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04.2
Geschichten - John Henry Mackay
Zwischen den Zielen
1911
Quellenangabe
Das
graue Meer
Baden-Baden
1901
Er
kam von seinem Bureau im
Zentrum der Stadt, und ging mit seinen mühsamen Schritten die Linden
hinunter,
immer in der Mitte, und ohne sich umzusehen. Er war alt und grau, seine
Kleidung abgetragen, wenn auch sauber, und er sah aus wie ein Mann, der
mit den
Dingen des Lebens abgeschlossen hat – wie der aufgebrachte
Bureauarbeiter mit
neunzig Mark monatlich, und acht Tagen Urlaub im Jahre, der er war,
genau so
sah er aus.
In
der Nähe des Tores bog er zum Bürgersteig ab und trat an ein Fenster
der
großen Kunsthandlung.
Seit
vierzehn Tagen machte
er jeden Abend diesen Weg und Halt vor diesem Fenster.
Denn
eines Sonntags, als er aus dem Tiergarten gekommen war, sah er in
diesem
Fenster ein Bild, das er seitdem nicht mehr vergessen konnte, so daß er
diesen Tag
hierher kam, um es zu sehen. Den ganzen Tag über freute er sich auf
dieses
Wiedersehen.
Gleich,
als er sich heute abend dem Fenster näherte, sah er, daß es
verschwunden war. Er glaubte zuerst, es habe nur seine Auslage
gewechselt. Aber
es war wirklich fort. In dem einen hing eine große Schmiererei in Gelb
und
Grün. Das Gelbe war eine grasende Kuh und das Grün die Natur, in der
sie
breitbeinig stand. Aus den anderen schaukelte eine nackte Frauensperson
ihre
üppigen Fleischmassen von zwei lila Bäumen aus dem Beschauer ins
Gesicht, und
lächelte ihn dabei einladend an.
Das
Bild war fort.
Der
alte Mann wurde ganz unruhig. Er hatte sich so daran gewöhnt, dies Bild
zu
sehen, daß er nie auf den Gedanken gekommen war, es könne eines Abends
nicht
mehr da sein.
Denn
es war ihm eine
Erinnerung gewesen, eine der wenigen Erinnerungen seines Lebens, in
denen seine
alten, müden und resignierten Gedanken noch wohnen konnten . . .
-
Damals vor einem Menschenalter, als er noch jung und gesund, und daher
noch
voller Hoffnungen und Träume gewesen war, sich noch hinaussehnte in
Fernen, die
er nicht kannte, lud ihn ein Freund zum Besuch in seine Heimat an der
Ostsee
auf einige Wochen ein: in die alte Stadt mit den Winkelgassen und den
spitztürmigen Kirchen, den Giebeldächern und dem großen Hafen – in die
Stadt am
Meer. Dem tiefen, dem leuchtenden; dem grollenden, stürmenden und
klagenden,
dem stillen, dem grauen Meer, dem geheimnisvollen, nach dem er sich
sehnte, das
er nicht kannte, und das er nun sehen sollte von Angesicht zu Angesicht
. . .
Natürlich
war aus dem Besuch nichts geworden, wie nie irgend etwas in Erfüllung
gegangen war von allem, worauf er sich einst gefreut und wonach er sich
gesehnt
hatte, wie aus ihm selbst nie etwas geworden war.
An
den Traum, den er damals geträumt, den Traum vom ewigen Meere,
erinnerte ihn
ein Bild, das ein französischer Maler irgendwo dort unten auf einer
seiner
Studienfahrten in einer stillen Stunde gemalt haben mußte. Denn er
nannte es:
La mer grise – (zu Hause in einem verstaubten Diktionnaire fand der
Alte, was
das
hieß
-: das graue Meer) -. Einige Fußbreit gelben Sandes, ein paar Wellen,
die
müde darüber hinflossen, ein Stück Himmel darüber, ohne Farbe, ohne
Licht . . .
Das
Bild war fort.
In
der Tür der Kunsthandlung stand ein breitschultriger Portier in großer
Livree. Er sah gutmütig aus, so daß sich der Alte ein Herz faßte: „Ob
er ihm
nicht sagen könne, wo das Bild geblieben sei, das in diesen Wochen in
dem
mittleren Fenster gehangen habe?“ „Ja. Es sei mit den anderen
hineingenommen
worden und noch bis morgen ausgestellt, wo dann die neue Ausstellung
beginne.“
Nur
noch heute? Ja. Und in einer Stunde würde geschlossen.
Der
Alte dankte für die Auskunft und ging weiter. Er wollte nach Hause.
Aber
er kehrte wieder um.
Er
empfand eine so große
Sehnsucht, das Bild noch einmal zu sehen. Doch wie durfte er wohl daran
denken,
eine ganze Mark dafür auszugeben, um ein Bild zu sehen! Ebensogut
konnte ihm
einfallen in ein großes Restaurant zu gehen und sich warmes Abendbrot
zu
bestellen. Oder in einer Droschke nach Hause zu fahren, nur weil er
müde war.
Er
begann zu rechnen – jeden Groschen. Aber es ging nicht. Es ging nur,
wenn er
nicht rechnete.
Ein
plötzlicher Trotz
packte ihn und er ging geradewegs an dem Portier vorbei und trat ein.
Nochmals
erklärte er an der Kasse, um was es sich für ihn handele, und wieder
wurde ihm
versichert, das gesuchte Bild hinge an der hinteren Wand des letzten
Saales. Da
bezahlte er seine Mark. Es war kein Mensch mehr in den stillen Sälen.
Ein
Diener wies ihn zurecht und ließ ihn allein.
Der
späte Besucher setzte
sich auf das Sofa der Wand gegenüber. Die elektrischen Bogenlampen
warfen ihr
Licht grell und weiß auf das farbenbunte Wirrwarr, das dort – sinnlos
und frech
zusammengewürfelt – hing. Wie das eine das andere verdrängte und
erstickte so
war bei keinem Bilde die Möglichkeit gegeben, sich über seinen Rahmen
hinauszudenken, denn bei jedem Versuch dazu stieß oben und unten,
rechts wie
links der Blick in ein anderes, verwirrte, verstimmte und beleidigte.
Aber
was war das dem Alten, der nie Bilder gesehen, und der nur gekommen
war,
um ein einziges zu sehen, es sah und außer ihm nichts.
Dort
hing es. Er hatte es gleich erkannt, und nun saß er ihm gegenüber. Das
war
es, das war es wieder – sein Bild: ein Streifen Strand, über den müde
Wellen
hingehen, ein Stück Himmel darüber, grau und regenschwer – das war
alles.
Welches
Meer? – welcher Strand? – Er wußte es nicht, und es war ihm auch
gleichgültig. Gleichgültig wie die große, sichere Kunst, die es allein
wagen
konnte, eine Stimmung wie diese in ihrer grandiosen Einfachheit zu
fassen und
zu bannen.
Denn
er liebte dieses Bild
deshalb, weil es das Bild seines Lebens, seines eigenen, mühseligen,
eintönigen
und engen Lebens war, das es ihm zeigt. Denn so, ganz so, war sein
eigenes
Dasein: ein enger Raum, kaum groß genug, um hin und wieder her zu
gehen,
überdeckt von dem Stück Himmel, das er durch die trüben und immer
schmutzigen
Fenster seines Bureaus sah, und bespült, so lange er denken konnte,
immer und
immer nur von den kleinen, armseligen und müden Wellen seiner
freudlosen Tage,
von denen einer dem andern sich glich, wie diese Wellen sich glichen:
eintönig,
mutlos, geräuschlos und müde – letzte der letzten, deren letztes Ringen
keiner
sah, deren letzten Atem niemand vernahm . . .
Und
wie er jetzt wieder vor diesem Bilde saß, und wieder den Blick nicht
lassen
konnte von den blaugrauen Wogen, dem grauen Himmel ohne Wolkenspiel und
Sonne,
dem braunen Strande, da begriff er wohl seine geheimnisvolle Macht noch
immer,
aber zugleich auch legte sich auf ihn mit erdrückender Schwere die Last
seines
Lebens von dem er nun wußte, wie arm es gewesen war: die ganze endlose
Reihe
seiner abgearbeiteten Tage. Und eine Müdigkeit, so tief kam über ihn,
daß er
einschlief. –
Der
Diener ging durch die Säle, um die Lichter zu löschen, sah den einsamen
Besucher, der schlief, wollte grob werden, besann sich aber, daß er
einen
zahlenden Besucher vor sich hatte und weckte ihn höflich.
Der
Alte schlich hinaus, ohne noch einen Blick auf das Bild geworfen zu
haben.
Müde und hungrig, und von einer Erbitterung erfaßt, die ihm bisher
fremd gewesen
war, schalt er innerlich sich und seine Dummheit, sein Geld
fortzuwerfen, um
ein Bild zu sehen und dann vor ihm einzuschlafen.
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