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Literatur


04.2


Literarische Epochen

Verzeichnis der literarischen Epochen
Naturalismus



 Ballade

Kennt ihr das Lied, das alte Lied
vom heiligen Hain zu Singapur?
Dort sitzt ein alter Eremit
und kaut an seiner Nabelschnur.

Er kaut tagaus, er kaut tagein
und nährt sich kärglich nur und knapp.
Denn ach, er ist ein großes Schwein
und nie fault ihm sein Luder ab!

Rings um ihn wie das liebe Vieh
wälzt sich zerknirscht ganz Singapur
und „Gott erhalte“, singen sie,
„noch lange seine Nabelschnur!“

Denn also geht im Volk die Mär
und also lehrt auch dies Gedicht:
Wenn jene Nabelschnur nicht wär,
dann wär auch manches andre nicht.

Dann hätte beispielsweise Lingg
nie völkerwandernd sich verrannt
und Wagners Nibelungenring
läg noch vergnügt im Pfefferland.

Uns hätte nie Professor Dahn
Urdeutsch doziert von A bis Z
und kein ägyptischer Roman
verzierte unser Bücherbrett.

Wolffs Heijerleispoeterei,
kein Baumbach wär ihr nachgetatscht,
und Mirzas Reimklangklingelei
summa cum laude ausgeklatscht.

Dann schlüge endlich unsrer Zeit
das Herz ans Herz der Poesie,
der Rütli schwüre seinen Eid
und unser Tell wär das Genie.

So aber so – frei, fromm und frisch
kaut weiter jener Nimmersatt;
sein eigner Schmerbauch ist sein Tisch,
sein Arschwisch ein Bananenblatt.

Und um ihn wie das liebe Vieh
wälzt sich zerknirscht ganz Singapur
und „Gott erhalte“, singen sie,
„noch lange seine Nabelschnur!“


 Weihnachten

Und wieder nun läßt aus dem Dunkeln
die Weihnacht ihre Sterne funkeln!
Die Engel im Himmel hört man sich küssen
und die ganze Welt riecht nach Pfeffernüssen ...

So heimlich war es die letzten Wochen,
die Häuser nach Mehl und Honig rochen,
die Dächer lagen dick verschneit
und fern, noch fern schien die schöne Zeit.
Man dachte an sie kaum dann und wann.

Mutter teigte die Kuchen an
und Vater, dem mehr der Lehnstuhl taugte,
saß daneben und las und rauchte.
Da plötzlich, eh man sich’s versah,
mit einmmal war sie wieder da.

Mitten im Zimmer steht nun der Baum!

Man reibt sich die Augen und glaubt es kaum ...
Die Ketten schaukeln, die Lichter wehn,
Herrgott, was gibt’s da nicht alles zu sehn!
Die kleinen Kügelchen und hier

die niedlichen Krönchen aus Goldpapier!
Und an all den grünen, glitzernden Schnürchen
all die unzähligen, kleinen Figürchen:
Mohren, Schlittschuhläufer und Schwälbchen,
Elefanten und kleine Kälbchen,

Schornsteinfeger und trommelnde Hasen,
dicke Kerle mit roten Nasen,
reiche Hunde und arme Schlucker
und alles, alles aus purem Zucker!

Ein alter Herr mit weißen Bäffchen
hängt grade unter einem Äffchen.
Und hier gar schält sich aus seinem Ei
ein kleiner, geflügelter Nackedei.

Und oben, oben erst in der Krone!
Da hängt eine wirkliche, gelbe Kanone
und ein Husarenleutnant mit silbernen Tressen –
ich glaube wahrhaftig, man kann ihn essen!

In den offenen Mäulerchen ihre Finger,
stehn um den Tisch die kleinen Dinger,
und um die Wette mit den Kerzen
puppern vor Freuden ihre Herzen.
Ihre großen, blauen Augen leuchten,
indes die unsern sich leise feuchten.
Wir sind ja leider schon längst „erwachsen“,
uns dreht sich die Welt um andre Achsen
und zwar zumeist um unser Bureau.
Ach, nicht wie früher mehr macht uns froh
aus Zinkblech eine Eisenbahn,
ein kleines Schweinchen aus Marzipan.
Eine Blechtrompete gefiel uns einst sehr,
der Reichstag interessiert uns heut mehr;
auch sind wir verliebt in die Regeldetri
und spielen natürlich auch Lotterie.
Uns quälen tausend Siebensachen.
Mit einem Wort, um es kurz zu machen,
wir sind große, verständige, vernünftige Leute!

Nur eben heute nicht, heute, heute!

Über uns kommt es wie ein Traum,
ist nicht die Welt heut ein einziger Baum,
an dem Millionen Kerzen schaukeln?
Alte Erinnerungen gaukeln
aus fernen Zeiten an uns vorüber
und jede klagt: Hinüber, hinüber!
Und ein altes Lied fällt uns wieder ein:
O selig, o selig, ein Kind noch zu sein!






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Textgrundlage: "Weihnachten" , Arno Holz; aus: Buch der Zeit. Lieder eines Modernen, S. 210–211
Auflage: Neue Ausgabe, 1.–10. Tausend, ED:1884, erschienen: 1886, Verlag: Carl Reißner, Dresden
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Textgrundlage: „Ballade“Arno Holz, Buch der Zeit, Lieder eines Modernen, Neue Ausgabe, 1.-10. Tausend,
Entstehungsjahr; 1884,München und Leipzig, R. Piper & Co., 1905

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"Die Quelle", Arnold Lyongrün, 1911, gemeinfrei
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