Tagesverlauf
- Prosa
Abend
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„Selig, wer
sich vor der Welt
Ohne Hass
verschließt;
Einen Freund
am Busen hält
Und mit dem
genießt.
Was von
Menschen nicht gewusst
Oder nicht
bedacht,
Durch das
Labyrinth der Brust
Wandelt in der
Nacht.“
Unbekannter
Dichter
Abends
nach sechs Uhr gehen im Berliner
Tiergarten lauter Leute spazieren, untergefasst und mit den Händen noch
mal vorn eingeklammert – die haben alle recht. Das ist so:
Er
holt sie vom Geschäft ab oder sie ihn.
Das Paar vertritt sich noch ein bisschen die Beine, nach dem langen
Sitzen im Bureau tut die Abendluft gut. Die grauen Straßen entlang,
durch das Brandenburger Tor zum Beispiel – und dann durch den
Tiergarten. Was tut man unterwegs? Man erzählt sich, was es tagsüber
gegeben hat. Und was hat es gegeben? Ärger.
Nun
behauptet zwar die Sprache, man
„schlucke den Ärger herunter“ – aber das ist nicht wahr. Man schluckt
nichts herunter. Im Augenblick darf man ja nicht antworten – dem Chef
nicht, der Kollegin nicht, dem Portier nicht; es ist nicht ratsam, der
andere bekommt mehr Gehalt, hat also recht. Aber alles kommt wieder –
und zwar abends nach sechs.
Das
Liebespaar durchwandelt die grünen
Laubgänge des Tiergartens, und er erzählt ihr, wie es im Geschäft
zugegangen ist. Zunächst der Bericht. Man hat vielleicht schon bemerkt,
wie Schlachtberichte solcher Zusammenstöße erstattet werden: der
Berichtende ist ein Muster an Ruhe und Güte, und nur der böse Feind ist
ein tobsüchtig gewordener Indianer.
Das
klingt ungefähr folgendermaßen: „Ich
sage, Herr Winkler, sage ich - das wird mit dem Ablegen so nicht gehn!“
(Dies im ruhigsten Ton von der Welt, mild, abgeklärt und weise.) „Er
sagt, erlauben Sie mal! sagt er - ich lege ab, wies mir passt!“ (Dies
schnell, abgerissen und wild cholerisch.) Nun wieder die Oberste
Heeresleitung: „Ich sage ganz ruhig, ich sage, Herr Winkler, sage ich –
wir können aber nicht so ablegen, weil uns sonst die C-Post mit der
D-Post durcheinander kommt! Fängt er doch an zu brüllen! Ich hätte ihm
gar nichts zu befehlen, und er täte überhaupt nicht, was ihm andere
Leute sagten – finnste das –?“ Dabei haben natürlich beide spektakelt
wie die Marktschreier. Aber manchmal war‘s der Chef, und dem konnte man
doch nicht antworten. Man hat also „heruntergeschluckt“ – und jetzt
entlädt es sich. „Finnste das?“
Lottchen
findet es skandalös. „Hach! Na,
weißt du!“ Das tut wohl, es ist Balsam fürs leidende Herz – endlich
darf man es alles heraussagen! – „Am liebsten hätte ich ihm gesagt:
Machen Sie sich Ihren Kram allein, wenn ‘s Ihnen nicht passt! Aber ich
werde mich doch mit so einem ungebildeten Menschen nicht hinstellen!
Der Kerl versteht überhaupt nichts, sage ich dir! Hat keine Ahnung! So,
wie ers jetzt macht, kommt ihm natürlich die C-Post in die D-Post – das
ist mal bombensicher! Na, mir kann‘s ja egal sein. Ich weiß jedenfalls,
was ich zu tun habe: ich lass ihn ruhig machen – er wird ja sehen, wie
weit er damit kommt …!“ – Ein scheu bewundernder Blick streift den
reisigen Helden. Er hat recht.
Aber
auch sie hat zu berichten. „Was die
Elli intrigiert, das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen. Fräulein
Friedland hat vorgestern eine neue Bluse angehabt, da hat sie am
Telefon gesagt, wir haben‘s abgehört -: Man weiß ja, wo manche
Kolleginnen das Geld für neue Blusen her haben! Wie findest du das?
Dabei hat die Elli gar keinen Bräutigam mehr! Ihrer ist doch längst weg
– nach Bromberg!“ Krach, Kampf mit dem zweiten Stock auf der ganzen
Linie - Schlachtgetümmel. „Ich hab ja nichts gesagt … aber ich dachte
so bei mir: Na – dacht ich, wo du deine seidenen Strümpfe her
hast, das wissen wir ja auch! Weißt du, sie wird nämlich jeden zweiten
Abend abgeholt, sie lässt immer das Auto eine Ecke weiter warten … aber
wir haben das gleich rausgekriegt! Eine ganz unverschämte Person ist
das!“ Da drückt er ihren Arm und sagt: „Na so was!“ Und nun hat sie
recht.
So
wandeln sie. So gehen sie dahin, die
vielen, vielen Liebespaare im Tiergarten, erzählen sich gegenseitig,
klagen sich ihr kleines Leid, und haben alle recht. Sie stellen das
Gleichgewicht des Lebens wieder her. Es wäre einfach unhygienisch, so
nach Hause zu gehen: mit dem gesamten aufgespeicherten Oppositionsärger
der letzten neun Stunden. Es muss heraus. Falsche Abrechnungen, dumme
Telefongespräche, verpasste Antworten, verkniffene Grobheiten – es
findet alles seinen Weg ins Freie. Es ist der Treppenwitz der
Geschäftsgeschichte, der da seine Orgien feiert. Die blauen Schleier
der Dämmerung senken sich auf Bäume und Sträucher, und auf den Wegen
gehen die eingeklammerten Liebespaare und töten die Chefs, vernichten
den Konkurrenten, treffen die Feindin mitten ins falsche Herz. Das
Auditorium ist dankbar, aufmerksam und grenzenlos gutgläubig. Es
applaudiert unaufhörlich. Es ruft: „Noch mal!“ an den schönen Stellen.
Es tötet, vernichtet und trifft mit. Es ist Bundesgenosse, Freund,
Bruder und Publikum zu gleicher Zeit. Es ist schön, vor ihm aufzutreten.
Abends
nach sechs werden Geschäfte
umorganisiert, Angestellte befördert, Chefs abgesetzt und, vor allem,
die Gehälter fixiert. Wer würde die Tarife anders regeln? Wer die
Gehaltszulagen gerecht bemessen? Wer Urlaub mit Gratifikation erteilen?
Die Liebespaare, abends nach sechs.
Am
nächsten Morgen geht alles von
frischem an. Schön ausgeglichen geht man an die Arbeit, die Erregung
von gestern ist verzittert und dahin, Hut und Mantel hängen im Schrank,
die Bücher werden zurechtgerückt – wohlan! der Krach kann beginnen.
Pünktlich um drei Uhr ist er da – dieselbe Geschichte wie gestern: Herr
Winkler will die Post nicht ablegen, Fräulein Friedland zieht eine
krause Nase, die Urlaubsliste hat ein Loch, und die Gehaltszulage will
nicht kommen. Ärger, dicker Kopf, spitze Unterhaltung am Telefon,
dumpfes Schweigen im Bureau. Es wetterleuchtet gelb. Der Donner grollt.
Der erfrischende Regen aber setzt erst abends ein – mit ihr, mit ihm,
untergefasst im Tiergarten.
Da
ist Friede auf Erden und den Paaren
ein Wohlgefallen, der Angeklagte hat das letzte Wort – und da haben sie
alle, alle recht.
Kurt
Tucholsky
oben
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Textgrundlage: „Abends
nach sechs“,
Kurt Tucholsky,
aus: Das Lächeln der Mona Lisa,
S. 13-16, ED: 1929, Verlag: Rowohlt, EO: Berlin Erstdruck in:
Vossische Zeitung, 27.09.1924
Quelle: ULB Düsseldorf
und Scans auf Commons
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