Tagesverlauf
Morgen - Prosa
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Die
Morgenröthe
Eine
Schar fröhlicher Mädchen beging mit Tänzen und Lobgesängen das Fest der
Aurora. „Schönste, seligste Göttin, sangen sie, du in Rosengestalt, in
ewiger Jugendschönheit. Täglich erwachest du neu, gebadet im Quell des
Genusses und der erquickenden Blüte!“ – Als eben, da die Sonne aufging,
Aurora ihr Gespann zu ihnen lenkte und vor ihnen stand, die schönste,
aber nicht die glücklichste aller Göttinnen. Tränen waren in ihren
Augen, und der Duft des Schleiers, den sie von der Erde gezogen hatte,
lag wie eine feuchte Wolke vor ihrem leuchtenden Rosenantlitz.
Kinder,
sprach sie, die ihr mich mit Lobgesängen ehret, eure jugendliche
Unschuld hat mich hergezogen, euch mich wie ich bin zu zeigen. Ob ich
schön sei? sehet ihr selbst; ob ich glücklich sei? mögen euch die
Tränen sagen, die ich täglich in den Schoß meiner Schwester Flora
weine. Unbedachtsam in meiner Jugend, vermählte ich mich jenem alten
Titon, aus dessen Armen ihr mich täglich so früh emporeilen sehet. Ihm
und mir zur Strafe ward ihm seine graue Unsterblichkeit ohne Jugend,
die auch mir so lange ich bei ihm bin, Glanz und Schönheit raubet.
Deswegen eile ich so früh an mein kurzes Geschäft die Schatten zu
verjagen, und verberge mich tagsüber im Strahl der Sonne, bis ich von
ihm, so bald er mich wieder erblickt, mit Tränen und Schamröte in sein
graues Bette hinuntergezogen werde. Spiegelt euch, ihr Mädchen, an
meinem Beispiel, und glaubt nicht, dass die schönste von euch auch die
glücklichste sein müsse, wenn sie nicht auch so weise als schön ist und
sich einen ihr gleichen Gatten zur Glückseligkeit wählet.
Aurora
verschwand; aber ihr Bild glänzte fortan den Mädchen in jeder Träne des
Taues wieder. Sie priesen sie nicht mehr als die glücklichste der
Göttinnen, weil sie die schönste sei, und wurden weise durch ihr
Exempel.
Gottfried
Herder
oben
Aurora
Aurora
beklagte sich unter den Göttern, dass sie, die von den Menschen so viel
gelobt, von ihnen so wenig geliebt und besucht werde; am wenigsten aber
von denen, die sie am meisten besängen und priesen. „Gräme dich nicht
über dein Schicksal, sprach die Göttin der Weisheit, gehets mir anders?
Und
dann, fuhr sie fort, siehe die an, die dich versäumen, und mit welcher
Nebenbuhlerin sie dich vertauschen. Blick auf sie, wenn du
vorbeifährst, wie sie in den Armen der Schlaftrunkenheit liegen und
modern an Leib und Seele.
Ja
hast du nicht Freunde, hast du nicht Anbeter genug? Die ganze Schöpfung
feiert dir: alle Blumen erwachen, und kleiden sich mit deinem
Purpurglanz in neue bräutliche Schönheit. Das Chor der Vögel
bewillkommt dich: jedes sinnet auf neue Weisen, deine flüchtige
Gegenwart zu vergnügen. Der fleißige Landmann, der arbeitsame Weise
versäumen dich nie: sie trinken aus dem Kelch, den du ihnen darbeutst,
Gesundheit und Stärke, Ruhe und Leben; doppelt vergnügt, dass sie dich
ungestört genießen, ununterbrochen von jener geschwätzigen Schar
schlafender Toren. Hältst du es für kein Glück, unentweiht genossen und
geliebt zu werden? Es ist das höchste Glück der Liebe bei Göttern und
Menschen.
Aurora
errötete über ihre unbedachte Klage; und jede Schöne wünsche sich ihr
Glück, die ihr gleich ist an Reinigkeit und Unschuld.
Gottfried
Herder
oben
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Textgrundlage: „Die Morgenröthe“
Johann Gottfried Herder,
aus: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung, S. 167-168, ED: 1785,
Verlag Carl Wilhelm Ettinger EO: Gotha
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Textgrundlage:
„Aurora“, Johann Gottfried Herder
aus: Zerstreute Blätter. Erste Sammlung. ED;1785
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger, EO: Gotha
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445: „Paris,
Sonnenaufgang“, Lesser Ury,
1928, gemeinfrei
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