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Literatur


04.2




Gedichte

Der zunehmende Mond
Rabindranath Tagore
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Des Kindchens Wesen

 
    Wenn Kindchen nur wollte, könnte es in diesem Augenblick zum Himmel
auffliegen.
 
    Es ist nicht umsonst, daß es uns verläßt.
 
    Es liebt es, seinen Kopf auszuruhn an Mutters Brust und kann es niemals
ertragen, wenn seine Augen sie nicht sehn.
 
***
 
    Kindchen kennt allerhand weise Worte, wenn auch Wenige auf Erden
ihren Sinn verstehen können.
 
    Es ist nicht umsonst, daß es niemals zu sprechen verlangt.
 
    Das einzige, das es verlangt, ist Mutters Worte von Mutters Lippen zu lernen.
Darum schaut es so unschuldig drein.
 
***
 
    Kindchen hatte einen Haufen Gold und Perlen und doch kam es wie ein Bettler
in diese Welt.
 
    Es ist nicht umsonst, daß es in solcher Verkleidung kam.
 
    Dieser liebe, kleine, nackte Bettler gibt vor, ganz hilflos zu sein, damit er um
Mutters reiche Liebe betteln kann.
 
***
 
    Kindchen war so frei von jeder Fessel im Lande des kleinen, zunehmenden
Monds.
 
    Es war nicht umsonst, daß es seine Freiheit aufgab.
 
    Es weiß, daß Raum ist für endlose Freude in dem kleinen Winkel von Mutters
Herzen und daß es viel süßer ist als Freiheit, in ihren lieben Armen gefangen
und geherzt zu werden.
 
***

    Kindchen wußte nichts vom Schreien. Es wohnte im Lande der vollkommenen
Seligkeit.
 
    Es ist nicht umsonst, daß es das Weinen erwählt hat.
 
    Wenn es auch mit dem Lächeln seines lieben Gesichtes Mutters sehnendes Herz
zu sich zieht, so schlingen doch seine kleinen Schreie über winzige Kümmernisse
das doppelte Band von Mitleid und Liebe.


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