Inhalt
- Tagesverlauf
Morgen
- Prosa
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Neulich
habe ich einen Hund gesehen – der ging ins Geschäft. Es war eine Art
gestopfter Sofarolle, mit langen Felltroddeln als Behang, und er
wackelte die Leipziger Straße zu Berlin herunter; ganz ernsthaft ging
er da und sah nicht links noch rechts und beroch nichts, und etwas
anderes tat er schon gar nicht. Er ging ganz zweifellos ins Geschäft.
Und
wie hätte er das auch nicht tun sollen? Alle um ihn taten es.
Da
rauschte der Strom der Insgeschäftgeher durch die Stadt. Morgen für
Morgen taten sie so. Sie trotteten dahin, sie gingen zum Heiligsten, wo
der Deutsche hat: zur Arbeit. Der Hund hatte da eigentlich nichts zu
suchen – aber wenn auch er zur Arbeit ging, so sei er willkommen!
Es
saßen zwei ernste Männer in der Bahn und sahen, rauchend, satt, rasiert
und durchaus zufrieden, durch die Glasscheiben. Man wünscht sich in
solchen Augenblicken ein Wunder herbei, etwa, daß dem Polizeisoldaten
an der Ecke Luftballons aus dem Helm steigen, nur damit jene ein Mal
Maul und Nase aufsperrten! Da fuhr die Bahn an einem Tennisplatz
vorüber. Die güldene Sonne spielte auf den hellgelben Flächen – es war
strahlendes Wetter, viel zu schön für Berlin. Und einer der ernsten
Männer murrte: „Haben auch nichts zu tun, sehen Sie mal! Morgens um
acht Uhr Tennis spielen! Sollten auch lieber ins Geschäft gehen –!“
Ja,
das sollten sie. Denn für die Arbeit ist der Mensch auf der Welt, für
die ernste Arbeit, die wo den ganzen Mann [12] ausfüllt. Ob sie einen
Sinn hat, ob sie schadet oder nützt, ob sie Vergnügen macht („Arbeet
soll Vajniejen machen? Ihnen piekt er woll?“) –: das ist alles ganz
gleich. Es muß eine Arbeit sein. Und man muß morgens hingehen können.
Sonst hat das Leben keinen Zweck.
Und
stockt einmal der ganze Betrieb, streiken die Eisenbahner oder ist gar
Feiertag: dann sitzen sie herum und wissen nicht recht, was sie mit
sich anfangen sollen. Drin ist nichts in ihnen, und draußen ist auch
nichts: also was soll es? Es soll wohl gar nichts …
Und
dann laufen sie umher wie Schüler, denen versehentlich eine Stunde
ausgefallen ist – nach Hause gehen kann man nicht, und zum Spaßen ist
man nicht aufgelegt … Sie dösen und warten. Auf den nächsten
Arbeitstag. Daran, unter anderm, ist die deutsche Revolution
gescheitert: sie hatten keine Zeit, Revolution zu machen, denn sie
gingen ins Geschäft.
Wobei
betont sein mag, daß man auch im Sport dösen kann, der augenblicklich
wie das Kartenspiel betrieben wird: fein nach Regeln und hervorragend
stumpfsinnig. Aber schließlich ist es immer noch besser, zu trainieren,
als im schwarzen Talar Unfug zu treiben …
Ja,
sie gehen ins Geschäft. „Was für ein Geschäft treibt ihr?“ – „Wir
treiben keins, Herr. Es treibt uns.“
Der
Hund sprang nicht. Man hüpft nicht auf den Straßen. Die Straße dient –
wir wissen schon. Und das verlockende, niedrig hängende patriotische
Plakat … der Hund ließ es außer acht.
Er
ging ins Geschäft.
Kurt Tucholsky
oben
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Textgrundlage:
„Morgens um acht“, Kurt Tucholsky, aus
Das Lächeln der Mona Lisa, S. 11-12, ED: 1929, Verlag: Rowohldt,
EO: Berlin, Quelle: ULB Düsseldorf und Scans auf
Commons
Erstdruck in: Weltbühne, 28. Juni 1923
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445: „Paris, Sonnenaufgang“,
Lesser Ury, 1928, gemeinfrei
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