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04.2
Geschichten - John Henry Mackay
Zwischen den Zielen
1911
Quellenangabe
Wer
ist nicht schon einmal
in einem kleinen Badeort gewesen, um die Zeit, wenn die Saison vorüber
und
derselbe auch von den ausdauerndsten und standhaftesten seiner Gäste
verlassen
wurde? Der Oktober ist diese Zeit.
In
diesem Monat befand ich mich genau fünf Jahre später – in einem kleinen
Badeort Thüringens.
Ich
hatte ursprünglich die Absicht, mich dort anzusiedeln und mir schon
meine
sämtlichen Sachen hinkommen lassen. Inzwischen war ich wieder
schwankend
geworden und wohnte einstweilen noch immer in dem von Kurgästen am
meisten
frequentierten Gasthofe der Stadt.
Unsere
Mittagstafel wurde immer kleiner. Kein Tag verging, an dem nicht
mehrere
der Badegäste abreisten. Die Zurückbleibenden rückten näher zusammen.
Sicherlich gab es am ganzen Tisch keine
unzugänglichere und unliebenswürdigere Person als mich. Statt an dem
gemeinschaftlichen Gespräch teilzunehmen, las ich meistens meine
Zeitung, die
ich nur fortlegte, wenn ich mit Essen beschäftigt war. Eines Tages
waren wir
nur drei Personen. Eine Dame, welche sich ebenfalls sehr schweigsam
verhielt,
ein alter pensionierter Oberförster, der sich die größte Mühe gab,
seine beiden
stillen Tischgenossen zu unterhalten, und ich. Und am folgenden Tag war
auch der,
wahrscheinlich aus Ärger darüber, daß seine freundlichen Bemühungen auf
so
zähen Widerstand stießen, abgereist, und ich sah mich bei Tisch allein
jener
Dame gegenüber. Nun ging es nicht mehr an, fortwährend die Zeitung vor
die Nase
zu halten, und ich entschloß mich unmutigen Herzens, eines jener
Gespräche zu
beginnen, welche dazu dienen sollen, „das Mahl zu würzen“.
Die
Dame, welche mir gegenübersaß, war vielleicht dreißig Jahre alt. Sie
war
sehr einfach, fast nachlässig gekleidet. Man konnte sich keine
unauffälligere
Erscheinung denken. Sie war eine jener Frauen, die selbst niemals
gesehen
werden und darum selbst sehr viel sehen. In ihrem gleichgültigen, sogar
müden
Blick fing sich ein Teil des Lebens, welches sie umgab.
Das
alles sagte ich mir, als ich meine Zeitung fortgelegt hatte und sie –
eigentlich zum erstenmal betrachtete.
Der
Kellner servierte eben den ersten Gang.
-
Unser Tisch ist schnell zusammengeschmolzen, sagte ich, - werden auch
Sie G.
bald verlassen, mein Fräulein?
–
Nein, sagte sie mit
völlig ruhiger Stimme, - ich gedenke noch einige Wochen zu bleiben.
Sie
sprach ein Deutsch, welches trotz seiner Fehlerlosigkeit nicht ganz
frei
war von einem ausländischen Akzent, wie ich ihn oft in der Aussprache
von
Russen vernommen hatte.
- Es
wird sehr einsam hier werden . . .
- Ja,
sagte sie und aß gleichgültig weiter.
Der
Rest unserer Mahlzeit wurde wieder schweigend eingenommen. Ich war
abgeschreckt durch ihre Kälte und hatte meiner Pflicht völlig genügt.
Nichts
ist mir unangenehmer, als wenn mir irgend jemand während des Essens auf
die Hände sieht. Ich vermeide es darum auch meinerseits, andere auf
gleiche
Weise zu belästigen.
Aber
als ich mich eben erheben wollte, um fortzugehen, und überlegte, ob ich
das mit einer schweigenden Verbeugung oder mit einigen höflichen Worten
tun
sollte, sah ich plötzlich über den Tisch herüber eine Hand nach der
Wasserflasche, die zwischen uns stand, langen. Und während ich dieser
Hand
behilflich sein will, sehe ich plötzlich, daß an ihr, die den Hals der
Flasche
umspannt, der kleine Finger, es war die rechte Hand, fehlt. Der
Ausdruck meines
Gesichtes muß ein befremdeter gewesen sein. Denn plötzlich läßt die
Hand die
Flasche los, und ich sehe undeutlich, wie sich mir gegenüber eine
Gestalt
erhebt. Das leise Rauschen ihres Kleides tönt durch den stillen, großen
Saal .
. .
Wenigstens
fünf Minuten saß ich bewegungslos. Es waren in der Tat sehr seltsame
Gedanken, die mich beschäftigten.
Am
Nachmittag ging ich nach dem Güterbahnhof des Städtchens, wo die Kisten
standen,
die alles, was ich besaß, enthielten. In einer von ihnen mußte das
sein, was
ich brauchte. Aber in welcher? Erst nachdem ich zwei Kisten mit Hilfe
von
reichlichen Trinkgeldern vergeblich geöffnet und durchwühlt hatte, fand
ich
endlich in der Mitte der dritten unter einem Wall von Büchern eine
kleine
Schachtel. Ich nahm sie zu mir und ließ alles wieder verschließen.
Am
Abend dieses Tages sah ich die Fremde nicht mehr.
Auch
am nächsten Morgen
nicht. Mit heimlicherer und zugleich erwartungsvollerer Angst habe ich
nie die
Mittagsstunde erwartet, als an diesem Tage. Es wurde mir sehr schwer,
mich zu
dem zu entschließen, was ich tun wollte und – tat.
Ich
war lange vor der Essenzeit im Speisesaal und saß wohl eine halbe
Stunde,
bevor sie kam, auf meinem Platze. Ich hatte Zeit, meine Arrangements zu
treffen.
Endlich
kam sie. Sie grüßte in ihrer gewöhnlichen kalten und unbefangenen
Weise. Der Kellner brachte uns die Suppe. Vor meinem Besteck lag die
Zeitung,
die ich täglich zu lesen pflegte. Wenn ich mein Leben damit hätte
erkaufen
können, es wäre mir nicht möglich gewesen in diesen Minuten ein Wort
hervorzubringen. Sie mußte meine innere Aufregung merken, denn ich
fühlte
instinktiv, wie ihr forschender, scharfer Blick auf meinem Gesicht
ruhte.
Ich
glaube, sie ahnte, daß ich etwas gegen sie im Sinne hatte, und begann,
sich
davor zu fürchten. Aber das glaube ich vielleicht nur. Gewiß täuschte
ich mich
damals, wie ich mich heute noch darin täusche.
So
saßen wir uns gegenüber. Noch hatte ich keinen Blick auf ihr Gesicht
geworfen. Aber fast unablässig verfolgte ich die Bewegungen ihrer
rechten Hand.
Die Gewohnheit hatte sie gelehrt, diese so zu halten, daß es fast
unmöglich
war, den kleinen Finger zu sehen.
Ich
glaube, wir beide wurden von Minute zu Minute unruhiger.
Und
dann kam plötzlich, wie in jener Nacht, an die ich seit gestern
unablässig
dachte, wieder die Ruhe des Entschlusses über mich. Der Kellner hatte
den Saal
verlassen. Wir waren völlig allein. Langsam streckte sich meine Hand
über
meinen Teller fort und hob die vor ihm liegenden Zeitung behutsam auf.
Ich
rollte sie fester um den Halter zusammen und legte sie auf meine Knie.
Sie
aß ruhig weiter. Noch sah sie nichts.
Aber
dann! - - Die Wirkung war so
entsetzlich, daß ich aufstand: zuerst wurde sie leichenblaß, dann
überlief ein
Zittern ihren Körper, und dann lehnte sie sich in den Stuhl zurück und
schloß
die Augen.
Vor
uns, zwischen uns, auf dem weißen Tischtuch lag sorgfältig ausgebreitet
ein
langer, brauner Frauenhandschuh. Der kleine Finger fehlte und an seiner
Stelle
lag der gelbliche, vertrocknete kleine Finger einer rechten
menschlichen Hand
auf dem weißen Untergrund. Da, wo er in den Handschuh hineingeschoben
war,
umschloß ein goldener Ring Handschuhleder und Finger . . .
Erst
als ich sie so dalehnen sah, totenblaß und mit geschlossenen Augen, kam
ich zur vollen Besinnung dessen, was ich getan hatte. Ich stand da, wie
ein
Verbrecher.
Als
ich eben nach Hilfe eilen wolle, sah ich, wie sie sich erhob. Mit einem
wilden, verzweifelten Ausdruck blickte sie um sich, wie ein Tier,
welches
verfolgt wird, nicht mehr aus und ein kann und zu allem entschlossen
ist.
Sie
sah mich unablässig an. Dann wies sie mit einer heftigen Handbewegung
nach
dem Garten. Sie schritt voran. Unwillkürlich griff ich, bevor ich ihr
nachging,
nach dem Handschuh.
Unter
den hohen, herbstlichen Bäumen des weiten, menschenleeren Parkes blieb
sie stehen. Ich sah, daß sie in furchtbarer Erregung war. Und zugleich
sah ich,
daß sie schön war, noch schön war. Ihre Augen sprühten, als sie mich
ansah. Es
las in ihnen Drohungen und Befehl zugleich.
- Ich
will alles wissen! Rede! lautete dieser Befehl. – Wage es nicht, mich
zu
belügen, oder mir etwas zu verheimlichen! hieß diese Drohung.
Und
dort, in dem weiten, ernsten Garten, in welchem kein anderer Ton als
der
meiner Stimme und das Rascheln des Laubes die Stille unterbrach,
erzählte ich
ihr hastig und so eindringlich wie möglich die Geschichte jener Nacht -
- -
Ich
verschwieg ihr nichts und sprach wohl eine Viertelstunde.
Sie
stand, ohne sich vom Fleck zu rühren, vor mir. In heftiger Aufregung.
Nur
einmal, als sie aus meinen Worten entnommen hatte, daß jener Mann tot
war, sagte
sie „Ah“ und atmete, wie von einer großen Last befreit, auf. Von da an
wurde
sie ruhiger, während meine Erregung noch wuchs.
Ich
hatte geendet.
Da
streckte sie ihre Hand aus – aber es war die linke! – und sagte mit
befehlender Härte und unverweigerlicher Bestimmtheit:
-
Mein Eigentum!
- Ihr
Eigentum antwortete ich leise und tonlos und legte Handschuh, Ring und
Finger in die ausgestreckte Hand, die das Gereichte krampfhaft umspann.
Schon
hatte sie sich dann zum Gehen gewendet, als sie in meinen Augen den
einen,
heißen Wunsch gelesen haben mußte. Denn noch einmal wandte sie sich zu
mir:
- Ich
wollte von ihm frei sein – um jeden Preis. Der Ring war die Kette. Ich
wußte,
er war angewachsen, wie angeschmiedet. Und . . . sie stockte.
- Und
sie gaben ihm? – fragte ich in atemloser Spannung.
- Den
Finger – und war frei!
sagte sie mit einem unbeschreiblichen Lächeln, welches ich so noch nie
auf
einem Menschenantlitz gesehen hatte.
- Und
er war Mediziner? stieß ich mit der brennenden Begierde hervor, noch
eines
zu wissen, - und er trennte den Finger, als der Handschuh noch an der
Hand saß?
Sie
neigte schweigend die Stirn zu Bejahung.
-
Oberhalb des Ringes?
Wieder
das Neigen.
- Und
dann erst rissen sie
den Handschuh ab? – Und der Ring löste sich -?
Wieder
bejahte ein schweigendes Neigen meine Frage.
- Und
– fragte ich, gierig
und atemlos.
- Und
– und sie richtete sich in die Höhe und schrie mehr, als sie sagte,
während ihre Augen nur noch Verachtung sprühten, - und warf ihm mit
dieser Hand
diesen Handschuh so ins Gesicht! – Sie hatte in maßloser Wut ihre Hand
erhoben
und – noch eine Sekunde – und auch ich –
Aber
der Schlag fiel nicht nieder.
-
Nein! rief ich,
-
Nein, sagte auch sie und ließ ihre Hand sinken.
Böse
und gegenseitig
erbittert fahren wir uns an. Wir standen so nah aneinander, daß wir uns
fast
berührten.
Wohl
eine Minute lang. Wir haßten uns in dieser Minute. Das Weib den Mann
und
der Mann das Weib.
Ich
sah sie an, fest und durchdringend. Doch sie sah nieder.
-
Aber, rief sie noch einmal mit einer vor Aufregung gellenden,
überlauten
Stimme, indem ihre Augen am Boden umhersuchten, und es war, als ob sie
etwas
Unausgesprochenes ergänzte, - aber ich verachte euch alle, denn ihr
seid alle
brutal!
Und
ohne Abschiedswort, ohne Gruß, ohne mich auch nur mit einem Blicke noch
zu
streifen, ging sie, fast wieder so ruhig und sicher, wie vorher,
langsam und
hochaufgerichtet den Pfad hinauf, dem Hause zu. In ihrer Hand hielt
sie, was
ihr gehörte.
Und
während ich – wie im Erwachen aus einem langen Traum – ihr nachsah,
wußte
ich, daß ich sie nie mehr wiedersehen würde.
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