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Literatur


04.2


Gedichte - Edgar Allen Poe



Das ruhlose Thal

Einst lächelte ein friedliches Thal,
Aus welchem die Leute allzumal
Gezogen waren in stürmische Fernen,
Nachdem sie zu den gütigen Sternen
Gefleht, von ihren azurnen Thürmen
Die Blumen im Thal zu pflegen, zu schirmen,
In deren Mitte den ganzen Tag
Das rothe Sonnenlicht träge lag.

Jetzt raschelt es durch den seltsamen Ort
Ruhlos, rastlos in einem fort.
Alles zittert und schauert, bloß
Die Lüfte sind ganz bewegungslos.
Ach, von keinem Winde geschaukelt,
Nicht vom leisesten Zephyr umgaukelt,
Zucken die Bäume gleich den Fjorden
Im umnebelten felsigen Norden.

Ach, von keinem Winde getrieben,
Jagen die Wolken und zerstieben
Über den Veilchen, die dort liegen,
Überer den Lilien, die sich dort wiegen,
Die sich wiegen und neigen und schauern,
Über mystischen Gräbern trauern.

Sie schauern: ihre duftenden Seelen
Zittern in immer währendem Leide.
Sie weinen: auf ihrem weißen Kleide
Schimmern die Thränen wie Juwelen.


An F . . . S.

Geliebte! In dem Ungemach,
Das sich in meinen Pfad gedrängt,
(Ein rauer Pfad, steinicht und brach,
Von allen Seiten eingeengt), –
Kennt meine Seele einen Ort,
Dessen sie freudevoll gedenkt, –
Ein unberührter Zauberhort
In einem weiten Meer versenkt.

Ja, dein geliebtes Bildnis ruht
In meiner Brust als süßer Trost,
Ein Eiland in bewegter Flut,
Von frostigem Gewog’ umtost,
Und doch so wundersam gefeit,
Dass mitten in dem Wellenfrost
Und Sturmesbrausen jederzeit
Die gold’ne Sonne mit ihm kost.








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Titel: "Das ruhelose Thal"  S. 60-61 und "An F...S.",  S. 51,
Ausgewählte Gedichte Edgar Allen Poe - 1. Auflage 1891 –
Verlag des bibliographischen Bureaus, Berlin, S. 60-61,
Übersetzer: Hedwig Lachmann, Gemeinfrei
Quelle

Logo 73:
Exterior of Gare Saint Lazare - Das Signal,
Claude Monet, 1877, gemeinfrei
wikimedia.org 

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