|
|
|
|
|
lifedays-seite
moment
in time
|
|
|
04.2
Gedichte - Edgar Allen Poe
Die
Schläferin
Ich
steh’ um Mitternacht allein
Im
mystisch weißen Mondenschein.
Dem
vollen, goldenen Gestirne
Entströmen
feuchte Nebeldünste
Und
fallen auf die blauen Firne
Wie
silberweiße Lichtgespinnste,
Um
sich von dort melodisch leise,
Und
schläfrig langsam, tropfenweise,
Wie
bunte, schimmernde Juwelen
In
das entschlafne Tal zu stehlen.
Vom
Grabe winkt der Rosmarin
Zu
den verschlafnen Lilien hin;
Die
wankenden Ruinen raffen
Erschauernd
um die morschen Glieder
Ihr
Nebelkleid und sinken nieder,
In
alle Ewigkeit zu schlafen;
Der
See dort – Lethe ist nicht stummer
Als
er in seinem tiefen Schlummer.
Es
ruht das All. Die Zweige nicken
Süß
eingewiegt – wo aber liegt
Irene
mit ihren Geschicken?
O
wundersame, bleichwangige Dame,
Wie
unbedacht, dies Fenster bei Nacht
So
offen den Gästen, die von den Ästen
Mutwillig
hüpfen, in’s Zimmer schlüpfen,
Den
Winden, den losen, fürwitzigen Rangen,
Die
in den Gardinen sich lachend verfangen,
Und
sie so unbändig und so beständig
Zerren
und zausen dicht über den langen
Seidenen
Wimpern auf deinen Wangen,
Dass
über den Boden weg durch das Fenster
Die
Schatten fallen wie schwarze Gespenster.
O
wundersame, bleichwangige Dame,
Wo
kommst du her? Wohl gar übers Meer?
Und
sag’ mir, warum nur bist du so stumm?
Ist
dir wohl bang? Du bist so eigen,
Dein
Haar ist so lang, so seltsam dein Schweigen!
Die
Dame schläft. O wär’ so mild
Ihr
Schlummer, als er lange währt!
Der
Himmel sei ihr heilger Schild.
Mag
sie auf ewig ungestört,
In
einem heiligeren Bette,
An
melancholischerer Stätte,
Wo
sich Cypressen leise wiegen,
Mit
festgeschlossnen Augen liegen!
Es
schläft mein Lieb. O, dass so mild
Ihr
Schlummer, als er ewig ist!
Dass
sich ihr eine Gruft erschließt
In
einem Walde dicht und wild,
Ein
tiefes, ruhevolles Grab
An
einem stillen Ort, fernab –
So
eine festverschloss’ne Gruft,
Aus
der sie fürder nichts mehr ruft,
Die
Reue nicht, die Buße nicht,
Bis
an das ewige Gericht.
___________________________
Titel:
"Die
Schläferin", Ausgewählte Gedichte Edgar Allen Poe -
1. Auflage 1891 –
Verlag des bibliographischen Bureaus, Berlin,
S. 36-38, Übersetzer:
Hedwig Lachmann
Gemeinfrei
Quelle
Logo73: Exterior
of Gare Saint Lazare - Das Signal, Claude Monet,
1877, gemeinfrei
wikimedia.org
|
lifedays-seite
- moment in time |
|
|
|
|
|
|
|