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04.2
Geschichten - John Henry Mackay
Zwischen den Zielen
1911
Quellenangabe
Da es
seine Absicht war,
einen Nachmittagsausflug den Fluß hinunter mit dem Dampfer zu machen,
war er
schon frühzeitig mit der Ringbahn den endlosen Weg um die halbe Stadt
herum
gefahren, bis er den Fluß und die nächste Haltestelle erreichte.
Nun
saß er in dem Restaurationsgarten bei der Landungsbrücke und sollte
noch
fast dreiviertel Stunden warten. Denn an den Wochentagen fuhren die
Dampfer
selten.
Er
hatte sich verfrüht – in der Hast, mit der er jetzt alles tat, und der
Angst, zu spät zu kommen und nicht fertig zu werden.
Nun
hatte er wahrlich Zeit genug und hätte ruhig an seinem Tisch sitzen,
seine
Gedanken auf den Menschen und den Dingen um sich herum weilen lassen
und seinen
Kaffee trinken können, denn nichts und niemand störte und trieb ihn.
Aber
da war sie wieder: die alte, furchtbare Unrast, die ihn immer dann am
heftigsten überkam, wenn ihm ein paar Stunden der Ruhe beschert waren,
und die
ihn eigentlich nur verließ, wenn die rastlose Arbeit des Tages oder der
totenähnliche Schlummer der Ermüdung bei Nacht sie vertrieb.
Er
kämpfte gegen sie an mit seiner ganzen Kraft; er wollte sich „zur Ruhe
zwingen“ mit der Aufbietung seines ganzen Willens – und konnte es
nicht.
Denn
er war krank. Und er wußte es, daß er krank war. Eine Sehnsucht war in
ihm, die unermeßlich war, und er war krank, weil er das Ziel dieser
Sehnsucht
nicht kannte und, wie er auch suchte, nicht finden konnte.
Sie
war in ihm, und er
wußte weder, woher sie kam, noch wohin sie wollte. Sie hatte sich
seines Lebens
bemächtigt und lag immer auf der Lauer, es zu zerstören.
Wenn
er ihr Ziel nicht
fand, so würde sie der Sieger sein.
Er
fühlte es: lange konnte
es nicht mehr dauern.
Aber
noch kämpfte er und suchte. Er suchte, wo immer er auch war: außer
sich,
in sich – bis zur Verzweiflung, bis zum Wahnsinn. Und er fand nicht,
was er
suchte.
Kein
Augenblick, in dem er nicht gehofft hätte, die Sehnsucht zu stillen;
und
kein nächster, der ihm nicht die Enttäuschung gebracht hätte. Alles
versprach
ihm, und alles belog ihn. Kein neues Buch, in dessen Blättern, die er
durchflog, er nicht die Antwort auf seine Frage zu finden hofft; kein
neuer
Mensch, dem er sich nahte, ohne vor Erwartung geschüttelt zu werden.
Auf der
Straße konnte ihn ein Gesicht, das Lächeln eines Kindes, der Ton einer
Stimme,
die nächste gleichgültigste Begebenheit in die Aufregung der Erwartung
versetzen: das ist es, was du suchst! – Und zu Hause, allein mit sich,
in den
einsamsten Stunden der Nacht, verlangte er unablässig von seinen
grübelnden
Gedanken das Eine, nur das Eine, daß sie ihm den Weg zeigten zur
Erfüllung der
großen Sehnsucht, die ihn beherrschte! Aber alles enttäuschte ihn, und
nichts
vermochte den Durst, der ihn verzehrte, länger zu stillen als für die
Dauer
eines Augenblicks.
So
suchte er, und da er
nicht fand, was er suchte, wuchs in ihm die Sehnsucht von Tag zu Tag,
und mit
ihr die Unruhe, die Angst und die Verzweiflung.
Er
war krank; und er wußte, daß er es war. Denn er wußte, daß gesunde
Menschen
die Sehnsucht nicht kennen, sondern in der Erfüllung ihres Tages leben.
–
Da
war sie auch heute wieder, und statt ihn die Schönheit dieses freien
und
langerwünschten Sommernachmittags an dem schattigen, grünen Spreeufer
genießen
zu lassen, packte sie ihn plötzlich mit einem quälenden Gedanken und
trieb ihn
auf – etwas zu suchen, irgend etwas – was? –
Er
rief ungeduldig nach der Bedienung, bezahlte hastig und stand auf. Der
Kellner sah dem Gast verwundert nach, der ihn eben noch um Auskunft
nach dem
nächsten Schiff gefragt hatte und nun davonrannte . . .
Was
hatte er vor? – Wohin wollte er? – Er wußte es nicht. Wie es immer war:
ein
unbestimmtes Gefühl der Angst und Ungewißheit hatte ihn emporgetrieben.
Es war
das alte, ihm so wohlbekannte Gefühl, das ihn seine Entschlüsse und
Pläne mit
plötzlicher Heftigkeit ändern ließ, und gegen das er machtlos war.
Als
er vor einer halben Stunde den weiten Weg mit der Ringbahn gefahren
war,
erst durch die Stadt, dann an ihren Grenzen hin, endlich in weitem
Bogen über
die leere Öde der flachen Felder bis hierher, war ihm beim Hinaussehen
zum
Fenster irgendwo auf dem letzten Teil des Weges ein Haus in die Augen
gefallen,
und es hatte für die Zeit der paar Sekunden, in denen er es sehen
konnte, seine
Gedanken gefesselt, so daß er sich noch einmal nach ihm umgesehen
hatte. Der
Zug war weitergerast, und wie er es aus den Augen verloren, so vergaß
er es
wieder . . . Dann, wie er im Garten gesessen und auf das braune Wasser
hinausgesehen hatte, angstvoll bemüht, seinen Gedanken einen Halt zu
geben, war
es ihm wieder mit einer Plötzlichkeit vor Augen getreten, die ihn aufs
neue
beunruhigte. Was er im Vorbeifahren gesehen, sah er jetzt wieder: eine
weiße Wand,
einen Garten, in dessen Mitte ein Teich lag, eine Fahnenstange auf dem
Giebel
und eine große Inschrift, die besagte, daß das Haus eine
Gartenwirtschaft war .
. . Um das Haus herum, so weit das Auge vom Bahndamm reichen konnte,
nur Öde,
grenzenlose Öde.
Warum
war es ihm überhaupt aufgefallen? Ja, wenn er das gewußt hätte! –
Sicherlich gab es nichts Gewöhnlicheres als diese Wirtschaft in den
Feldern, an
der letzten Grenze der Stadt, dies Haus ohne Nachbarn, schlummernd in
der
Sommerhitze und kärglich geschützt von den bestaubten Bäumen an dem
schmutzigen
Tümpel . . . Aber es ließ ihn nicht mehr los, nun er sich seiner so
unverhofft
wieder erinnerte, und darum stand er jetzt – statt auf dem Dampfer den
kühlen
Fluß hinunterzugleiten – auf der staubigen Chaussee und sah nach der
Richtung,
in der das weiße Haus liegen mußte.
Die
Sehnsucht gebot ihm, es
zu suchen, und wie sie ihn trieb, einem Menschen auf der Straße
nachzugehen,
dessen Gesicht, dessen Stimme, dessen Gang ihn gefesselt, so zwang sie
ihn
jetzt, zu gehen, bis er das weiße Haus gefunden und das Geheimnis
enthüllt, das
es für ihn barg.
Aber
wo lag es? – Er konnte sich nicht einmal der beiden Stationen mehr
erinnern, zwischen denen er es vom Wagenfenster aus gesehen hatte.
Nur
die Richtung wußte er. Dort – dort – mußte es liegen, hinter dem
Bahndamm,
der den Horizont verbarg. Aber wenn es auch eine Stunde zu gehen war,
er hatte
ja Zeit. Und er machte sich auf den Weg in der glühenden, grellen Hitze
des
Simmernachmittags.
Wenn
er geradeaus ging, so schien es ihm, müsse er einen Teil des Weges
abschneiden und den langen Bogen der Bahn verkürzen. Und getrieben von
der
immer stärker werdenden Unruhe, überlegte er nicht mehr lange, sondern
ging in
ungefährer Richtung dem Süden der Stadtgrenze zu.
Um
die Bahn zu durchschreiten und den freien Ausblick der Felder zu
gewinnen,
mußte er lange Straßenlinien verfolgen. Sie trugen bereits Namen und
waren
sorgfältig gepflastert, aber noch stand an ihnen kein einziges Haus.
Alles war
berechnet angelegt für die Anschwellung der Großstadt, die eines Tages
auch
diese leeren, umzäunten Quadrate füllen würde. Der Wanderer ging eine
der
leeren Fluchten nach der anderen hinunter; bald hatte er links, bald
rechts
einzubiegen, und doch schien er dem Bahndamm nicht näher zu kommen. Das
glühend
heiße, saubere Pflaster, die noch unbefahrenen grauen Steine, deren
grausame Eintönigkeit
selbst das Gras kaum zu durchbrechen wagte, brannte durch seine Sohlen,
und
während er unverdrossen dies schattenlose Labyrinth eines noch
ungeborenen und
doch schon benannten Stadtteils durcheilte, dachte er an plätschernde
Quellen
unter schattenspendenden Bäumen.
Eine
große rote Fabrik, ganz neu und noch von Rauch und Ruß nicht
geschwärzt, erhob
sich in der Ferne über den Zäunen; wenn er sich rückwärts wandte, sah
er die letzten
Häuser der Stadt in Glut und Hitze flimmern und zerfließen. Allmählich
kam er
der Bahn näher, und nun war er endlich auf der Straße, die unter ihr
durchführte in das Freie. Jetzt sah er auch einen Wagen und einige
Menschen,
die träge und sich selbst in Staubwolken hüllend dahinschlichen.
Im
Schatten der Bahnlinie lag eine kleine Schenke. Ein paar Tische und
Stühle
vor dem Hause; an einem saßen drei Arbeiter vor einer großen Weiße und
spielten
mit schmutzigen Karten, ohne zu sprechen, wie im Halbschlaf. Ihr Wagen
stand
vor der Tür, und die Pferde warteten regungslos, die Köpfe gesenkt und
nur
träge mit den Schwänzen die Fliegen von sich wehrend.
Der
Fremde setzte sich. Er bestellte sich Vier und trank das schäumende
Glas,
das eine schmutzige Frau ihm brachte, in einem Zuge leer. Das Bier war
frisch
und kühl, und das tat ihm wohl; er bestellte sich ein neues Glas und
blieb
sitzen.
Die
Sonne stand jetzt am höchsten, und ihre Strahlen fielen fast senkrecht
nieder. Es war um die vierte Nachmittagsstunde. Zu dem Wege, der von
hier aus
gesehen, nicht mehr als zehn Minuten zu betragen schien, hatte er fast
eine
Stunde gebraucht, so groß waren die Umwege gewesen.
Eine
grenzenlose Müdigkeit überkam ihn, die Müdigkeit der dritten
Nachmittagsstunde,
des Mitt-Tages zwischen Morgen und Abend, die alle Natur mit
unbezwinglicher
Gewalt ergreift, und er hätte hier sitzen und schlafen und nicht mehr
aufstehen
mögen. Aber er träumte von einem weißen Hause, und dieser Traum hielt
ihn von dem
völligen Versinken in Schlaf und Vergessenheit zurück.
Das
weiße Haus – ja, wo war es? – Und er sprang auf, trank aus, bezahlte
und
ging. Er ging geradeaus unter der Bahn durch, mitten auf der breiten
grauen
Chaussee, und seine Füße wühlten achtlos den Staub in die Höhe, der ihn
mit
einer dichten Wolke umgab.
Nun
lag das weite Feld offen vor ihm, und er ließ einen langen Blick über
die
weite Ebene schweifen. Aber was er sah, waren nur Felder und Wiesen, in
denen
sich hier und da ein Baum erhob. Vergebens suchte er nach den scharfen
Konturen
eines Hauses – des weißen Hauses: er konnte nichts entdecken. Dann
glaubte er
endlich, am äußersten Horizont zu seiner Rechten eine schwache Erhebung
zu erblicken,
die wohl ein Gebäude sein konnte. Und von neuer und über die Maßen
quälender
Unruhe ergriffen, sagte er sich, daß es das sein müsse. Dort zog sich
die Bahn
hin, mit der er gekommen war; dann verlor sie sich in dem großen Bogen
um das
Südende der Stadt – ja, dort ungefähr mußte es liegen; wenn jene dunkle
Wölbung
auf der scharfen Linie des Horizontes das Haus nicht selbst war, so
konnte es
doch nicht mehr weit davon sein.
Gewiß,
es war kein Zweifel möglich, und wenn er in jener Richtung ging, mußte
er entweder direkt auf sein Ziel losschreiten oder ihm doch so nahe
kommen, daß
er es leicht von da aus erblicken und erreichen konnte.
Er
maß noch einmal mit einem langen Blicke die große Öde vor sich:
geradeaus
zog sich die breite Chaussee dem Osten zu, links floß hinter dem Park
die
Spree, und rechts begann die freie Weite unübersehbarer Felder und
Wiesenflächen.
Ein offenbar wenig begangener Weg – halb Fahr-, halb Fußweg – führte
über sie
hin. Ihn mußte er gehen.
Zum
letztenmal sah er die Chaussee hinunter, auf der ein Lastwagen in einer
weißen Wolke träge dahinzog, dann bog er ab und begann mit schnellen,
fast
hastigen Schritten seinen Marsch über die Felder. Es sah nicht mehr
auf, denn
der Weg war holprig und steinig, und er mußte alle Augenblicke den
tiefen, vor
langem hier gezogenen Furchen der Räder ausbiegen, die den schmalen
Fußsteig
zerstört hatten. Es war ein ermüdender Weg, wie man ihn sich reizloser
und
eintöniger nicht denken konnte. Aber er schien es nicht zu empfinden.
Er
schritt, den Hut in der Hand, weiter und weiter, ohne aufzublicken, und
die
einzige Erholung, die er sich gönnte, war, daß er mit dem Tuch von Zeit
zu Zeit
über die Stirn strich, um den Schweiß wegzutrocknen. So ging er mit
einer
qualvollen Hast wohl eine Stunde, bevor er eine kurze Rast machte und
sich von
neuem umsah.
Er
befand sich jetzt inmitten der unfruchtbaren Felder. Vor ihm und hinter
ihm,
wie er sich wandte, war nichts mehr zu sehen als der weite, runde Kreis
flachen
Landes,
und
immer noch waren es nur
hier und da vereinzelte Bäume, die starr und regungslos die erdrückende
Gleichmäßigkeit der Linien unterbrachen.
Von
dieser schlecht bebauten Erde ging keine Kraft aus: die Felder lagen
brach,
und die Wiesen waren ohne Frische.
Überall
sah der gelbe Sand des Untergrundes hervor und offenbarte die innere
Unfruchtbarkeit. An dem glühenden blauen Himmel zeigte sich keine
Wolke, nur
die Sonne schien allmählich an ihrer eigenen mörderischen Glut zu
ermatten.
Der
Wanderer ließ nach einem langen Blick seinen Kopf wieder sinken und
ging
wie bisher – immer geradeaus, und als er ihn wieder hob, schien ihm
eine andere
Stunde vergangen. Fast nichts hatte sich verändert; er schien nicht
weiter
gekommen zu sein – diese Felder waren wie das Meer, immer gleich in
ihrer
schrecklichen Eintönigkeit und endlos, wie es schien . . . Wie sollte
er
wissen, wo er war? –
Nur
die Sonne hatte noch mehr von ihrer Glut verloren, und der Himmel etwas
von
seinem tiefen Blau. Auch der Bahndamm, den er bei seinem letzten Halt
ganz und
gar aus den Augen verloren, erschien wieder in weiter Ferne wie ein
dunkler
Streifen am Horizont.
Aber
von dem weißen Haus war keine Spur zu sehen. Und der Wanderer, der,
ohne
zu denken, gegangen und nur gegangen war, hatte es fast vergessen. Daß
er so
gehen und gehen konnte, immer weiter und weiter, auf den Weg achten
mußte und
den Kopf gesenkt halten durfte, schien ihn zu beruhigen und zu
beglücken.
Seine
Augen blickten klarer, und sein Gang wurde fester. Er zeigte keine Spur
von Müdigkeit, im Gegenteil, er schien sie zu verlieren, je weiter er
ging.
Jetzt,
wo es etwas kühler zu werden begann, hätte er immer so gehen mögen,
ohne
Aufhören, immer hin über die schweigenden Felder.
Bisher
war der Weg immer geradeaus gegangen; nun machte er eine leise Biegung
dem dunklen Streifen am Horizont zu, als wollte er sich nicht zu weit
von der
Bahn entfernen und sich endlich dort in der Ferne wieder mit ihr
vereinigen.
Der
Mann begann die Wanderung seiner dritten Stunde. Jetzt trug er den Kopf
nicht mehr gesenkt, sondern blickte geradeaus mit einem scharfen und
suchenden
Blick. Denn jetzt konnte sein Ziel nicht mehr fern sein, und er mußte
es
erreichen – noch bevor diese Stunde zu Ende war. Und wie er ging und
ging, kam
langsam die Dämmerung des Abends, und alles wurde anders um ihn her.
Alle Farben
verblaßten allmählich; zuweilen erhob sich ein leiser Wind, bewegte
zart die
Halme und verlor sich wie der sprachlose Hauch eines Mundes; und das
Schweigen,
nicht größer als bisher, nur ungefühlt und dumpf unter der heißen Helle
der
Sonne, wurde nun fühlbar und glitt über die Felder wie der tröstende
Bote der
kommenden großen Stille der Nacht. Mit dem Schweigen aber kam der
Friede, und
die Angst und die Unruhe waren von dem einsamen Gänger gewichen. Hier
war er
allein – er der Herr dieser Einsamkeit und dieses Schweigens, und das
Leben
hatte seine Macht verloren an dieser Grenze des Seins. – Und in der
leisen
Dämmerung des Abends, beim Sinken der Sonne, die die luftigen Fluten am
Himmel
rosig färbte, kam es über ihn wie ein Rausch der Erfüllung, der seine
lange
Sehnsucht nun endlich stillen sollte. Er hemmte seinen Gang, der Stock
entglitt
seinen Händen, und indem er beide Arme weitaus in die Ferne streckte,
flammten seine Augen, quoll zwischen den bebenden
Lippen ein Laut des Entzückens, und er sah vor sich, noch in weiter
Ferne, aber
klar und deutlich – o so deutlich – das Haus, sein weißes Haus . . .
-
Ganz von Marmor lag es in dem weiten Park am See. Uralte Bäume
umschlossen es
von allen –Seiten, und nur an einer Seite ging von der breiten Treppe
ein
langer, stiller Weg, den schlanke Zypressen umsäumten, zum See
hinunter.
Schwarz waren die Bäume und weiß die Wände des Hauses. Aber der weiße
Marmor
war nicht kalt, denn eine warme Stimme glitt über ihn und füllte alle
Räume mit
Leben und Liebe. – Das einsame Haus war nicht einsam, und das Leben in
ihm war
eine stille Süßigkeit
. . .
Und
verlangender streckte der Mann seine Arme aus. Aber so schnell, wie es
gekommen, verlor das lustige Bild an Schärfe, die weißen Mauern und die
Zypressen des Parkes am See verschwanden in ungewissen Umrissen von
Dämmerung
und Schatten, und vor ihm lag nichts mehr als die leere Fläche der
Felder, die
sich weit dort hinten in beginnende Nacht verloren. Die Arme des Mannes
sanken
nieder, aber seine Augen blickten noch immer wie gebannt geradeaus.
Denn auf
dem Wege vor ihm bewegte sich langsam ein dunkler Punkt ihm entgegen,
der immer
größer wurde, je näher er auf ihn zukam. Noch war er so klein, daß er
nicht
sehen konnte, was es war. Aber wie gebannt blieb er stehen und ließ das
Auge nicht
mehr von dem langsam rollenden Fleck. Dann von Ungeduld und Erwartung
getrieben, ging er wieder – blieb wieder stehen – und ging wieder
schnell
vorwärts, bis er erkannte, daß es ein Mensch war, der auf ihn zukam.
Da
ging er nicht weiter.
Er
erwartete ihn.
Und
der dunkle Punkt wurde
größer und größer, schien allmählich die ganze Breite des Weges
einzunehmen und
war dem Mann wie eine übermenschliche Gestalt. Er fühlte, wie ihn
langsam ein
Grauen packte und eine Angst, so stark, daß er hätte zurückfliehen
mögen über
die verlassenen Felder.
Er
sah nicht, daß es eine alte, müde Frau war, die ihm entgegenkam; er sah
nur
einen drohenden, schwarzen Schatten und lange, bevor er ihn erreicht
hatte,
trat er zurück von dem Wege in die Furchen des Feldes, faßte seinen
Stock
fester und erwartete die feindliche Gestalt. Sein Herz klopfte, und er
fühlte,
wie das Grauen ihn schüttelte . . .
Die
alte Frau kam keuchend heran. Sie war klein und verschrumpft, aber ein
großer Sack gab ihr einen gewaltigen Buckel. Sie stützte sich auf einen
langen
Stock und ging trotz der Gebrechlichkeit ihres Alters mit schnellen,
kleinen
Schritten. Ihre Augen sahen nicht auf vom Boden, und ihre Lippen
bewegten sich,
unaufhörlich murmelnd und vor sich hin murrend – unaufhörlich . . .
Sie
sah den Wanderer überhaupt nicht, der am Wege stand. Sie glitt an ihm
vorbei wie ein Schatten und verschwand in der Dämmerung ohne Spur. Er
sah ihr
noch lange nach, und es war ihm, als sei das Leben an ihm
vorbeigeschritten,
mühselig und beladen, schmutzig und armselig.
Auch
er ging jetzt so weiter wie die Alte: die Augen auf den Boden geheftet
und
wie unter einer großen Last. Und auch seinen Schatten verschlang die
Dämmerung
des Abends. Er schritt weiter und weiter, aber er ging jetzt mutlos und
ohne Erwartung,
und der einzige Wunsch, den er noch hegte, war, so bald wie möglich
nach Hause
zu kommen.
Wie
er den Bahndamm durchschritt und die Felder, die er seit so langen
Stunden
durchwandert, hinter sich ließ, da sah er plötzlich ganz dicht vor sich
das
Haus, das ihn zu dieser zwecklosen Wanderung verführt hatte. Ein Blick
genügte,
um es ihm zu zeigen, wie es wirklich war: ein schmutziger, viereckiger
Kasten,
im Erdgeschoß eine Fuhrmannskneipe, an der Hinterwand einige
verkümmerte Bäume
um einen stagnierenden Tümpel herum . . .
S e i
n weißes Haus!
Er
wollte eilig vorbeigehen, ohne es noch einmal mit einem Blicke zu
streifen,
und den nächsten Ringbahnhof noch erreichen, bevor es völlig dunkel
wurde, aber
er vermochte es nicht.
Er
glaubte die Viertelstunde nicht mehr gehen zu können, die noch vor ihm
lag.
Und er ging um das Haus herum in den kleinen Garten, der völlig leer
war. Er
setzte sich an einen der staubigen Tische auf die harte Bank und
wartete
darauf, daß jemand kommen möge.
Von
dem trüben Gewässer stieg ein unangenehmer, fauliger Geruch auf; vom
Schenkzimmer her tönte zuweilen lautes Lärmen und rohes Gelächter.
Irgendwo in
der Nähe mußte ein Stall sein; sein Dunst mischte sich mit dem der
Pfütze. Es
wurde dunkel unter den traurigen, schweigenden Bäumen.
Niemand
kam, um den einsamen Gast zu bedienen, und dieser war zu müde, um noch
einmal aufzustehen und zu rufen. Er fühlte die Müdigkeit in seinen
Füßen und
Knien plötzlich so stark, daß sie fast schmerzhaft war und doch
zugleich
verbunden mit der süßen Mattigkeit der Ruhe. Sie war stärker als Durst
und
Hunger, und er vergaß beide darüber, im Wohlgefühl, so sitzen zu
können.
Die
Unruhe, die ihn zerrte und riß, und die Angst die ihn folterte ohne
Grund –
sie hatten ihn nun verlassen, und er fühlte sich losgelöst von dem
Leben in der
tiefen Gleichgültigkeit der Erschöpfung. Jetzt stand er sich selbst
gegenüber
und war fähig, sich selbst zu sehen; daher dachte er jetzt nach über
sich
selbst.
Was
war der Grund für seine Krankheit? – Wonach sehnte er sich eigentlich?
–
Wenn je, so mußte er heute abend die Antwort finden.
So
war es nun schon seit Jahren: alles erregte die Begierde seiner
Sehnsucht,
nichts stillte sie mehr. Keiner seiner Wünsche ging mehr nach innen.
Alles in
ihm drängte nach außen und griff mit hastigen, gierigen Händen nach
allem, was
an seinen Tagen vorbeiging.
Die
wüste Oberflächlichkeit der Außen-Mensch, die er so verachtete, hatte
ihn
ergriffen, wenn auch in anderer Weise. Denn jenen waren ihre lauten
Tage nur
Bälle, die sie sich gegenseitig zuwarfen wie leere Worte, und sie
zerplatzten
in der Luft; aber er durcheilte sie stumm, um die Stille seines Innern
wiederzugewinnen, die er so ganz verloren.
Das
war der Zwiespalt, das war seine Krankheit: er wußte, er konnte nie in
den
Tagen finden, was er suchte, außer indem er sie preisgab und sich
zurückzog auf
sich selbst; und er fühlte, er konnte sie nicht lassen, denn sein Leben
war
kalt geworden ohne ihre äußerliche Wärme.
Er
neigte seine Stirn tiefer über den Tisch, und der Ausdruck seiner Züge
wurde
noch gramvoller, wie der eines Verzweifelnden. Warum kümmerte sich
niemand um
ihn? – Er hatte Durst – aber er war zu müde, um aufzustehen.
Er
dachte weiter. Wonach sehnte er sich noch? – Was konnte es sein, da er
doch
alles genossen und alles gelitten hatte, was das Leben einem Menschen
geben und
nehmen konnte – alle Freuden, alle Leiden? Was konnte es noch sein? –
Alle
Freuden: er hatte das Leuchten eines Auges gesehen, entzündet an der
Glut
des seinen; die warme und liebreiche Umarmung stiller Tage und
unvergeßlicher
Nächte beglückt und schaudernd empfunden; die edelste und treueste
Freundschaft
genossen in ihrer höchsten Blüte: der Gemeinsamkeit der Idee. Er hatte
die
Länder und Meere gesehen, wie sie am Morgen im goldenen Glanze des
ersten
Lichtes und am Abend im silbernen des letzten lagen, und sein Auge
hatte sie
umspannt; seine Kräfte geübt an Werken, die den Tag seines Lebens
überdauerten,
und den Flügel des Ruhmes gespürt, so süß, wie er nur die ungekrönten
Stirnen
berührt; und das Lächeln und die Tränen einer Mutter hatten lange seine
Wege
begleitet . . . was hatte er n i c h t genossen?
–
Und
er hatte alles gelitten. Er hatte dahinsterben sehen, was er liebte, -
rettungslos, und sein Blut war entströmt aus Wunden, die sich nie mehr
schlossen; die tiefe Gemeinheit der Gewöhnlichkeit hatte ihn
beschmutzt, und er
hatte sich nicht reinigen dürfen; er hatte jede Sorge und fast die
letzte Not
kennen gelernt in Jahren, die tief unter dem Niveau der
Lebensmöglichkeit
lagen; und Freundschaft und Liebe waren ihm geraubt worden – nicht
durch den
Tod, sondern durch eigene Schuld, Krankheit hatte mit seinem Mut
gerungen, bis
sie Siegerin wurde und nur mit Preisgabe letzter Kraft noch gebannt
wurde . . .
was hatte er n i c h t gelitten? –
Was
wollte, was begehrte er noch? Wonach sehnte er sich? –
Es
war nun ganz dunkel geworden unter den Bäumen, und das Gelächter und
der
Lärm in der Gaststube hatten aufgehört. Und wie er so dasaß und vor
sich
hinsah, da fühlte er plötzlich, daß es der Tod war, den er ersehne. - -
Und
es wurde ganz still in ihm. Nur sein Kopf senkte sich noch tiefer über
den
Tisch wie in stummer Ergebung . . .
Noch
lange saß er so da. Aber er dachte an nichts mehr. Er wartete. Und so
würde er von nun an warten – still und geduldig, bis der Erlöser kam,
der ihn
heute schon berührt und mit dieser einen Berührung alle Angst und alle
Unruhe
für den Rest seiner Tage von ihm genommen.
Nie
in seinem Leben hatte er ein solches Glück empfunden wie in dieser
Stunde,
die ihm Gewißheit und mit ihr den Frieden gebracht.
Das
weiße Haus hatte ihm sein Versprechen gehalten.
Als
er sich endlich erhob und ruhig und sicher an den Bänken und dem Hause
vorbei die Landstraße hinunterschritt, bemerkte ihn der Wirt, der am
Fenster
stand; und verblüfft und ärgerlich über diesen anständig gekleideten
Gast, der
aus seinem Garten kam und nichts verzehrt hatte, sah er ihm nach, wie
er in dem
Dunkel des Abends verschwand.
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