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Literatur


04.2


Gedichte - Edgar Allen Poe



Die Stadt im Meer

Das ist des Todes Residenz,
Diese seltsame Stadt im fernen Westen.
Hier thront er und erteilt Audienz
Den Bösen und Guten, den Schlimmsten und Besten.
Hier stehen mächtige Säulenhallen
(Zermorschtes Gemäuer, das nicht zittert)
Neben Kapellen und Kathedralen
Und hohen Palästen, schwarz und verwittert.
Ringsum, vom Winde vergessen, ruht,
Wie schlafend, eine eisige Flut.

Kein Strahl aus dem himmlischen Gewölbe
Fällt auf das Dunkel dieser Stadt;
Doch einen Schimmer traurig und matt
Entsendet das Meer, das rötlich gelbe,
Und der kriecht hinauf an dunklen Palästen,
An babylonischen Türmen und Vesten
Der kriecht empor an eisernen Kerkern,
Und schattigen, ausgestorbenen Erkern,
Der schlängelt sich aufwärts an Säulenhallen
Und an gigantischen Kathedralen
Mit steinernem Zierrat von grotesken
Blumengewinden und Arabesken,
An vielen wundersamen Kapellen
Und gleitet zurück in die kalten Wellen,
Die melancholischen, schweigenden Wellen.

Von einem stolzen Turm übersieht
Der finstere König sein Gebiet.

Tempel und Gräber öffnen sich weit –
Da erglänzt eine seltsame Herrlichkeit.
Doch weder die Gräber mit ihren Schätzen,
Noch die demantenen Augen der Götzen
Locken die Wogen aus ihrem Bette.
Gläsern bleibt die schaurige Glätte,
Kein Hauch, kein noch so leises Säuseln
Erhebt sich, diese Fläche zu kräuseln,
Kein Schwellen erzählt von glücklichen Seen,
Worüber heitere Lüfte wehen,
Kein Wallen erzählt, dass es Meere gibt
Die weniger grauenhaft ungetrübt.
Da regt sich etwas im trägen Meere,
Als wären die Türme plötzlich versunken
Und hätten die Flut auseinandergeschoben;
Die Woge färbt sich, als ob ein Funken,
Ein wärmender Sonnenfunken von oben
Auf sie herniedergeglitten wäre.
Und wenn nun durch den geöffneten Spalt
Der trägen, melancholischen Flut
Die seltsame Stadt versinkt – dann zahlt
Ihr die Hölle selber Tribut.









__________________________
Titel: "Die Stadt am Meer", Ausgewählte Gedichte Edgar Allen Poe
- 1. Auflage 1891 – Verlag des bibliographischen Bureaus, Berlin,
S. 39-41, Übersetzer: Hedwig Lachmann, Gemeinfrei
Quelle

Logo73:
Exterior of Gare Saint Lazare - Das Signal, Claude Monet,
1877, gemeinfrei
wikimedia.org 

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