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Literatur


04.08




Gedichte - Tagesverlauf

Nacht
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 Die Nacht

Rings um ruhet die Stadt. Still wird die erleuchtete Gasse,
Und mit Fackeln geschmückt rauschen die Wagen hinweg.
Satt gehn heim von Freuden des Tags zu ruhen, die Menschen,
Und Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt
Wolzufrieden zu Haus; leer steht von Trauben und Blumen,
Und von Werken der Hand ruht der geschäftige Markt.
Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten; vielleicht, daß
Dort ein Liebendes spielt oder ein einsamer Mann
Ferner Freunde gedenkt und der Jugendzeit; und die Brunnen
Immerquillend und frisch rauschen an duftendem Beet.
Still in dämmriger Luft ertönen geläutete Glocken,
 Und der Stunden gedenk rufet ein Wächter die Zahl.
Jetzt auch kommet ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf,
 Sieh! und das Ebenbild unserer Erde, der Mond,
Kommet geheim nun auch, die schwärmerische, die Nacht kommt,
Voll mit Sternen, und wol wenig bekümmert um uns
Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen
Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf.

Friedrich Hölderlin

 Romanze zur Nacht

Einsamer unterm Sternenzelt
Geht durch die stille Mitternacht.
Der Knab aus Träumen wirr erwacht,
Sein Antlitz grau im Mond verfällt.

Die Närrin weint mit offnem Haar
Am Fenster, das vergittert starrt.
Im Teich vorbei auf süßer Fahrt
Ziehn Liebende sehr wunderbar.

Der Mörder lächelt bleich im Wein,
Die Kranken Todesgrausen packt.
Die Nonne betet wund und nackt
Vor des Heilands Kreuzespein.

Die Mutter leis’ im Schlafe singt.
Sehr friedlich schaut zur Nacht das Kind
Mit Augen, die ganz wahrhaft sind.
Im Hurenhaus Gelächter klingt.

Beim Talglicht drunt’ im Kellerloch
Der Tote malt mit weißer Hand
Ein grinsend Schweigen an die Wand.
Der Schläfer flüstert immer noch.

Georg Trakl

 Menschen bei Nacht

Die Nächte sind nicht für die Menge gemacht.
Von deinem Nachbar trennt dich die Nacht
und du sollst ihn nicht suchen trotzdem.
Und machst du nachts deine Stube licht,
um Menschen zu schauen ins Angesicht,
so mußt du bedenken: wem.

Die Menschen sind furchtbar vom Licht entstellt,
das von ihren Gesichtern träuft,
und haben sie nachts sich zusammengesellt,
so schaust du eine wankende Welt
durcheinandergehäuft.
Auf ihren Stirnen hat gelber Schein
alle Gedanken verdrängt,
in ihren Blicken flackert der Wein,
an ihren Händen hängt
die schwere Gebärde, mit der sie sich
bei ihren Gesprächen verstehn;
und dabei sagen sie: Ich und Ich
und meinen: Irgendwen.

Rainer Maria Rilke

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Textgrundlage: „Die Nacht“, Friedrich Hölderlin
aus: Leo Freiherrn von Seckendorf (Hrsg.) - Musenalmanach für das Jahr 1807;
Regensburg, in der Montag- und Weißischen Buchhandlung; S. 90 - 91
Herausgeber:    Leo Freiherr von Seckendorf, 1. Auflage, ED: 1807
Erscheinungsort: Montag- und Weißischen Buchhandlung; Regensburg
T
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Textgrundlage: „Romanze zur Nacht“, Georg Trakl, aus Gedichte,
S. 9, 1. Auflage, ED: 1913, Verlag: Kurt Wolff, EO: Leipzig
Quelle: Der Jüngste Tag. Die Bücherei einer Epoche. Herausgegeben
von Heinz Schöffler. Faksimile-Ausgabe. Band 1. Frankfurt am Main:
Societäts-Verlag 1981
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Textgrundlage:  "Menschen bei Nacht", Rainer Maria Rilke, aus: Das Buch der Bilder
1. Buch Teil 2, S. 39, Auflage:  Zweite sehr vermehrte Auflage, ED: 1906
Verlag:    Axel Junker Verlag, EO: Berlin / Leipzig, Stuttgart
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Logo 325:  „Abendstimmung“,  nons 77, S. 15, aus der kostenlosen
Bilddatenbank piqs.de
Lizenz: CC-Lizenz (BY 2.0)
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