gift gefunden sein. Der
Herr
Polizeikommissar habe gesagt, es sei ein Schlaganfall gewesen.
Nun, wenn der Herr
Polizeikommissarius es gesagt hat, dann wird es wohl so sein.
Ich war sehr unruhig. Die
folgenden Tage habe ich nach Anbruch der Dunkelheit keinen Schritt mehr
vor das
Haus zur großen Entrüstung und Verwunderung meiner Freunde im „Pfauen“
getan,
welche allabendlich vergeblich auf den treuesten Gast ihrer Tafelrunde
warteten. Man hielt mich für krank, und ich glaube, ich war es auch.
Dagegen saß ich jeden Abend
bis spät in die Nacht hinein und horchte hinauf, als müsse sich dort
immer noch
etwas ereignen. Zwei Tage blieb alles still. Am dritten zog ein neuer
Chambregarnist ein, und die Leute im Hause begannen bereits das
aufregende
Ereignis zu vergessen.
Am vierten Tage nach jener
Nacht las ich in der Zeitung die folgende Notiz: „Heute wurden auf dem
Friedhof
unserer Stadt die Überreste eines völlig unbekannten Mannes zur Ruhe
bestattet,
welcher vergangenen Donnerstag morgen in seinem Zimmer der . . .
straße tot aufgefunden wurde. In der
Hinterlassenschaft des Toten wurde nicht das geringste gefunden, was
über Namen
und Herkunft desselben hätte Auffschluß geben können. Die vorgenommene
Untersuchung hat als Todesursache Herzschlag ergeben und gleichzeitig
den Verdacht
eines Selbstmordes als völlig unbegründet erwiesen. Es wiesen keine
Spuren auf
einen solchen hin, und so wurde von einer Sektion der Leiche Abstand
genommen.“
In derselben Nummer stand eine Aufforderung der Polizeibehörde zur
Meldung an
jeden, der über die Person und die Verhältnisse des Fremden Auskunft
geben
könne usw. Andernsfalls müsse über die wenigen hinterlassenen
Kleidungsstücke
und Bücher desselben innerhalb der und der Zeit verfügt werden.
Ich las diese Notizen mit
lächelnder Gleichgültigkeit, so fest war ich davon überzeugt, daß nur
ich und
noch eine einzige zweite Person in dieser ganzen Stadt imstande gewesen
wäre, zur
Aufklärung dieses Ereignisses beizutragen. Und wir beide würden
schweigen, das
stand fest.
Ich kündigte mein Zimmer, und acht Tage darauf wohnte ich in einem
anderen Teil
der Stadt. Acht Wochen später schon hatte ich dieselbe überhaupt und
für immer
verlassen.
Aber an manchem Abend nach
jenem habe ich Handschuh, Ring und Finger vor mich auf den Tisch gelegt
und
stundenlang mit ruheloser Phantasie das Rätsel dieses Trio zu lösen
gesucht.
Und wenn ich den Finger betrachtete – diesen feinen, schmalen, fast
dünnen
Finger mit dem mandelförmig geschnittenen rosigen Nagel, der zarten,
durchsichtigen Haut, dann zaubert mir die erregte Phantasie die Hand
vor Augen,
die schmale, schöne, vielleicht oft geküßte Frauenhand, zu der er
gehört hatte,
und den Arm und die Rundung der Schultern, und die Biegung des Halses,
und ein
schönes, aber schmerz- und angstverzerrtes Antlitz, über welches sich
jenes
brutale und grausame beugte, jenes, das ich in jener Nacht gesehen.
In
den ersten Tagen war der
Finger frisch und unverändert, dann trocknete er ein und die Haut
schrumpfte
zusammen. Und dann wurde mir die Geschichte langweilig, wie alles auf
der Welt
uns einmal langweilig wird, und ich packte Handschuh, Ring und Finger
sorgfältig in Watte ein – und vergaß sie.