Mein Leben bis zum
Krieg
(Erstdruck Berlin - Ernst Rowohlt 1931)
Unsere Dienstmädchen
Vermutlich
hingen unsere
Dienstmädchen nicht sonderlich an uns Kindern, wenigstens nicht an mir.
Wir waren wild und unordentlich. Meine Ungezogenheiten, mein Trotz und
meine Hosen gaben den Dienstboden allzu häufig Anlasss zu Klagen.
Apropos
Hosen. Ich war so weit gediehen, dass meine Geschicklichkeit
und mein Schamgefühl es ablehnten, nir noch ferner die Hosenklappe von
Fanny schließen zu lassen. Aber der Besuch des Klos ohne sie war für
mich etwas Schreckliches. Denn ich glaubte an böse Geister, und gerade
in der Einsamkeit jener schmalen, düsteren Zelle empfand ich peinigende
Furcht. Während meines eiligen Aufenthaltes dort suchte ich das
unsichtbare Gespenst durch verlogen freundliche Worte oder Gedanken zu
beschwichtigen. In dem Moment aber, da ich das Lokal verlassen und die
Sicherheit des Korridors erreicht hatte, schmetterte ich die Tür hinter
mir zu und rief dem bösen Geist noch ein höhnisches Schimpfwort nach.
Immer das gleiche: "Dumm bist du!"
Das
fiel meinen Eltern mit der Zeit auf. Sie lockten die Bewandtnis aus
mir heraus. Das Klosett hieß von da ab bei uns der "Dummbiste".
Tante
Kunze hatte wieder, wie alljährlich, zum Nikolaus drei
Wachsstöcke und drei Pfefferkuchen für uns drei Kinder gesandt. In der
Nacht wachte ich auf und sah ein Gespenst."Ottolie!" rief ich leise und
entsetzt.
"Siehst du
das Gespenst?"
Ottilie
antwortete nicht. Aber ich sah das Gespenst deutlich trotz der
Dunkelheit. Es
war weiß und wallte nach rechts und dann nach links und dann in der
Richtung
nach Ottiliens Bett. Ich schloss die Augen vor Angst. Als ich sie
wieder
öffnete, war die böse Erscheinung verschwunden.
»Ottilie«,
rief ich nun lauter, »hast du das Gespenst gesehen?«
Ottilie
sagte nach einiger Zeit flüsternd: »Ja! Ich habe Angst. Sei ganz still!«
Am
nächsten Morgen fehlte auf meinem Teller der Pfefferkuchen von Tante
Kunze.
Tür
zuschmettern! – Ich war wirklich ein besonders trotziger Junge, zumal
meiner
Mutter gegenüber, vielleicht weil die auch solch harten Kopf besaß.
Hatte ich
mich über sie geärgert, weil sie einen Ärger über mich ausgelassen
hatte, so
ging ich plötzlich aus dem Zimmer und schmetterte die Tür hinter mir
zu. Ich
hörte die kleine nervöse Person bei dem Knall aufschreien. Ich wusste:
Jetzt
kommt sie. Ich wartete auf dem Gang. Sie stürzte heraus, griff nach
Vaters
resolutem Ziegenhainer und schlug damit wütend hinten auf mich ein. Ich
stand
steif, stolz, unbeweglich still, wie ein Indianer aus dem herrlichen
Lederstrumpf. Bis Mutter von mir abließ. Ich glaube, sie lächelte, denn
sie
hatte wohl etwas Sinn für Humor oder mindestens für Komik. Heute fahre
ich
selber aus der Haut, wenn ich Türen schmettern höre.
Einen
gleichen passiven männlichen Sieg glaubte ich davonzutragen, wenn ich
nach
einem Gekränktsein mittags schweigsam zwar Suppe und Fleischgericht
mitaß, aber
dann, als das Dessert aufgetischt wurde, mich erhob und, auf diesen
leckersten
Teil des Menüs verzichtend, die Stube verließ. Meine Eltern reagierten
darauf
sehr vernünftig, sie lachten nur.
Anna
sang, wenn meine Eltern abwesend waren, ganz hingegeben. Sie sang so
laut, dass
im oberen und unteren Stockwerk geklopft wurde. Sie sang nach der
Melodie »Seht
ihr drei Rosse vor dem Wagen« ein Lied mit dem ergreifenden Refrain:
Ich
will mein Haupt auf Schienen legen,
Dieweil
der Zug von Breslau kam.
Eins
von unseren Mädchen war mit einem Droschkenkutscher verlobt. Als dieser
einmal
mit seiner Braut und einer Innungsgesellschaft einen Ausflug unternahm,
erhielt
ich die Erlaubnis mitzureisen.
Ich
werde in meinen Schilderungen nicht korrekt chronologisch bleiben
können,
sondern manchmal vorgreifen oder zurückgreifen. Aber diese Fahrt von
etwa 15
Droschken, besetzt mit Droschkenkutscherbräuten, muss weit
zurückliegen. Das
Dienstmädchen hatte mich wohl mitgenommen, um meinen Eltern eine
Gefälligkeit zu
erweisen, denn die waren für die damalige Zeit immer herzlich und
verständnisvoll dem Personal gegenüber. Bei der Droschkenfahrt war ich
blödes
Kind wahrscheinlich der frei vergnügten, primitiven Gesellschaft etwas
im Wege.
Mir klingt von dieser Partie noch eine Bemerkung nach, ungefähr so:
»Gebt dem
Bengel recht viel Kuchen zu fressen, der ist Feines gewöhnt.« – Das
stimmte gar
nicht einmal. Wir kriegten alltags zum Kaffee keine Butter aufs Brot.
Man
hielt uns an, im Haushalt und sonstens mitzuhelfen. Ich durfte sogar
manchmal
im Atelier meines Vaters mittun. Papa war damals Musterzeichner. Er
entwarf
Muster zu Tapeten. Und er hatte zwei Gehilfen. Er hätte damals mehr
haben
können, denn es war seine Glanzzeit. Aber er war nicht der Mann, das
pekuniär
auszuwerten. Wir hatten damals sogar zwei Dienstmädchen.
Die
Gehilfen waren über das Selbstverständliche der Situation hinaus sehr
lieb zu
mir. Einer ließ mich stets auf seinen Schultern reiten, wenn er vom
Atelier
über den Hof nach unsrer Wohnung ging. Er erlaubte mir auch, mich vor
seiner
Staffelei bäuchlings auf einen Drehstuhl zu legen. Ich spielte dann
Karussell,
indem ich mich so im Kreise drehen ließ.
Sehr
geehrt fühlte ich mich, wenn ich die Linien eines auf Pauspapier
gezeichneten
Musters mit Stecknadeln nachstechen durfte. Zu Küchenarbeiten brachte
uns
Mutter, indem sie an unseren Ehrgeiz appellierte oder uns als Belohnung
Topfschleckereien verhieß. Sie war eine hervorragend gute Köchin, die
nicht nur
ihre heimatliche, ostpreußische Küche beherrschte. Wir halfen in der
Küche
begeistert. Wir kauften ein. Wir wiegten Petersilie. Wir wuschen auf,
trockneten ab. Wir putzten, schabten, schuppten, schälten, weinten über
geriebenen Zwiebeln, schnitten uns in den Daumen und lernten allerhand.
Ob wir
dabei die Dienstmädchen entlasteten oder ihnen hinderlich waren, weiß
ich
nicht.
Ich
weiß vieles nicht mehr. Es scheint mir ein Gluck zu sein, wenn man
vieles
vergisst. Denn sonst wurde man vor Erlebtem nichts Neues mehr erleben.
Berta
war ein schönes, sehr energisches Mädchen. Ich glaube, ihretwegen gab
es
zwischen meinen Eltern eine Zeit lang heftige Auseinandersetzungen. Die
wurden
zwar im Nebenzimmer geführt. Aber wir hörten aus dem Unverständlichen
doch das
Wesentliche heraus und waren über dieses, wenn auch nur kurze
Zerwürfnis
zwischen Vater und Mutter sehr unglücklich. Ich besinne mich, dass ich
dazukam,
als meine Mutter sich aus dem Fenster stürzen wollte, und dass ich
aufschluchzend
ihre Füße umklammerte.
Berta
wurde entlassen. Später machte sie sich als Löwenbändigerin einen
großen Namen.
Der Höhepunkt ihrer Schaunummer war, wenn sie ihren Kopf in den Rachen
eines
Löwen hielt. Dabei soll sie eines Tages umgekommen sein. Cläre Heliot
nannte
sie sich als Artistin. Sie oder ein anderes robustes Dienstmädchen war
es, der
ich einmal, als meine Eltern nicht daheim waren, plötzlich an die Beine
griff.
Meine Männlichkeit war erwacht und brachte mir sofort eine schallende
Ohrfeige
ein.
oben
Des
Jahres Feste
Aber
das ist ja überall nahezu das gleiche. Zum Geburtstag wurde man
beschenkt und
genoß besondere Nachsicht, besondere Aufmerksamkeiten.
Ostern
legte der Osterhase, legten später Eltern, Tanten und Großmama Eier in
immer
größeren Formaten.
Pfingsten
spielte keine sonderliche Rolle, da mein Vater ein Mann in freiem Beruf
war.
Der
Weihnachtsbescherung gingen besondere intime, überlieferte oder
eingeführte
Gebrauche, Scherzchen und Sentimentalitäten voraus, und ebensolche
familiär
geheiligte Brauche folgten. Es liegt mir fern, mich darüber lustig zu
machen.
Ich will nur hier auf das in allen Variationen so oft geschilderte
Thema nicht
weiter eingehen. Weihnachten war auch uns Kindern in jedem Jahr das
Fest der
Seligkeit, der Herzlichkeit, der Anhänglichkeit, des Reichtums, des
Glücks.
Und
zu Silvester kriegten wir Pfannkuchen, durften Punsch trinken und um
Mitternacht leicht angeheitert am offenen Fenster lauschen. Draußen,
drunten
läuteten die Glocken, rief man »Prost Neujahr«, knallte Feuerwerk. Auch
wir
durften einmal mutig, als wär's was, aus dem Fenster brüllen: »Prost
Neujahr!«
Joachim
Ringelnatz
(Rechtschreibung
der heutigen Rechtschreibung angepasst)
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Bild : Herbstbaum im Winter, Schiele Egon - EJ:
1912,
Sammlung Leopold, Wien - Gemeinfrei
zeno.org
Geschichte:
Joachim Ringelnatz - Mein Leben
bis zum Krieg
Joachim
Ringelnatz: Das Gesamtwerk
in sieben Bänden. Band 6:
Mein Leben bis zum Kriege, Zürich 1994, S.
5-8. Gemeinfrei
Unsere Dienstmädchen
Des Jahres Feste
Bild 1:
Ringelnatz-Porträt, gemeinfrei
wikimedia
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