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04.2
Geschichten - John Henry Mackay
Zwischen den Zielen
1911
Quellenangabe
Da
erinnerte er
sich plötzlich . . .
Er
war nun allein.
Er
war befreit von seiner Frau, seiner Tochter, seinem Geschäft.
Seine
Frau war gestorben; seine Tochter nach auswärts verheiratet; und sein
Geschäft hatte er verkauft, da er jetzt genug Geld besaß für den Rest
seines
Lebens.
So
lebte er jetzt: er stand später auf als gewöhnlich und kleidete sich
gemächlich an. Nach dem Frühstück besah er irgend etwas: eine Sammlung,
ein
Museum, oder er trank einen kleinen Frühschoppen an der Potsdamer
Brücke; nach
dem Essen schlief er. Dann las er und schrieb ein wenig, und mit dem
beginnenden Abend ging er an seinen Stammtisch mit großer
Regelmäßigkeit . . .
Er
ließ die Stunden vergehen, wie sie wollten. Jetzt, wo er so viel Zeit
hatte,
dachte er an so manche Dinge, die ihm früher nie in den Kopf gekommen.
Eine
so große Sehnsucht war in ihm, die Sehnsucht nach jener Zärtlichkeit,
die
er nie in seinem Leben genossen und die er sein ganzes Leben entbehrt.
Er
hatte sie nie gefunden.
Nicht
in dem Hause seiner Eltern. Die lagen – halb tot gedrückt durch die
Sorgen des Lebens – in beständigem Streit miteinander.
Nicht
bei seinen Geschwistern. Es war eine große Kinderbande gewesen, in
welcher sich alles durcheinanderprügelte um den besten Happen und den
wärmsten
Platz.
Nicht
in seiner Lehrzeit. Sein Meister war ein harter und strenger Mann, der
nur das Notwendigste sprach.
Nicht
bei seiner ersten
Liebe. Es war ein wilder Rausch gewesen, und lange hatte es gedauert,
bis er
sich von ihr frei machen konnte: Jahre.
Bei
seiner Frau nicht und
nicht bei seinem Kinde.
Seine
Frau war eine kühle und gelassene Person gewesen, nach außen hin von
einer gewissen majestätischen Liebenswürdigkeit, nach innen indifferent
und
behaftet von oben bis unten mit der Kleinlichkeit der Oberflächlichen.
Sie
hatte ihn gequält, so gut, wie sie es konnte, und früh das Kind
gelehrt, Partei
mit ihr gegen den Vater zu nehmen. Und dieses Kind sollte nie zärtlich
gegen
ihn gewesen sein? – O doch. Wenn es etwas haben wollte. Dann war es
gekommen zu
seinen Knien und zu seinem Munde, so daß es ihm fast lieber gewesen, es
wäre
überhaupt geblieben.
Unter
seinen Bekannten, wie überall bei jedem, der Gelegenheit hatte, ihn
näher
kennen zu lernen, war er sehr beliebt.
Seine
Frau war gestorben.
Er konnte sich längst nicht mehr darüber täuschen, daß es lächerlich
für ihn
gewesen wäre, bei ihrem Tode ein anderes als das Gefühl der
Erleichterung zu
haben.
Seine
Tochter war verheiratet. Er hatte ihr den Mann gekauft, den sie sich
ausgesucht, und damit den letzten Wunsch erfüllt, den er ihr gewähren
konnte.
Es blieb ihm nichts mehr für sie zu tun übrig.
Da
hatte er sich auch von seinem Geschäft befreit, welches zwecklos für
ihn
geworden war. Er selbst hatte immer ohne Ansprüche gelebt und übergenug
für
seine letzten Tage.
So
lebte er nun, fast plötzlich in einen großen Überfluß von Frieden, Ruhe
und
Muße versetzt.
*
Wie
er nun in seinen vielen
stillen Stunden so eines nach dem anderen der wohlgeordneten Blätter
seines
Lebens aufschlug und wandte, da wußte er denn, was ihm gefehlt hatte.
Und
eine große Unruhe ergriff ihn: die Unruhe der Menschen, die vor
Toresschluß
noch nachholen wollen, was sie versäumt haben, und doch nicht wissen,
wie das
möglich sein könnte. Verzweifelt kehrte er immer und immer wieder zu
der
Vergangenheit zurück: etwas mußte dort verschüttet liegen, etwas sich
unter
allem Staube der Jahre und Mühe finden lassen, das noch so viel Duft in
sich
trug, um damit die letzten Stunden zu überschütten.
Er
suchte und suchte und fand nichts.
Es
war in den ersten schönen Tagen des Jahres. Die Sonne lag an seinen
Fenstern, schmeichelnd und spähend, wie groß ihre Kraft bereits sei.
Da,
während er über dem Sichten alter Papiere saß und beim Durchblättern
eines
alten Kontobuches ein Verlustposten in seine Augen sprang, den er durch
eigene
Versäumnis verschuldet, da erinnerte er sich plötzlich:
Er
war ein junger Mann von fünfundzwanzig Jahren und auf acht Tage in
Leipzig,
in Geschäften. Es war die Zeit der letzten Karnevalbälle und er hatte
für den
Abend eine Verabredung mit einem Geschäftsfreunde getroffen, den
Maskenball im
Kristallpalast zu besuchen.
Aber
sein Freund kam nicht und er durchstreifte mißmutig das Gedränge, bis
er
sich an einen Tisch setzte, ein Glas Bockbier nach dem andern trank und
mit
sich zu Rat ging, ob er in sein Hotel und zu Bett gehen solle oder
nicht.
Da
erlöste ihn ein kleines Mädchen, das sich an seinen Tisch setzte, aus
seinen
Zweifeln.
Sie
waren bald einig, und nach fünf Tagen, als er abreisen sollte, war er
noch
so wenig mit seinem Geschäft fertig geworden, daß er weitere fünf Tage
bleiben
mußte.
Dann
nach weiteren fünf Tagen hatte er sein Geschäft immer noch nicht
erledigt,
aber keine Zeit mehr zu bleiben, so daß er abgereist war.
Dieses
kleine Mädchen war schuld an dem Verlust, dessen Zahl ihm jetzt, nach
fast vierzig Jahren, wieder in die Augen sprang.
Plötzlich
wußte er, daß er einmal in seinem Leben glücklich gewesen war, einmal
und niemals wieder so vollständig glücklich.
Er
ging auf und ab, auf und ab.
Seine
Unruhe wuchs und
wuchs. Eine Last lag auf ihm, von der er sich befreien mußte.
Alles
war so still um ihn, daß er das Ticken der Uhr im Nebenzimmer durch die
geschlossene Tür vernahm. Das wurde ihm unerträglich.
Aber
wo sollte er hin?
An
seinen Stammtisch konnte er bestenfalls erst in drei Stunden. Einen
seiner
Bekannten aufsuchen? Die waren alle bei ihrer Arbeit.
Sollte
er spazieren gehen? – Aber wohin?
Er
setzte sich an seinen Tisch und legte die Arme über die Papiere.
Langsam
sank seine Stirne nieder.
Nein,
es war nicht gut, allein zu sein . . .
Seine
Unruhe ließ nach.
Auf
einmal fuhr er auf. Er hatte ihr Lachen gehört, mit dem sie ihn rief:
das
leise, melodische Lachen, das er nicht vernommen in diesen vielen
Jahren, es
war ihr Lachen.
Hastig
sprang er auf.
Er
überlegte, überlegte, überlegte. Dann lief er durch alle Zimmer,
wühlend und
suchend: - einen Handkoffer und was er brauchte für wenige Tage.
Nach
einer halben Stunde war er fertig. Er verschloß die Wohnung, schrieb
ein
„Verreist“ an die Tafel seiner Tür und eilte hinunter.
Er
saß im Wagen und fuhr zum Bahnhof. Er wunderte sich nicht einmal, als
er
hörte, daß der nächste Zug nach Leipzig schon in einer halben Stunde
ging und
daß er fast gar nicht zu warten brauchte.
Bald
saß er in den Polstern des Coupés.
Sie
hatte ihn gerufen, gerufen mit ihrem Lachen, und er kam.
Am
Abend war er in Leipzig.
Während
der Fahrt flog
öfters ein seltsames Lächeln über sein Gesicht.
Er
fuhr, wie der Bräutigam seiner Braut, in einer fast zitternden
Erwartung und
einem übermäßigen Verlangen seinem Glücke entgegen, das die
Verschwiegenheit
noch vergrößerte.
Es
war schon spät, aber dennoch verließ er noch einmal das Hotel, welches
an
der Ringpromenade lag.
Es
war ein warmer und dunkler Abend.
Er
suche den Brühl. Er hatte nur eine Seitenstraße zu durchschreiten. Bald
war
er da. Dort erkannte er zum ersten Male das alte Leipzig wieder: die
alten
hohen Giebelhäuser mit ihren Geschäften bis in den fünften Stock
hinauf.
Langsam
schlenderte er die Straße hinunter.
Immer
aber dachte er an das eine: Morgen! – Morgen! –
Er
suchte sich eine Gosenschenke. Es war gar keine Müdigkeit, es war nur
Frische in ihm, und es war ihm gleich, daß es der Mitternacht zuging.
Als
er vor dem hohen Glase mit der gelben Flüssigkeit saß in der
holzgetäfelten,
alten Stube, in der jeder der langen Tische durch hohe Holzwände von
den
anderen getrennt war und so ein jeder für sich einen gemütlichen Winkel
bildete, überkam ihn ein unsägliches Wohlbehagen, und er paffte den
Rauch
seiner Zigarre von sich wie ein junger Fant.
Er
bekam Lust zu sprechen. Die echte Freude ist immer mitteilsam; der
echte
Schmerz nur, wenn der die Grenze der Verzweiflung überschritten hat,
und auch
dann nur in seltenen Fällen.
Es
sprach mit dem Kellner, dann mit einem dicken Herrn, der sich zu ihm an
den
Tisch setzte, eine ganze Stunde lang, bis er wirklich drei Gosen
getrunken
hatte.
Er
schlief vortrefflich in dem guten Bett des sauberen Hotels. In seinen
letzten Gedanken stand ihr Bild.
*
Als
er sich am Morgen erhob, fühlte er sich so jung, wie nicht seit Jahren.
Er aß
sein Frühstück mit Appetit und ergötzte sich an dem unveränderten
Aussehen eines sehr langweiligen, sehr konservativen Tagblattes und der
Stereotypie seiner kleinkrämerischen Inserate.
Aber
nicht lange. Denn alles trieb ihn hinaus: der Sonnenschein und ein
starkes, drängendes Gefühl, das noch ohne bestimmtes Ziel war.
Er
wußte eigentlich nicht, wohin er wollte. Und doch wußte er es.
So
ging er über die Promenade am alten Theater vorbei und vorbei an der
Kirche,
der Kirche mit dem hohen spitzen Turm – hieß sie nicht Thomaskirche? -,
bis er
an die alte Pleißenburg kam.
Hier
stand er still.
Wieder,
wie beim Entschlummern gestern abend, hob sich von dem verwischten
Grunde seiner Erinnerungen deutlich und greifbar ihr Bild, wie es sein
gewesen
war in einer Stunde – der letzten Stunde des Abschieds!
Hier
hatten sie gestanden, beschützt von den Schatten des Spätabends. Sie
hatten verabredet, sich hier zu trennen, nicht in dem Gedränge des
Bahnhofs.
Er
hatte ihr versprochen, noch in diesem Jahr wiederzukommen und selbst
geglaubt, was er sagte.
Er
hob ihr Gesichtchen in die Höhe, um es noch einmal zu sehen in all
seiner rührenden
Freundlichkeit, welche er noch mehr liebte als ihre Jugend und ihren
Liebreiz.
Dann
küßten sie sich, so lange, bis zwei halbtrunkende Studenten sie mit
spöttischen Zurufen störten.
-
Komm ganz sicher wieder, sagte sie noch leise in bittendem Tone, in
welchem,
sie of sprach.
Ganz
sicher, ganz sicher kam er wieder . . .
J e t
z t war er da - - -
Er
war weitergegangen in tiefem Sinnen.
Immer
neues fiel ihm ein, nun, wo er die Stätte wieder unter seinen Füssen
hatte.
Jetzt
wußte er, wohin er wollte und wo es war, daß sie auf ihn wartete.
Und
er riß sich auf.
Er
mußte zu ihr.
Er
wußte, daß er – um den kleinen Fluß entlang bis Connewitz gehen zu
können –
einen Teil der Stadt zu durchschreiten hatte. Dann kam er über Felder
und endlich
gelangte er zu einem Sommerbad, auf dessen Namen er sich vergeblich
besann.
Er
fragte mehrere Vorübergehende, indem er ihnen dies alles beschrieb.
Endlich
hatte er den Namen: das Fischerbad.
Nun
zeigte man ihm an dem
Faden dieses Namens weiter und weiter und er ging achtlosen Sinns
vorbei an den
neuen, großen Gebäuden und wunderte sich kaum darüber, wie weit die
Häuserreihen sich gedehnt.
Die
Gegend wurde ganz einsam, als er die letzten Straßen verlassen. Ein
Waldrand tauchte auf. Er erreichte ihn bald.
Verschlossen
und verschwiegen lag das Bad.
Eine
ernste, fast feierliche Stille herrschte rings umher.
Sie
wollte nicht recht zu seiner erwartungsvollen, glücklichen Stimmung und
dem
warmen Sonnenschein passen, so fand er.
Nun
wußte er wieder, wo er war und ohne zu zögern fand er den Pfad. Er
mußte
ihm folgen,
stets am Fluß entlang . . .
Es
war kühl unter den Bäumen. Das schwarze Wasser floß träge. Kein Mensch
begegnete ihm.
Als
er an der Wasserschänke war – einer am anderen Flußrande in ihn
hineingebauten
Bretterbude, wo es im Sommer Erfrischungen für die Bootfahrer gab
(jetzt lag
sie völlig verödet und verschlossen) -, fiel es ihm wieder ein: dort
hatten
auch sie an einem wundervollen Abend gesessen, mit jungen, lauten,
lachenden
Menschen, unter den blinkenden Sternen der Frühlingsnacht, unter der
Hut ihres
großen, seligen Glückes, das wenig Worte fand, sondern immer wieder nur
Händedrücke, zarte Berührungen und lange Küsse. Mit dem Boot waren sie
gekommen, mit dem Boot fuhren sie weiter . . .
Der
alte Herr wandte sich ab.
Er
ging nun schnell vorwärts, immer dem Weg nach, der ihn am Flusse
hinführte.
Er sah nicht einmal mehr auf.
Er
dachte daran, wie sie sich kennen gelernt hatten, damals an jenem
Abend, als
er im Stich gelassen war von seinem Freunde.
Der
große Trubel der Bockfeier im Kristall-Palast umraste ihn und mürrisch
schlich er von Tisch zu Tisch, bis er sich an den letzten endlich
hinsetzte, zu
dem sie gleich darauf kam, erhitzt vom Tanze und um sich auszuruhen für
einen
Augenblick.
Was
für ein liebes Gesicht sie hatte, die Kleine, sie gefiel ihm gleich,
auf
den ersten Blick, in allem: in der Art, wie sie den Fächer bewegte und
wie ihr
das einfache Kleid saß.
Sie
grüßte ihn mit einem Nicken, nicht unfreundlich, noch ganz
gleichgültig,
und sah ihn gleich an: unbefangen und unverhohlen-offen, ob sie wohl
zusammen
passen würden, aber ganz ohne Zudringlichkeit.
Sie
paßten sehr gut zusammen, wie es schien, denn an diesem Abend gingen
sie
nicht mehr auseinander und in dieser Nacht nicht, und in den nächsten
Tagen
nicht viel, nur wenn er fort mußte zu seinen Geschäften.
In
dieser Nacht! - - und ein anderes Bild stand vor ihm.
Gegen
Morgen zu schlug er die Augen auf. Ein Strahl des Mondes bebte auf dem
Bette.
Er
sah ihre kleine Hand geballt auf seiner nackten Brust liegen. Ihr
Gesichtchen hatte einen überaus reizenden Ausdruck der Befriedigung und
sie
atmete regelmäßig und leicht. Aus dem Hemd hervor, das sich verschoben
hatte,
sah eine kleine, feste, weiße Brust.
Er
konnte nicht anders, er
mußte sie küssen.
Sie
erwachte sofort und
lächelte ihn an. Von Müdigkeit überwältigt, schloß sie die Augen noch
einmal,
öffnete sie jedoch gleich wieder.
Er
empfand einen brennenden
Durst nach dem genossenen schweren Bier. Er tappte vergebens umher nach
einem
Glase.
- Ich
hole was, sagte sie, als sie es merkte.
Sie
sprang aus dem Bett und schlich auf ihren bloßen Füßen hinaus, um die
Wirtin nicht zu wecken.
Vor
ihm stehend, hielt sie das Glas voll Wasser an seine Lippen, und er
trank
durstig. Wieder lag das stumme, so innige Lächeln um ihren Mund . .
.
O,
wie er sie wieder sah, so vor sich stehen sah! - -
Als
sie wieder zu ihm kam, hatte der frische Hauch der Frühlingsnacht ihre
Glieder gekühlt und ihre Füße waren kalt. Mit leisem Flüstern schalt er
zärtlich ihren Leichtsinn, und unter seiner Umarmung fühlte er die
Wärme
wiederkehren in ihre zarten jungen Glieder. . .
Das
war ihre erste Nacht, und so war jede. – Er konnte nicht anders, er
gewann
sie lieb, die Kleine, „die nicht mit jedem ging“, wie sie ihm einmal
sagte,
aber doch mit jedem ging, der ihr gefiel.
*
Niemals
ein böses Wort, nie
eine Laune.
Mit
allem war sie zufrieden, was er ihr vorschlug: ob er sie hierhin führte
oder dorthin, es schien ihr alles gleich zu sein.
Das,
das war es, was er so an ihr liebte: diese unaufhörliche Güte, die sich
selbst nicht kannte und ihren Wert nicht schätzte, sondern gab und gab,
als ob
sich ihre Fülle nie erschöpfen könne. Wie wohl er sie Empfand, die er
zum
erstenmal eigentlich in seinem Leben an sich selbst erfuhr! –
Nie
eine habsüchtige Bitte, nie eine geschmacklose Redensart.
Sie
nahm, was er ihr gab, als ob es selbstverständlich gewesen wäre, aber
sie
nahm mit derselben stillen Freude das goldene Armband, wie die erste
Rose, die
er ihr kaufte an der Straßenecke, und beides schien für sie den
gleichen Wert
zu haben. Um dankbar zu sein war sie nicht abgeschmackt genug. Sie
ahnte wohl,
was sie ihm gab, wenn sie es auch nicht wußte.
Er
konnte mit ihr überall hingehen. Sie hatte den unauffälligen Geschmack
der
Einfachheit, der doch so ungemein selten ist. Sie war keine große Dame,
die in
den Restaurants mit großartigen Fächerbewegungen ihre Orders gab. Aber
sie war
auch durchaus nicht verlegen, wenn er sie in ein Lokal ersten Ranges
führte, wo
der Unerfahrene so leicht geblendet wird durch eine falsche und
berechnete
Pracht.
Sie
war durchaus nicht
dumm. Sie hatte nichts gelernt, aber ihr Gehirn hatte früh begonnen
nachzudenken in einer trostlosen Jugend, von welcher sie ihm einmal
widerstrebend
erzählte, als er sie fragte.
Armes,
kleines Ding! – Oft tat sie ihm leid, und er verdoppelte seine
Freundlichkeit. Aber sie war nicht unglücklich. Er irrte sich. Wenn man
sie nur
ließ, wie sie war, so stand ihre Natur in einem sicheren, gesunden
Gleichmaß,
auch ohne äußere Hilfe.
Wie
er sich ihrer erinnerte! – Und wie er sie mehr und mehr wieder liebte,
mit
jedem neuen Zuge ihres Wesens, der sich ihm wieder offenbarte! - -
*
Er
ging schneller. Der Wald lichtete sich schon auf dem gegenseitigen Ufer
und
weite Wiesen traten hervor, während sich der Weg auf dieser Seite noch
immer
unter den Stämmen dicht am Flusse hinzog.
Wie
es gekommen war damals, daß sie sich gerade hier draußen treffen
wollten,
daß sie ihm vorausgegangen, er in der Stadt geblieben war, wußte er
nicht mehr.
Aber
in keinem Moment hatte sich ihr Bild schärfer und, wie er jetzt in
einer
schmerzlichen Freude fühlte, unvergeßlicher eingeprägt als in diesem:
Als
er den Weg
heruntergekommen war, eilend und rot vor Erregung, spähend so weit wie
möglich
voraus, und sie sah in dem kleinen , halbleeren Garten der Wirtschaft,
ihm
entgegensehend mit Augen voll Erwartung, ihr Bier noch unberührt vor
sich, den
Strohhut in den Händen und diese selbst im Schoß gefaltet, und ein
wenig, nur
ein klein wenig – aber so selig! – lächelnd, als er nun kam.
Sie
sagte nichts, sie sagte überhaupt nicht viel, das kleine dumme Ding,
aber
sie hatte eine liebliche Art, ihre Freude auszudrücken: sie legte für
eine
Minute ihre Wange an seine Schultern, wie Hunde sie zeigen, wenn sie
schmeichelnd an der herabhängenden Hand ihrer Herren vorbeilaufen . . .
Und
an diesem Nachmittag, und an diesem Abend, und in dieser Nacht waren
sie so
unsäglich glücklich miteinander! - -
Sie
wartete auf ihn. Wenn er jetzt die Anlagen der großen Sommerwirtschaft
durchschritt und die Landstraße hinunterging bis zu der Brücke, dann
lag
rechts, dicht bei der Haltestelle der Pferdebahn, ein kleiner Garten,
eigentlich
eine große Laube, der zu der Wirtschaft auf der anderen Straßenseite
gehörte,
und in dieser Laube, an dem Tische, welcher zu hinterst stand, saß sie
- -: ihn
entgegenschauend in Sehnsucht und lächelnd, nur ein wenig, aber so
selig! - -
Er
zitterte.
Er
lief fast und seine Füße stolperten mehrere Male.
Das
war keine Erwartung mehr, die ihn jetzt trieb, es war die
fürchterlichste
innere Erregung.
Es
wurde ihm klar, was ihn hierher gebracht. Dies unklare Sehnen nach
etwas
Verlorenem, längst Gestorbenem und Begrabenem war wie die letzte
ringende
Verzweiflung, mit welcher der sinkende Schiffer das Land noch zu
erreichen
sucht, wie des Vogels letzter, erlahmender Versuch, mit gebrochener
Schwinge
sein Nest noch zu erreichen, wie der letzte, röchelnde Schrei eines
Herzen, das
zu lange geschwiegen, dessen letzte, blutige Tropfen in dem Sande der
Reue
spurlos versickern . . .
Und
wie er dies begriff, fiel auch der Schleier der seltsamen Täuschung, in
die
ihn die letzten zwanzig Stunden gehüllt: noch bevor ihn die
Wirklichkeit selbst
zerrissen, sank er, wie eine Staubwolke, welche der Wirbelwind
aufgetrieben.
So
plötzlich geschah es, daß er, wie von einem körperlichen Schmerze
getroffen,
stehen blieb.
War
er denn wahnsinnig? -
Was
ging mit ihm vor?-
Ah
nichts . . . Er hatte einfach einen Ausflug hierher gemacht, um
vergessene
Erinnerungen wieder aufzufrischen. Nun hatten diese eine solche Macht
über ihn
gewonnen . - -
Er
lachte krampfhaft. Er
war ein alter Narr. Wie dumm war das alles.
Aber
er fühlte, wie müde er geworden war. Jeder Schritt verursachte ihm
Mühe.
Dennoch ging er langsam weiter.
Nichts
mehr trieb ihn vorwärts und am liebsten wäre er umgekehrt. Aber er sah
schon die Häuser zwischen den Bäumen, während ihn die Anlagen umgaben.
Dann
war er auf der Chaussee. Aber er wußte es jetzt, dort – in der Laube,
dort
saßen höchstens ein paar schimpfende Flußknechte vor ihren Schnäpfen,
oder ein
schmieriger Kellner lungerte umher zwischen den öden Bänken, und die
Pferdebahnwagen verließen passagierlos ihre Haltestellen, denn diese
Sonne, die
ihm jetzt auf einmal so ärmlich schien, wen lockt die denn ins Freie? –
Er
war so ernüchtert, so
sehr, daß er jetzt, als er die Brücke erreichte, nur einen müden,
gleichgültigen
Blick über den Ort schweifen ließ, der ihm zeigte, daß alles so war,
wie er es
sich gedacht, nur noch schlimmer: kahl und rankenentblößt standen die
Latten
der Laube und bretterlos ragten die Pfosten der Bänke und Tische aus
dem Moder
des vorherbstlichen Laubes, welches seit Monaten vielleicht kein Fuß
mehr
berührt . . .
Eine
trostlose Öde und die Einsamkeit seines Herzens.
*
Die
Haltestelle der Pferdebahn lag so nahe, daß er das Ankommen und
Abfahren
der Wagen übersehen konnte.
Schwer
und müde stand er da, auf seinen Stock gestützt und seiner Umgebung
keinen Blick mehr schenkend, bis er nach wenigen Minuten einen Wagen
heranrasseln hörte.
Während
der langen Fahrt über ein weites und leeres Feld saß er still, vor sich
hinsehend. In der Stadt stieg er aus und nahm eine Droschke, um
schneller in
sein Hotel zu gelangen.
So
sehr störte ihn jetzt alles, daß er die Vorhänge vor die Fenster zog.
Und er
fühlte, wie wohl ihm die einsame Dunkelheit tat, in welcher er saß.
Der
Portier sprang heran und öffnete den Wagen. Der Gast stieg aus.
In
einem Nebensaal des Speisezimmers ließ er sich decken, neben dem
Fenster,
und an einem Ecktisch. Er saß hier ganz allein.
Draußen
vor dem Fenster wogte das Leben der Mittagsstunde bunt an ihm vorbei.
Er
bestellte sich nur eine Speise, und als sie kam, berührte er sie kaum.
Aber
sein Herz begehrte nach irgendeiner kleinen, armen, äußerlichen Freude,
und er
überlegte, wie der Vater überlegt, was er seinem kranken Kinde schenken
könne,
damit es einmal wieder lächle.
Der
Wein stand vor ihm, und er ergötzte sich einen Augenblick an der
feinen,
matten Farbe und dem Tanzen und Schweben der Perlen. Doch als er das
Glas zum
Munde hob, um es zu leeren, sah er plötzlich vor sich ein kleines
Gesicht mit
braunen, glücklichen Augen - - ihren Augen, wie sie ihn damals
angelacht, als
sie zusammen Champagner getrunken in der alten Weinstube – war es nicht
Äckerleins Keller gewesen? - - - und mit einer bitteren, hastigen
Gebärde
setzte er es zurück, daß der Wein verschüttete.
Verscheuchte
Freude, noch ehe sie sich äußern konnte! Wieder fragte er sich
angstvoll: Was war das? – Was war das? –
Und
erblaßt erhob er sich schwankend, den bestürzt herbeispringenden
Kellner
mit der Hand abwehrend, ging durch den Saal und die Treppe hinauf auf
sein
Zimmer. Dort saß er eine Weile auf dem Bettrand, bevor er klingelte.
Nach
einer Stunde fuhr er nach Berlin zurück.
Er
schlummerte etwas während der Fahrt.
Am
Abend saß er bereits
wieder an seinem Stammtisch. Keiner fragte ihn, wo er gestern gewesen.
Aber
allen fiel es in der nächsten Zeit auf, wie schnell er alterte. Sie
sprachen zuweilen darüber und meinten, die gewohnte Beschäftigung fehle
ihm.
Sie
irrten sich sämtlich.
Eine
Erinnerung, plötzlich erwacht und nicht mehr zu bannen, verzehrte
schnell
den Rest seines Lebens.
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