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04.2
Geschichten - John Henry Mackay
Zwischen den Zielen
1911
Quellenangabe
Ein
Abschied
Sorrento
1898
Sie hatte dreizehn Stunden
in einer todähnlichen Ermattung geschlafen, ohne Traum, ohne Bewußtsein
. . .
Es war die erste ruhige Nacht seit langen Wochen. Erst diese
schreckliche,
langwierige Krankheit, dann der langsame, qualvolle Tod, endlich diese
drei
Tage äußerer und innerer Aufregungen, die sie bis in die Träume der
Nächte
hinein verfolgten und ihren Schlummer störten, wie es seine Seufzer
getan
bisher . . .
Erst
als sich die Gruft geschlossen hatte, als die Leidtragenden sich
zerstreut, als sie allein war mit der gleich ihr ermatteten
Dienerschaft in dem
großen, stillen Hause, da fühlte sie, wie nötig ihr die Ruhe war, und
sie legte
sich hin, um dreizehn Stunden zu schlafen.
Als
sie erwachte, empfand sie zum erstenmale wieder seit langer Zeit das
Gefühl
der Stärke und der Willenskraft, das ihrer Natur verwachsen schien. Sie
schämte
sich dieses Gefühls. Es kam in diesem Augenblick, wo sie, wie sie
glaubte, noch
völlig aufgelöst in ihrem Schmerze und ihm noch ganz hingegeben sein
mußte,
fast ungelegen. Aber es ließ sich nicht verscheuchen und so schickte
sie sich
an, die Zügel ihres Lebens wieder in die Hände zu nehmen und sich
einzuüben in
die neue Rolle: die Witwe des großen Mannes, die sie fürderhin zu
spielen
hatte. Schwerer konnte sie nicht sein, als die bisher gespielte Gattin.
Nachdem
sie gefrühstückt
und mit dem alten Diener ihres Hauses die ersten Versuche besprochen
hatte, den
gestörten Gang ihres musterhaft geführten Haushaltes wieder ins rechte
Geleise
zu bringen, betrat sie zum ersten Male das Arbeitszimmer des Toten. Man
hatte
die Fenster geöffnet und das reine Licht eines stillen Herbstmorgens
war
hereingeströmt. Es war alles noch so, wie es gewesen war das letztemal,
bevor
er sich niederlegte, um nie mehr aufzustehen: drei Tage vor seinem
Tode. An
jenem Nachmittage hatte er noch selbst die Briefe der letzten Woche
geöffnet
und die Blätter lagen noch so auf dem Schreibtisch, wie seine müde Hand
sie
dort hingelegt. Was seitdem bis zu dem Abend, wo alles zu Ende war,
gekommen ,
hatte der Diener in der anderen Ecke aufgeschichtet – dort lag es
uneröffnet in
der Reihenfolge, wie es eingetroffen:
ein großer Stoß von Briefen und Zeitungen aller Art.
Ruhig
ging sie daran, eine Sendung nach der anderen zu öffnen und beiseite zu
legen: die Privatbriefe für sich, dann die Zeitungen, endlich die
geschäftlichen Zuschriften so verschiedener Art, diese gleichgültigen
Dinge, die
das Leben begleiten, noch einige Zeit weiterfließen und endlich langsam
verebben würden, mit der Erinnerung an ihn, den Toten, oder etwas
früher noch
als sie . . .
Während
sie die Privatbriefe las – ein, zwei oder drei seiner näheren Freunde,
die sich nach dem Stande der Krankheit erkundigten und alle die
Hoffnung auf
baldige Genesung ausdrückten, ein weiterer von einem glühenden
Bewunderer des
großen Künstlers, der ähnlich lautete – kam ihr in den Sinn, wie wenig
sie doch
in Wahrheit mit ihrem Manne geteilt hatte: keine einzige seiner
Freundschaften,
und wie wenig mit seinem Leben nach außen hin – sie kannte keinen
dieser
Freundesnamen, und nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, ihr einen
dieser
Briefe seiner Verehrer zu zeigen, deren er doch so viele erhalten haben
mußte.
Nur diese letzten Tropfen aus der Fülle einer einst zum Überfließen
gefüllten,
nun zertrümmerten Ruhmesschale rannen in ihre Hände, zufällig in die
ihren . .
.
Mechanisch
hatte sie über diesen Gedanken den nächsten Brief geöffnet. Sie las,
verstand erst nicht, las wieder und begriff:
Ich
lese in den Zeitungen, daß Du krank bist, und ich breche nach
fünfunddreißig Jahren ein Versprechen, das ich mir selbst gegeben. Denn
ich
schreibe Dir: noch einmal nach so langer Zeit und zum letzten Male.
Wer
ich bin? – Erinnere Dich, wen Du vor fünfunddreißig Jahren geliebt hast
und
Du weißt es.
Und
warum ich Dir schreibe? – O sei still: nur um noch einmal auf Deine
Lippen
ein Lächeln zu rufen, das Lächeln der Erinnerung an ein Glück, das Du
so wenig
vergessen hast, wie ich – vielleicht Dein letztes Lächeln! Nur darum
schreibe
ich Dir.
Denn
wie groß und wie reich du geworden bist, wie fern in dieser Stunde Dir
vielleicht schon liegt, was wir Leid und Freude nennen – so voll Sonne
kann
dein Zimmer nicht sein, als daß es nicht einem Strahl noch erlaubt sein
sollte,
hineinzuschlüpfen und liebkosend auf Deiner Stirn zu liegen für einen
letzten
Augenblick.
Aber
vielleicht bist Du, weil Du groß und reich bist, einsam und allein,
obwohl
von Menschen umgeben. Dann soll dieser eine Strahl noch einmal Dein
ganzes
Zimmer füllen mit Licht und Wärme: der Erinnerung an Deine erste Liebe,
die
vielleicht nicht Deine tiefste, aber sicherlich Deine glücklichste und
sorgloseste war, und um die niemand je gewußt, als Du und ich.
Ich
danke dir, mein Freund, für das Glück, das Du mir gegeben hast, und ich
denke dieses Glückes, wie man seiner gedenken sollte – als der
kostbarsten
Seltenheit dieses Lebens: mit Ehrfurcht! Was es unabweislich nach sich
zog an
Leid und Qual habe ich vergessen, und ruhig kann ich Dir heute sagen:
ich danke
Dir! –
Leb’
wohl! – mein Freund! Siehst Du uns nicht wieder, wie wir damals waren?
–
Das weiße Haus und den Rosengarten, den Sandweg am Weiher, auf dem wir
so oft
gingen? – Denkst Du nicht noch einmal an unsere ersten Küsse, und
kommen Worte
nicht lebendig wieder, die wir geflüstert? –
Gewiß!
– Wie ich es wieder für eine Stunde vergessen habe, daß ich alt
geworden
bin, so sollst Du es tun, und während Deine Hand dies Blatt zerknittert
und es
an der Kerze verkohlt, wirst Du lächeln, wie ich es gewollt! –
Leb’
wohl, mein Freund! – Leb’ wohl, Du Geliebter meiner Jugend! –
Als
die Lesende geendet, sah sie noch lange auf die Zeilen, die eine alte,
bereits zitternde Hand, und ein noch jugendliches Herz geschrieben.
Doch nichts
regte sich in ihr als eine maßlose Erbitterung und eine Art von Haß
gegen diese
alte, romantische Person. Als sie aber dann aufstand und den Brief in
kleine
Fetzen zerreißend hin- und herging, war auf ihrem kalten und leeren
Gesicht der
Ausdruck des Hasses dem der Freude gewichen, der gemeinen und kleinen
Freude
darüber, daß er wenigstens dieses letzte Glück nicht mehr genossen
hatte.
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