Mein Leben bis zum Krieg
(Erstdruck
Berlin - Ernst
Rowohlt 1931)
Unsere Spiele
Daheim
Man
ließ uns viel ohne Aufsicht im Freien. Gott weiß, wo ich mich
umhertrieb. Aber
ich kam weit herum und sammelte verwundert kleine Erfahrungen.
Wenn
aber das Wetter oder ein Machtwort der Eltern uns zwang, zu Hause zu
bleiben,
dann waren wir schon selbständig genug, uns miteinander oder einzeln zu
beschäftigen. Es gab glücklicherweise damals in solchen
Bürgerkreisen noch nicht viel und nicht so vollkommenes Kinderspielzeug
wie
heute. Das wenige, was der Weihnachtsmann vereint mit Großmama und
einem
wohlhabenden Onkel uns brachten – etwa ein Tivoli-Spiel, eine
Gliederpuppe oder
ein Brummkreisel aus Blech – das ging heiter schnell entzwei. Erst das
Experimentieren mit den Trümmern schuf wahres, weil schöpferisches
Vergnügen.
Das Wrack des Tivoli-Spieles fuhr noch herrlich in der Badewanne zur
See. Die
Gliederpuppe (das ist jetzt pure Lüge von mir, aber es hätte so sein
können),
also die Gliederpuppe wurde, weil das meiste davon abhanden gekommen
war, immer
wieder von neuem begraben; mit Zeremonien, die nicht auf Erlebnis
basieren
konnten. Begräbnisspiel.
Und
in dem Kreisel (das ist nun wieder wirklich wahr), in dem Kreisel, den
ich
neugierig und mit großer Anstrengung oben geöffnet hatte und der
seitdem nicht
mehr brummte, kochte ich über einem Spiritusflämmchen: – Petroleum.
Wollte
wissen, was daraus entstünde. In mir steckte ein alchimistisches Genie,
vielleicht von einer weitverzweigten Verwandtschaft mit dem
Porzellanmacher
Böttger her. Der Kreisel erhitzte sich. Ich war im Begriff – – Leider
kam meine
Mutter hinzu, sah, dass ich dieses chemische Experiment auf dem
Fensterbrett
unter schön gebauschten Tüllgardinen vornahm. Und verdarb mir die ganze
Überraschung.
Meine
Bleisoldaten liebte ich heiß. Besonders die schlichten und die im
Kampfe
beschädigten, nie die prunkvollen. In den großen Schlachten, die ich
aufstellte
und aufführte, war ich ernsthaft darauf bedacht, gerecht zu
entscheiden. Ich
stellte die Parteien im Handgemenge durcheinander. Leicht explodierende
Bomben
(gebogene Korsettstäbchen aus Fischbein, mit einem Fädchen haardünn
gesichert)
verteilte ich unter sie, und dann warf ich meine Geschosse
(Stanniolkapseln)
blindlings von weitem hinein. Derart gerecht war auch meine Kampfübung,
in der
ich mich persönlich einsetzte. Auf meinem Spieltisch türmte ich hoch
und
kipplig mehrere Stühle übereinander. Dann stürmte ich mit geschlossenen
Augen,
wild um mich schlagend und aufheulend, in diesen gefährlichen Aufbau
hinein,
der über mir zusammenbrach. Aus diesem Feld der Ehre ging ich zwar
stets als
Sieger hervor, aber ich war stolz, wenn ich eine Beule oder gar eine
Schramme
davontrug. Und ich wusste, dass ich zum Beispiel mir ein Auge hätte
einstoßen
können. Ich schien zum Kriegsmann geboren.
Wie
harmlos dagegen waren die Spiele mit Ottilie.
»Klavierstunde.«
Das Klavier war die abgeräumte Marmorplatte eines Waschtisches. Darauf
hämmerten wir vierhändig mit unseren Fingern und schmetterten Melodien
dazu.
Aber das war nur Nebensache. Das Wichtige dabei war die Treppe, die zum
Waschtisch führte: alle Stühle, Tisch, Bank, Fußbänkchen in
geschwungener Linie
dahinführend aufgestellt. Diesen Weg zu beschreiten, war etwas, was uns
ergötzte. Warum wohl? Wo lag der Schlüssel zu dieser verrückten Idee?
Ganz
durchsichtig dagegen folgendes, oft stundenlang wiederholtes Spiel:
Ottilie
kauerte unter dem kleinen Tisch. Ich ging auf dem Tisch mit lauten
Trampelschritten hin und her. Ottilie klopfte an.
Ich:
»Herein!«
Ottilie
krabbelte unterm Tisch hervor: »Guten Tag, Herr Müller!«
Ich:
»Guten Tag, Frau Meier!«
Ottilie:
»Verzeihen Sie, ich muss mich beschweren über den furchtbaren Lärm.«
Ich:
»Verzeihen Sie, es soll nicht wieder vorkommen.«
Das
Spiel war aus, begann abermals, nur dass Ottilie jetzt auf der
Tischplatte
wohnte und ich darunter.
Künstlerische
Sachen begannen. Ich malte Bildchen, ich dichtete Verschen und Prosa.
Schließlich ein ganzes, illustriertes Büchlein zum Geburtstag meines
Vaters.
Wir
stellten nach Guckkastenerfahrung ein Panorama zusammen. Die
Petroleumlampe
durchleuchtete einen Hintergrund, auf den ich eine schöne
Polarlandschaft
gemalt hatte. Rosa, grün. Davor stand plastisch auf blauem Papier-Eis
und
Watteschnee ein kleiner Holzschlitten, der aus Holzstäbchen und
Bindfaden
angefertigt war. Ottilie arrangierte den Zuschauerraum, holte die
Eltern als
Publikum herbei und überreichte die Eintrittskarten. Dann klingelte sie
und zog
den Vorhang auf.
Meine
Eltern sprachen sich sehr anerkennend aus, und Vater schenkte uns ein
paar
Pfennige für Kirschen.
Solche
und ähnliche Theatervorstellungen gaben wir nun öfters. Da wir uns aber
immer
weniger Mühe dabei gaben, weil es uns mehr auf Vaters Kirschengeld
ankam, so
erklärte Papa eines Tages mit einer ironischen Bemerkung diesen
Erwerbszweig
ein für allemal für erloschen.
Wir verfielen auf ein ehrlicheres, wenn auch
mühevolleres Unternehmen. Unser Fußboden bestand aus gestrichenen
Bohlen. Mit
der Zeit waren zwischen den Bohlen Ritzen entstanden, in die sich Staub
und
Kleindreck verlor. Nun lagen wir drei Geschwister der Länge nach auf
dem Bauche
und kratzten und schnipsten mit Stricknadeln aus den Ritzen heraus, was
da seit
Jahren sich angesammelt hatte. Knöpfe, Stecknadeln, Nähnadeln,
Haarnadeln,
aufregend ein Pfennig, Perlen, hurra ein Groschen, vor allem aber viel
wolliger
und stäubender Schmutz.
Es
regte sich bei mir auch eine gewisse Neigung für Mystisches. Ich tat
vor meinen
Geschwistern geheimnisvoll mit einer Art von Hausgeist. Dieser Geist
war
äußerlich in einem Holzknauf auf einem bestimmten Pfosten meines Bettes
verkörpert, und er hieß Pinko. Was es für eine innere Bewandtnis mit
ihm hatte,
verriet ich nie. Ich verrate es auch jetzt nicht.
Joachim Ringelnatz
(Rechtschreibung der heutigen Schreibweise
leicht angepasst)
oben
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Bild : Herbstbaum im Winter, Schiele Egon - EJ:
1912,
Sammlung Leopold, Wien - Gemeinfrei
zeno.org
Geschichte:
Joachim Ringelnatz - Mein Leben
bis zum Krieg
Joachim
Ringelnatz: Das Gesamtwerk
in sieben Bänden. Band 6:
Mein Leben bis zum Kriege, Zürich 1994, S.
5-8. Gemeinfrei
Unsere Spiele Daheim
Bild 1:
Ringelnatz-Porträt, gemeinfrei
wikimedia
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