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Literatur


04.2


Geleitwort zu
Scherenschnitte
für

Ein Totentanz
Walter Draesner





Geleitwort
 
Ein Totentanz! Ein Vorwurf, der immer zeitgemäß war, aber doch nie mehr, als im heutigen Deutschland, wo ein ganzes Volk zum Sterben verurteilt ist. Es ist merkwürdig, daß ein so melancholisches Thema gerade immer die künstlerische Jugend beschäftigt hat, aber von Hans Holbein bis Alfred Rethel und Max Klinger hat es gerade die Werdenden gereizt, sich mit dem unabweislichen Schicksal auseinanderzusetzen, so als wollten sie dem letzten Schrecken sein Grausen nehmen, indem sie ihm fest ins Auge sehen. Anfang und Ende berühren sich, wenn die Jugend, die auf ihre Unabhängigkeit so stolz zu sein pflegt, sich Rechenschaft darüber gibt, daß auch ihre Tage gezählt und ihre Gaben gemessen sind.
 
Niemand kann diese Vorstellung näher liegen, als einem Künstler, der wie Walter Draesner, eben Mann geworden, in den Krieg hinaus gerissen wird und den Kopf noch voller Ideale plötzlich eine fürchterliche Wirklichkeit zu erleben gezwungen ist. Ihm muß sich, was schauerliche Stunden an Qual und Schmerzen geboten, in Bilder umsetzen, welche die drückende Pein der Gegenwart mit Ewigkeitswerten füllen, um sie erträglich zu machen. Für ihn verliert der klägliche Zufall das Jämmerliche und die kleinliche Not das Kummervolle, das Leid dringt nicht mehr zu ihm und die Trauer erreicht ihn nicht. Er erhebt sich zu jener Höhe der Betrachtung, die über den einzelnen hinweg aus der Zeitlichkeit in die Unendlichkeit blickt, wo die Unruhe schweigt und in der großen Stille alle Wunden heilen. Er befreit die eigene Seele von Erlebnissen, die ihr ohne Barmherzigkeit aufgedrungen wurden und gibt der Welt als Kunstwerk zurück, was sie ihm in einem Chaos von Gefühlen vermittelte.
 
Die vorliegenden Wiedergaben sind im Original Scherenschnitte und als solche schlechthin bewunderungswürdig. Aber so sicher, so frei und so überlegen die Technik auch gehandhabt ist, ihre Bedeutung liegt nicht in der Schwierigkeit, die der Künstler spielend meisterte, sondern in der kompositorischen Behandlung des Vorwurfs. Zugegeben, daß er die großflächige Ruhe dem auf die starken Gegensätze des schwarzen und weißen Papieres eingestellten Material verdankt; er wählte es mit Absicht, denn es schien ihm nach seiner eigenen Angabe eine gewisse Feierlichkeit des Ausdrucks zu verbürgen. Auf alle Fälle gab er den beiden Tönen, auf die er sich beschränkte, neue Bedeutung, denn er verstand es, neue Werte aus ihnen herauszuholen. Sie dienen ihm dazu, das blendende Gefunkel des Grubenlichtes ebenso überzeugend darzustellen, wie den matten Schein der halbverhüllten Schreibtischlampe, der zögernd und zagend über verstreute Briefschaften und Papiere huscht.

Er erzielt mit Beinschwarz farbige Wirkungen, die überraschen und entreißt der Tiefe des Schlagschattens eine malerische Formel, die verblüfft. Er setzt [7] den Galgen auf den schlichten weißen Grund und könnte mit den raffiniertesten Mitteln nicht den Eindruck der Unermeßlichkeit erreichen, den er entstehen läßt, jener uferlosen Einsamkeit, in der die Hoffnung keine Stätte findet.

Alle seine Vorbilder sind lebendig gesehen und sicher charakterisiert. Er handhabt die verschiedensten Bewegungsmotive und alle mit der gleichen Eindringlichkeit; das Fortstürmen des Renners, der sorglich über die Schranke stürzen wird, ist ebenso der Wirklichkeit abgesehen, wie das 
vorsichtige Klimmen des Bergsteigers, der sich in einem Kamin hocharbeitet oder das elementare Explodieren der Mine, die sinnlos und unvernünftig nach allen Seiten Verderben speit.
 
Die feinste Beobachtung, tausend lebenswahre Einzelzüge sind an die Verdeutlichung der künstlerischen Absichten gesetzt und doch gewahrt man nie ein Verlieren in Einzelheiten, zu dem die Kleinarbeit der Technik doch so leicht herausfordern würde. Die Idee, die den Künstler beschäftigt, kommt ohne Übertreibung und ohne jene erzwungene Dramatik zu Wort, die wohl von anderen bei dieser Gelegenheit aufgewendet worden ist. Das Pathos fehlt nicht, aber es tritt ohne Grimasse auf. Die künstlerische Durcharbeitung zeugt für ruhige Kraft und eine Innerlichkeit, die wohl das Herzblut für ihre Sache dahingibt, aber kein unnötiges Wort und keine überflüssige Gebärde. Der Künstler kann sich zum Dämonischen erheben, wie in dem Anatomen, wo das aufmontierte Skelett den Gelehrten mit einer kalten Überlegenheit an der Gurgel packt, deren grausame Ruhe uns bis in den Traum verfolgt, und er scheut, wo es sein Gedanke fordert, auch nicht vor dem Skurrilen zurück; bei  [5] dem erschrockenen Lebemann zittert das Entsetzen bis in die Frackschöße nach und scheint selbst die leblosen Gegenstände, wie den fallenden Hut und Stock, an dem schrecklichen Erlebnis zu beteiligen. Eine seltsame Märchenstimmung liegt über einzelnen Blättern, eine fremdartige Poesie, wie sie wohl den Legenden der alten Zeit anhaftet; da finden [2] Kinder den Tod unter Blumen bei tändelndem Spiel;  [3] ein unseliges Paar muß die  Vereinigung im gemeinsamen Ende suchen „sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief“. Visionär gesehen ist [10] der Schiffsuntergang, wo der grausige Matrose mit Masten und Takelage sein übermütiges Spiel treibt.
 
Unheimlich und gespenstisch schreitet der Knochenmann durch diese Blätter. Das Beste gibt der Künstler doch da, wo sich sein Tatsachensinn stärker erweist als seine Einbildungskraft. 
[14] Das Bergwerk, [22] die Mine, [4] der Jokey, [11] die Eisenbahn, [21] der Bergsteiger, [16] der Flieger,[19] der Anatom,  [15] der Reisende in der Wüste sprechen eine Sprache, die uns im Innersten berührt, sie sind Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem Blut, ihr Schicksal kann jeden Tag das unserige sein.
 
Sie zerren förmlich an den Nerven, die unsere Sinne mit der Umwelt der Lebenden verbinden. Sie sind an Eindringlichkeit mehr wie an ästhetischem Wert jenen überlegen, bei denen man ein wenig den Schulgeruch, ein wenig Düsseldorferei spürt, jenen Darstellungen, die ohne Hahnenfedern auf der Kappe und Stulpenstiefeln an den Füßen nicht auskommen können. Trotzdem sind auch sie, die dem Umriß zuliebe das fremde Gewand angenommen haben, reich an Schönheiten. Jede Einzelheit ist frei und geistreich behandelt, ja der
jugendliche Akt [12] der Hexe auf dem Scheiterhaufen ist einfach vollkommen geschnitten, und vielleicht hat der Künstler gerade bei diesen Bildern das ganze große Können seiner Technik voll eingesetzt. In dem Beiwerk von Kleid und Gerät feiert der Scherenschnitt wirkliche Triumphe; das Eisengitter, das den Hintergrund des letzten Blattes abgibt, verrät in der leichten Grazie des Aufbaues, dem koketten Schwung seiner Linien eine nicht gewöhnliche Begabung für das Kunstgewerbe, wie andererseits die Gewandtheit, mit der jedesmal der Raum gefüllt ist, darauf hinweist, wie vertraut der Zeichner mit den Problemen der Schwarzweißkunst ist.
 
Ein liebevolles Versenken in den Gegenstand, ein tiefes Verständnis für die Idee und ein starkes Können; was hätte der Künstler wohl noch außerdem mitbringen sollen, um ein großes Kunstwerk zu schaffen? Was er gibt, hat Stil, denn sein Ausdruck besitzt Kraft und jene Sicherheit des Gestaltens, die überzeugt. Seine Art fesselt, sein Gefühl spricht an und weckt die Resonanz im Beschauer, die dem wahren Künstler unentbehrlich ist, denn sie zwingt die Seelen in seinen Bann. Die Zukunft liegt noch vor ihm und in ihr beschlossen die ganze große Welt der Schönheit und der Wahrheit. Er wird sie sich zu eigen machen.
 
Berlin, Karfreitag 1922
Max von Boehn







Quellenangaben
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