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04.2
Walter
Rheiner
Kleine Prosa
Der Tod des Schwärmers
Gautier Fémin
I
Ich
will nicht behaupten, daß mein Freund
Gautier Fémin, Bureaubeamter im Hause Dreyfus & Cie. in Paris,
von jeher romantischer Schwärmer gewesen sei. Zu der Zeit aber, von der
ich spreche, war sein Fehler der, daß er zu leicht und ausschließlich
an »das Schöne« glaubte: ein Begriff, oder (wie er
mich stets verbesserte) ein Erlebnis, mit dem er keineswegs
irgendwelche
ethischen oder auch nur praktischen Ziele
verband. Ästhet also, betonte er des
öfteren, daß das Schöne einzig um seiner selbst willen dasei, fremd
jeder Tendenz, abgekehrt allem realen Betrieb, wenngleich mitten
in
ihm (einem aus
Schutt und Schmutz ausgegrabenen Torso gleich)
vollendet, manifestiert. – Dies war
sein zweiter
Irrtum
und,
wie er mir
(in der Stunde
der Erkenntnis noch
in unfreie Mystik verwirrt) kurz vor dem Ereignis sagte, die innere
Ursache
seines notwendigen Todes.
Es
ist
möglich, daß seine
damalige namenlos Geliebte
in der Stunde seiner vollkommenen Abkehr von ihr zu der
unschuldigen Kugel wurde,
die seinen Selbsttod
vollzog. – Dem
Studium der Musik zuliebe
aus Kristiania nach
Paris verpflanzt, hatte
Erid ihn im Salon
eines jungen Komponisten
kennengelernt: – ihn in die
Knie Geworfenen vor der mitternachtsonnenhaften Fjord-Landschaft ihres
Hauptes und der kühlen Fremdheit ihres Körpers. Nicht lange darauf sah
man
diese Frau, unter verschwenderischer Ignorierung ihres
Gatten wie ihres
bisherigen Freundes, Arm in
Arm
mit ihm durch
die farbigen Felder
abendlicher Boulevards
wallen,
schäumen
in den Licht-Kaskaden der Konzertsäle und
Theater, verschwimmen im rosa
Schein und Parfüm der Ateliers befreundeter
junger
Maler. Oft saßen wir
anderen, brennender Gespräche
voll, beisammen oder ergingen uns im Abend der Seine-Ufer, und er
fehlte,
Gautier Fémin, der Schwärmer. Später erfuhr ich
von ihm, daß er an solchen Tagen, in klingendem Schweigen oder
in leichten Gesprächen
(deren Worte aber,
golden und tief, wie in
einer Tropfstein-Höhle nach
innen fielen in
aller Stille) mehr
und mehr mit
Erid verschmolz. Es
gab Worte zwischen ihnen und kleine
Handlungen, aus denen
plötzlich ein Blick
erblühte,
der
ihn ihres tiefsten
Wesens Gemeinsamkeit erkennen ließ. Und in langen
Spaziergängen,
während sie süß und neu die Ebenen der
Waldsäume, der Teiche
und naher Firmamente
im Bois de Boulogne über sich rinnen fühlten, schuf er ihr
gemeinsames evangelisches Wort »Du-Dasein«, worin sie sich vollendeten.
Hingeraffter
Schöpfer maßlosen Idealismus’, wandelnd mit allen Schauern Geistes und
Körpers unter gemeinsamen Rundgewölben verinnerlichter Tage, erkannte
Gautier
nicht mehr Sinn und
Zweck
der nüchternen Zahlen
des Kontokorrents, des
vielsprachigen Textes ozeanischer
Geschäftsbriefe, der kargen
Befehle des Managers im Bureau von Dreyfus & Cie. Nach wiederholten
Fällen schlecht entschuldigten Fernbleibens von seiner Arbeit, nach
erster
mystischer Fahrt im Bette der Geliebten (. . . Weltenfahrzeug im
unendlichen gesichteerfüllten Raum! . . .) verschlafen und
verklärt am Pult hockend, fand er sich am
Abend singenden Mai-
Endes,
leise erschrocken, doch rasch besänftigt, an den Häusern der Rue de la
Banque zu den großen Boulevards
hintreibend: entlassen, letztes Gehalt in der Tasche.
II
Von
nun an wohnte er, unbekümmert um Hunger und Geldmangel, bei Coret im
dekadenten
Atelier, bei Lebref dem Studenten, bei mir: – grenzenlos ausgegossen in
Nichtstun, Liebe, Spaziergänge, Musik,
Cafés und Mond-Nächte
mit Erid. In
Haschisch- und Kokain-Räuschen (die ihm Kellner auf Montmartre
gegen gutes
Trinkgeld
verschafften)
träumte er bald fabelhafteste Seelen-Fusion mit ihr, ekstatisch
verflochtene
Zukunft, aufgerichtete Säule, eifelturmgleich,
vollendeter Einheit, Schönheit zweier Wesen; – bald wieder befielen ihn
Zweifel am soeben proklamierten Ideal, Experimentier-Projekte
nervösester
Überspannung, angstvolle Selbst-Analysen und
-Messungen an dem
selbsterbauten unmenschlich-ungeheuren Maßstab.
Nicht interessierten ihn unsere, seiner Freunde,
allerirdischste real-soziale und
politische Erörterungen
der Kunst. Wohl aber brachte er uns (wie vorher nie) den Wortlaut
seiner
hastenden, drängenden, wirren, ja verzweifelten Gespräche dieser Tage
mit Erid.
Sie, aufgestellt, Marmorbild ihm entkörpert fast, fremder
Tag um Tag:
– nicht mehr
wollte sie seine
Angst verstehen, sein Drängen
auf Verwirklichung des in Kulmination romantisch mystischer Ekstase
erlebten Gefühls »Du-Dasein«. In Netze
norwegischer Lieder einsamst
verstrickt, hinschleichend mit dem dekadenten Maler Coret, mit Lebref
dem Studenten,
zu neuen um Teich-Ufer lügnerisch gewobenen
Ekstasen; oft auch
daheim
nest-täubchenhaft mit ihrem Gatten (dem in Ehren wiedergefundenen)
angenehm und
sanft Tee schlürfend; ja oft erheitert und mütterlich lächelnd über
Gautiers eifrige Qual, doch auch oft prinzlich erzürnt über plötzliche
manchmal noch
ungewollte Zerstörung kümmerlicher Illusions-Reste durch sein schärfer
und
härter,
nackter, explosiver
fallendes Wort: – so ward er ihr gleichgültig erst, unbequem, störend,
feindlich
zuletzt. Und er, Gautier: allein sitzend oder (selten) fremdartig,
verloren und
verstört unter uns, mit einer fast anklagenden Stimme mühsamen Spottes
von seinem letzten Zusammensein mit
Erid erzählend, brachte schon
hier und da
Worte auf, wie:
Zerbinetta-Ariadne! Narzissa! Psycho-Prostitution!,
oder:
sie geht auf
den »inneren« Strich!
sie ist schon
wieder mit jemand
»du-da«! die Fusion
ist an ihrem Seelenklappenfehler gescheitert! . . . – Er gab die
Person auf, glaubte aber noch an die Sache. Und das noch dieser Person
bei sich insgeheim wieder abbittend, sie grüßend
auf der Straße, gelegentlich noch
mit ihr sprechend.
– Dann wieder
dumpf, kokaingesättigt, versunken, unberührt von anderem: –
selbst von plötzlich nahenden Wirbeln
politischer Komplikationen, die uns andere hinrissen
in erfüllte Abende,
treibende Menschenflüsse auf den
Boulevards Montmartre und
Poissonnière, illuminierte Telegramme, Abfahrt der Ausländer am
Ost- und
Nordbahnhof, plötzlich auf die Straßenzüge niederstürmende Trikoloren,
nächtliche Fackel-Demonstrationen im Blitz
des Eifelturms, Massenreden und -gesang in den rotbestrahlten Himmel.
III
Tagsüber:
Place de la Concorde, aufkreiselnd, bohrend in den blauen unendlich
hohen Himmel! Wiesen und Teiche
wallten blumig empor, spiegelten Seele und Stern: – vollendeter Sommer!
– – –
Dann wurde der Krieg erklärt. – Hektisch plötzlich am Horizont lagernde
Wolken- Landschaften, seltsam fremd-irres Sausen in Laternen
und
Bäumen
die Boulevards entlang,
verworren um Ecken
wehende schüttere Antlitze
gaben uns Ahnung vielfach überkreuzter wirrer Flächen
Blutes, von geborstenen
Hügeln herabwandelnd; Ahnung unermeßlichen Scheines jähe
aufflatternder Schiffe (. . . schreiende Fanfaren über den Ozean
. . .); Ahnung nie
erschauter Auren furchtbar aufsteigend an Wäldern
und Höhen, dröhnender Symphonien in gespenstisch sich ducken
den nächtigen Gebirgs-Pässen (. .
. zuckende Leucht-Strahlen verschmelzend
in Blut und Feuer zu – endlich! endlich! – tief geahnter
neuer Monstranz, sengendem Stirnreif Europas voll schon
erwählter herrlicherer Bruderschaft!
. . .) – Vor
kurzem noch höchst
unwahrscheinliche Kralle sterbend
geglaubten Militarismus’ (Moloch
nun mit schwellendem, alles fressendem
Bauch) erfaßte auch
uns alle: Coret
den dekadenten Maler, Lebref
den Studenten, Gautier
Fémin und mich . . .
Und
unter
den Bogen winselnder
Granaten, Hammer-Wirbel krampfgeschüttelter Geschütze im Rücken,
überschrägt an beiden Flanken von Trommel-Hufen vorstürmender
englischer Kavallerie
. . . »en avant!
en avant!« . . .)
geschah es, daß Gautier Fémin, fremden verwehten Antlitzes,
mir zu knirschte: »En avant! En avant! – Ihr habt tausendmal Recht! –
Ich bin nichts für diese Erde! – Notwendig mein
Tod! –
Machen wir Schluß!«
– Und während
wir einbrachen in die graue Phalanx
unserer Feinde, Blitz
der Zukunft vereinzelt aufblitzen sehend an unseren wie ihren Stirnen,
ein schlug in seine die (halluziniert norwegische) Kugel. Seine
willentlich exponierte
Silhouette, aufgereckt einen Augenblick, zerbrach
im
Getöse und Gebrüll,
– herausgeschleudert aus dem europäischen Feld. Gautier
Fémin
ist tot! – – –
________________________________________________________
Wir
aber
schreiten aus! En
avant! En avant!
Wir umkreisen die fünfzehn Fronten
der europäischen Völker:
Aviatiker, kristalline Scheinwerfer,
Säulen dröhnend im Sonnen-Aufgang! Zerrissenste irdischste
Dionyse,
sammeln wir uns an den
enormen Städte-Pfeilern rasender
Gewölbe Europas –: Hymne geballt
aus den
Finsternissen
des
Dukla-Passes, den Ozean-Schäumen des Skager-Rak, den
Gasen von Loos,
dem erdigen Blut
der Somme-Ufer und besudeltem Schutt des Do-berdo und des
Amselfeldes: – so wandeln wir, leuchtende
Windhose, über deine Ebenen,
Europa!
Schon
in
den Metropolen baun
sich neue Barrikaden
(. . . und wieder: die Untergrundbahnen brechen
herauf
und sprühen empor!
ein Bahnhof schwebt
in der Luft! .
. .), überwallt von
dem zehnfarbenen, firmamenthaften Banner unendlich
gewollter,
gewollter Zukunft! . . . Wir werden wiederkehren, Heimat
Europas über uns, Heimat grüßend von
Pol zu Pol! Hallende Türme gotischer Kathedralen neigen sich, die
Glocken schwingen, und, leise, schwellend
mehr und mehr, hebt an endlich brausender Gesang, Gesang über
verschüttetem Tod und Leben!!
(Felix
Stiemer in Freundschaft gewidmet)
oben
___________________________
Textgrundlage: "Kleine
Prosa", Walter Rheiner
BookOS
Logo 515: “Deat Rat Café" The Cocainbe Fiends, 1935
,
gemeinfrei
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