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Literatur


04.2





Gedichte

Der zunehmende Mond

Rabindranath Tagore
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Wolken und Wellen

 
Mutter, das Volk, das in den Wolken droben wohnt, ruft mir zu:
 
»Wir spielen vom Aufwachen bis der Tag endet.
 
Wir spielen mit der goldnen Morgenröte, wir spielen mit dem silbernen Mond.«
 
Ich frage: »Aber wie kann ich zu Euch hinaufgelangen?«
 
Sie antworten: »Komm' an den Rand der Erde, heb' Deine Hände zum Himmel
und du wirst aufgenommen werden in die Wolken.«

 
»Meine Mutter wartet auf mich zu Hause«, sag' ich. »Wie kann ich sie verlassen
und kommen?«

 
Dann lächeln sie und schwimmen vorüber.
 
Aber ich weiß ein schöneres Spiel als das, Mutter.
 
Ich werde die Wolke sein und Du der Mond.
 
Ich werde Dich verdecken mit meinen beiden Händen und unser Giebel wird
der blaue Himmel sein.

 
***

Das Volk, das in den Wellen wohnt, ruft mir zu:
 
»Wir singen von Morgen bis Abend; wir wandern und wandern und wissen
nicht, wohin wir gleiten.«

 
Ich frage: »Wie soll ich mich denn zu Euch gesellen?«
 
Sie sagen mir: »Komm' an den Rand des Ufers und steh' mit fest geschlossenen
Augen und Du wirst davongetragen
werden auf den Wellen.«
 
Ich sage: »Meine Mutter braucht mich immer daheim des abends – wie kann ich
sie verlassen und gehn?«

 
Dann lächeln sie, tanzen und gleiten vorüber.
 
Aber ich weiß ein besseres Spiel als das.
 
Ich will die Welle sein, und Du wirst eine fremde Küste sein.
 
Ich werde rollen fort und fort und fort und an Deinem Schoß zerschellen mit
Gelächter.

 
Und niemand in der Welt wird wissen, wo wir beide sind.
 

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