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Literatur


04.2


Gedichte - Edgar Allen Poe



Das verwunschene Schloss

Inmitten einer lieblichen Au,
Die sonniges Licht übergoss,
Erhob sich einst ein stattlicher Bau,
Ein schönes, strahlendes Schloss.

Das Reich, wo es sich luftig erhob,
War des Königs „Gedanke“ Land,
Und Seraphschwingen waren darob
Unsichtbar ausgespannt.

Goldgelbe Banner aus Damast,
Gebadet in Sonnenglut,
Wallten schimmernd herab vom Palast
Wie eine goldne Flut.

Und jeder schmeichlerische Zephyr,
Der mit den Blüten dort
Gekost, flog aus dem Zauberrevier
Als Wohlgeruch wieder fort.

Die Wandrer blickten in jenem Tal
Durch Fenster aus leuchtendem Glas
In einen hohen blendenden Saal,
Wo des Reiches Gebieter saß.

Sein Thron mit purpurnem Baldachin
War ganz aus Edelgestein
Und Genienschaaren umschwebten ihn
Zu lieblichen Melodei’n.

Mit Perlen und Rubinen besät
War des Palastes Portal,
Durch dieses flatterte früh und spät
Ein Echoschwarm ohne Zahl
Vor den König hin, indem es ihm,
Seiner hohen Weisheit zum Preis,
Einen Chorus sang wie Seraphim,
So süß und träumerisch leis.

Doch wüstes Volk in der Sorge Gewand
Nahm Thron und Reich in Beschlag.
Weh, nie mehr dämmert in jenem Land
Der Tag, weh, nimmer ein Tag!

Und alles, alles, was dort umher
Gepranget an Herrlichkeit,
Ist jetzt und eine traumhafte Mär’
Aus lang begrabner Zeit.

Jetzt zeigen sich des Wanderers Blick
Gestalten knöchern und starr
Und schwingen sich zu toller Musik
In Reigen wild und bizarr.
Dieweil gleich einem lautlosen Strom
Sich in die ewige Nacht
Zur Tür hinausstürzt Phantom um Phantom
Und nimmermehr lächelt – doch lacht.


Schweigen

Es gibt Begriffe, Dinge körperlos,
Urbilder jener Zwillingswesenheit,
Welcher der urzeitliche Schöpferschoß
Von Stoff und Geist Gestalt und Leben leiht.

Es gibt ein zwiefach Schweigen – Meer und Strand –
Seele und Leib. Das eine wohnt fernab
An einem Orte, den die ernste Hand
Gütiger Huldinnen mit Grün umgab.
Ein treu Gedenken waltet darum her
Und mildert seinen Ernst, nimmt ihm das Grau’n.
Es trägt den dunklen Namen: „Nimmermehr!“

O fürcht’ es nicht, du kannst dich ihm vertraun.
Doch wenn sein Schatten, der im Reich der Lethe
Als finstrer, namenloser Elfe weilt,
Dich vor der Zeit und unverhofft ereilt,
Dann bete!










_______________________________
Textgrundlage: "Das verwunsche Schloss",  Ausgewählte Gedichte
Edgar Allen Poe - 1. Auflage 1891 – Verlag des bibliographischen Bureaus,
Berlin, S.62-64, und Schweigen, S. 35, Übersetzer: Hedwig Lachmann
Gemeinfrei
wikisource

Logo73:
Exterior of Gare Saint Lazare - Das Signal, Claude Monet,
1877, gemeinfrei
wikimedia.org 

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