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Literatur


04.2

Gedichte
Wolkenüberflaggt - Ernst Wilhelm Lotz

Erster Teil - II. Wolkenüberflaggt





ICH SCHLEPPE MEINE STUNDEN . . .
 
Laß mich meine Hände um deine Gelenke spannen
Und meine Stirn an deine Schulter lehnen,
O du umträumte Geliebte!
 
Ich schleppe meine Stunden durch Straßen, Kontore und windige
Treppenhäuser,
Und alle Augen, die mir begegnen, sind behauchte Scheiben,
Hinter denen, in Rechnen-Folianten geduckt,
Ein Seelen-Jemand vor grün verdeckter Lampe dämmert.
 
Mädchen, wenn ich meine Augen in deine warmen Hände presse,
Dann steigt so dunkel und weich um mich auf,
Daß ich träume, ich sei bei meiner Mutter,
Tief bei meiner Mutter in der Blutnacht.


oben

SPÄT ÜBER DEN HÄUSERN . . .


Spät über den Häusern,
Wann die Dächer von Farben tropfen,
Kniest du bei mir am Fenster auf dem Schemel.
Ein Wundern bebt in mir,
Ich fühle deine Pulse klopfen,
Als lebte dein Blut in mir. –
 
Kannst du das fest begreifend sehen:
Wie ich am Fenster lehne
Und, weich beglüht,
Die Arme in das Licht hinüberdehne.
Mit meinen Fingern pflück ich aus den grünen Grüften
Die kleine abendfarbne Tanzmusik vom Kaffeehaus.
In meinen Händen wird sie groß und lodert in den Sommerlüften.
 
Auf einmal wächst vom goldnen Horizont,
Weiß, riesengroß und spät besonnt,
Dein hingeträumter Leib heraus:
 
Da spanne ich meine Arme weit
Durch bunt verhängte Abenddämmerungen
Um deines Leibes Traumverlorenheit,
Mädchen! und halte dich dort über Dächern und der Zeit,
Wie hier am Fenster, märchenhaft umschlungen!


oben






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Textgrundlage: "Wolkenüberflaggt", Gedichte von
Ernst Wilhelm Lotz, Kurt Wolff Verlag,
Leipzig, 1917, gedruckt bei E. Haberland in Leipzig-R,
Herbst 1916
, als sechsunddreißigster
Band der Bücher „Der jüngste Tag“, ©1916 by
Kurt Wolff Verlag, Leipzig

Uni-Düsseldorf

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Claude Monet, gemeinfrei

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