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Literatur


04.2


Gedichte - Allgemein - A




Seufzer einer verbannten Seele

Ach, wie traurig ists, zu geh'n,
Herr, durchs Leben ohne dich!
Nur ein Sehnen kenne ich:
Sterben möcht' ich, dich zu sehn.

Lang ist unser Weg hienieden,
Durch der Tränen banges Tal,
Mühevoll der Menschen Dasein,
Der Verbannung herbe Qual.
Meister, voller Ruhm und Zier,
Nimm mich, Heiland, weg von hier!
Ja, nur darum will ich fleh'n:
Sterben möchte ich, dich zu sehn.

Düster ist das Erdenleben,
Bitter bis zum Übermaß,
Fern von dir seufzt meine Seele,
Trauernd ohne Unterlass.
Ach, wie ist mir, süßes Gut,
Elend ohne dich zu mut!
Nur um eines will ich fleh'n:
Sterben möcht ich, dich zu sehn.

Tod, du Trost in meinen Nöten,
Heile meiner Sehnsucht Schmerz!
Süß empfind ich deine Schläge,
Sie befrei'n mein armes Herz.
Welch ein Glück, Geliebter mein,
Ganz vereint mit dir zu sein!
Nur um eines will ich fleh'n:
Sterben möcht ich, dich zu sehn.

Wie die schnöde Erdenliebe
Sich an dieses Leben hängt,
So die hehre Gottesliebe
Uns zum wahren Leben drängt.
Wie vermöchte, Meister, ich
Zu bestehen ohne dich?
Nur um eines will ich fleh'n:
Sterben möcht ich, dich zu sehn.

Unser Weilen hier auf Erden
Ist nur Schmerz und Seelenpein,
Reines Leben wird uns werden
In des Himmels Höhn allein.
Gott, mein Gott, gewähre mir,
Dass ich lebe dort bei dir!
Nur um eines will ich fleh'n:
Sterben möcht' ich, dich zu sehn.

Wer soll noch in Furcht erbeben,
Wenn der leib in Staub zerfällt,
Da man doch für dieses Leben
Grenzenlose Lust erhält?
Süßes Dürsten, süße Pflicht,
Dich zu lieben, schönstes Licht!
Nur um eines will ich fleh'n:
Sterben möcht ich, dich zu sehn.

Meine Seele schwebt in Ängsten,
Seufzt vor Schwäche, seufzt vor Leid.
Welches Herz soll sich denn freuen,
Wenn der Vielgeliebte weit?
Meine Qualen, meine Pein,
Lass sie bald zu Ende sein!
Herr, ich kenne nur ein Fleh'n:
Sterben möcht ich, dich zu sehn.

Wie der Fisch am Angelhaken
Hängt und zerrt, dem Tod geweiht,
Und von seinen tausend Qualen
Erst im Tode wird befreit,
So leid ich der Schmerzen Glut
Ohne dich, mein höchstes Gut.
Und ich kenne nur ein Fleh'n:
Sterben möcht ich, dich zu sehn.

O mein Meister, ganz vergeblich
Sucht dich meine Seele hier,
Unsichtbar dem blöden Auge
Birgst du allzeit dich vor ihr.
In der Trennung heißem Schmerz
Fliegt ihr Sehnen himmelwärts.
Eines will sie nur erfleh'n:
Sterben möchte ich, dich zu sehn.

Ach, wann wirst du dich entschließen,
Einzukehren, Herr, bei mir?
Muss ich ja noch immer fürchten,
Dass ich dich, mein Gott, verlier.
Seufzend ruft die Seele mein,
Schmerzerfüllt gedenkt sie dein,
Und um eins nur kann sie fleh'n:
Sterben möcht ich, dich zu sehn.

Komm doch deiner Magd zu Hilfe,
Die in Sehnsucht fast vergeht!
Setz ein Ende ihren Nöten,
Höre doch ihr Bittgebet!
Brich die Ketten rasch entzwei,
Dass sie endlich glücklich sei!
Denn sie kann nur eines fleh'n:
Sterben möcht ich, dich zu sehn.

Doch, ach nein, mein guter Meister,
Ist mir doch mein Schmerz zum Heil,
Sühnen will ich meine Fehler,
Tilgen meiner Schulden Teil.
Höre, Herr, meine Klagen an,
Und mein Ruf steig himmelan!
Eines will ich nur erfleh'n:
Sterben möcht ich, dich zu sehn.

Theresia von Avila
(1515-1582)








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Textgrundlage: "Seufzer einer verbannten Seele", Theresia von Avila
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