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Literatur


04.3

Walter Rheiner

KOKAIN

Novelle






 IX

   Eine Zeitlang saß er noch. Dann ergriff er seinen Hut, küßte ihr die Hand und ging.
 
   Im Treppenhaus achtete er darauf, daß ihn niemand sah. Seltsam war es,  hier  hinabzusteigen,  wo die Gespenster  ihr  Wesen mit ihm getrieben hatten. Er fühlte einen schalen Geschmack im Munde.

   Unten, vor der Haustür, begrüßte ihn ein klarer und heiterer Sonnenschein.

   Tobias streifte in das Gelände hinaus, ging ziellos durch  die  leeren Straßen. Nur selten begegnete ihm jemand zu dieser  frühen Morgenstunde.

   Da begannen die Glocken der umliegenden Kirchen zu schwingen, es war ein beständiges, lang hinhallendes Singen in der Luft, die feiner und durchsichtiger war, als er es je erlebt hatte.
 
   Über schön angelegte Plätze wanderte er und bewunderte die farbigen Häuser, die  unbegreiflich  ruhig,  wie  geschliffen,  sich  zu  diesem Himmel voll Gesang erhoben. Es war Sonntag. Wolken, klein und strahend weiß, segelten langsam hoch im Blauen dahin und sammelten sich im Hafen des Horizonts.

   Tobias kam zur Kaiserallee.
 
   Trams klingelten heran und jagten tobend an ihm vorbei, in einem Wirbel von Leben und Bewegung.

   Am Friedrich-Wilhelm-Platz strich Tobias um die rote Kirche herum. Er wollte hineingehen. Aber als er sich dem Eingang näherte, spürte er die Gegenwart von Menschen. Wieder befiel ihn diese düstere Scheu, diese aus Nacht und Qual geborene Angst, die ihn von allen Tischen, von allen Menschen und aus allen Räumen forttrieb.

   Nichts blieb ihm!

   Er blieb stehen und öffnete die Hand. Er schaute seine Hand an, lange und wie in tiefem Sinnen. Dann betrachtete er seinen schmierigen Anzug, die schadhaften Stiefel. Durch die Ärmel des hellen Jacketts drangen Blutflecke, auch die Hose zeigte Spuren.

   Als Schritte hinter ihm ertönten, fuhr er zusammen.

   Es war der Priester, der zur Kirche ging.

   Tobias ging langsam weiter, an den Vorgärten der Allee entlangschlendernd.

   Da saßen auf den kleinen Balkonen Vater, Mutter und Kinder und
frühstückten. Heiteres Lachen erklang, Tobias starrte verstohlen hin. Hunger regte sich neu - Da wußte er, daß er den Abend dieses Sonntags nicht erleben würde.

   Nicht mehr würde ihn der mächtige Dämon ergreifen und ihn in die Düsternis stoßen

   Er  hatte  nichts,  daran  er  sich  erfreuen  konnte.  Besitzlos,  verstoßen,
krank und verflucht war er. Kein Essen, kein Geld, keine Kleidung, keine Wohnung, keinen Freund und keinen Mitmenschen hatte er. Und nicht den Willen, nicht die Kraft, es zu erwerben.

   Das Gift nur, das sein Schicksal war, lagerte wie ein riesiges Tier über
der ganzen Stadt, über den Horizonten und über seinem Dasein: - unentrinnbar,
Charybdis, die ihn schlürfte
.

   Ausgefetzt würde er sich hinstehlen sein Leben lang, vom Morgen bis zum Abend, der ihm einst den Wahnsinn bringen würde.

   Er trat in einen Hausflur und zog den Revolver hervor. Er entsicherte ihn und überlegte den besten Schuß. Schließlich öffnete er den Mund und preßte die Mündung der Waffe an den Gaumen. So war es gut.

   Er drückte ab. Dröhnend hallte der Schuß durchs Haus. Tobias stürzte zusammen wie in einem
Kniefall




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Herbeigeeilte Hausbewohner fanden ihn tot. Teile seines Gehirns hingen überall, an den Wänden, am Geländer und auf den Stufen der Treppe.

   Draußen pfiffen die Vöglein, und eine Straßenbahn lärmte durch den Morgen hin, die Allee hinab, nach Berlin zu.


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Textgrundlage: „Kokain“, Novelle, Walter Rheiner.
Die Originalausgabe erschien mit sieben Zeichnungen von
Felixmüller im Dresdner Verlag von 1917, Dresden 1918

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Logo 514: Editorial cartoon showing Uncle Sam bothered by
Demon Rum and the various monstors of drug addition which follow him.
1919, gemeinfrei
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