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Literatur



04.08



Tagesverlauf

Morgen - Prosa

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 Die Morgenröthe


Eine Schar fröhlicher Mädchen beging mit Tänzen und Lobgesängen das Fest der Aurora. „Schönste, seligste Göttin, sangen sie, du in Rosengestalt, in ewiger Jugendschönheit. Täglich erwachest du neu, gebadet im Quell des Genusses und der erquickenden Blüte!“ – Als eben, da die Sonne aufging, Aurora ihr Gespann zu ihnen lenkte und vor ihnen stand, die schönste, aber nicht die glücklichste aller Göttinnen. Tränen waren in ihren Augen, und der Duft des Schleiers, den sie von der Erde gezogen hatte, lag wie eine feuchte Wolke vor ihrem leuchtenden Rosenantlitz.

Kinder, sprach sie, die ihr mich mit Lobgesängen ehret, eure jugendliche Unschuld hat mich hergezogen, euch mich wie ich bin zu zeigen. Ob ich schön sei? sehet ihr selbst; ob ich glücklich sei? mögen euch die Tränen sagen, die ich täglich in den Schoß meiner Schwester Flora weine. Unbedachtsam in meiner Jugend, vermählte ich mich jenem alten Titon, aus dessen Armen ihr mich täglich so früh emporeilen sehet. Ihm und mir zur Strafe ward ihm seine graue Unsterblichkeit ohne Jugend, die auch mir so lange ich bei ihm bin, Glanz und Schönheit raubet. Deswegen eile ich so früh an mein kurzes Geschäft die Schatten zu verjagen, und verberge mich tagsüber im Strahl der Sonne, bis ich von ihm, so bald er mich wieder erblickt, mit Tränen und Schamröte in sein graues Bette hinuntergezogen werde. Spiegelt euch, ihr Mädchen, an meinem Beispiel, und glaubt nicht, dass die schönste von euch auch die glücklichste sein müsse, wenn sie nicht auch so weise als schön ist und sich einen ihr gleichen Gatten zur Glückseligkeit wählet.

Aurora verschwand; aber ihr Bild glänzte fortan den Mädchen in jeder Träne des Taues wieder. Sie priesen sie nicht mehr als die glücklichste der Göttinnen, weil sie die schönste sei, und wurden weise durch ihr Exempel.

Gottfried Herder


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 Aurora


Aurora beklagte sich unter den Göttern, dass sie, die von den Menschen so viel gelobt, von ihnen so wenig geliebt und besucht werde; am wenigsten aber von denen, die sie am meisten besängen und priesen. „Gräme dich nicht über dein Schicksal, sprach die Göttin der Weisheit, gehets mir anders?

Und dann, fuhr sie fort, siehe die an, die dich versäumen, und mit welcher Nebenbuhlerin sie dich vertauschen. Blick auf sie, wenn du vorbeifährst, wie sie in den Armen der Schlaftrunkenheit liegen und modern an Leib und Seele.

Ja hast du nicht Freunde, hast du nicht Anbeter genug? Die ganze Schöpfung feiert dir: alle Blumen erwachen, und kleiden sich mit deinem Purpurglanz in neue bräutliche Schönheit. Das Chor der Vögel bewillkommt dich: jedes sinnet auf neue Weisen, deine flüchtige Gegenwart zu vergnügen. Der fleißige Landmann, der arbeitsame Weise versäumen dich nie: sie trinken aus dem Kelch, den du ihnen darbeutst, Gesundheit und Stärke, Ruhe und Leben; doppelt vergnügt, dass sie dich ungestört genießen, ununterbrochen von jener geschwätzigen Schar schlafender Toren. Hältst du es für kein Glück, unentweiht genossen und geliebt zu werden? Es ist das höchste Glück der Liebe bei Göttern und Menschen.

Aurora errötete über ihre unbedachte Klage; und jede Schöne wünsche sich ihr Glück, die ihr gleich ist an Reinigkeit und Unschuld.

Gottfried Herder



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Textgrundlage: „Die Morgenröthe“ Johann Gottfried Herder,
aus: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung, S. 167-168, ED: 1785,
Verlag Carl Wilhelm Ettinger EO: Gotha

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Textgrundlage: „Aurora“, Johann Gottfried Herder
aus: Zerstreute Blätter. Erste Sammlung. ED;1785
Verlag:     Carl Wilhelm Ettinger, EO: Gotha

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„Paris, Sonnenaufgang“, Lesser Ury, 1928, gemeinfrei
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