lifedays-seite

moment in time

 
 
Literatur


04.2


                                                     Gedichte

                                                     Leon Vandersee


                                                            ______________________

Sibirien

Die Raben krächzen heiser in den Lüften,
mordgierig streifen Wölfe durch den Schnee –
fernher ein Klirren wie von Eisenketten –
Sibirien, du Land voll Graun und Weh!

Bang lauscht das Ohr nach einem Laut von Menschen…
ah dort – ein langer, endlos langer Zug:
Fußgänger, Reiter, düstre Gramgestalten,
die ein verhängnisvoller Urteilsspruch in Ketten schlug.

Sie wandeln wie gestorben durch die Steppe
mit seltsam starren, hoffnungsleerem Blick,
fern allem Leben ziehn sie trostlos weiter,
verfemt, verbannt! O grauenvoll Geschick!

Ein Klagesang ringt sich von ihren Lippen,
so schaurig schrillt er durch das Schneegefild,
und dann ein Schrei, nach Licht, nach Qualerlösung,
wer stieß ihn aus, so markerschütternd – wild?

Der bleiche Mann, der dort am Wagen schreitet –
in seinen Augen glimmt Despotenhaß:
„Schweig, Boris, schweig!“ Sein junger Weggefährte
Drängt sich an ihn: „O Boris, Boris, laß!“

„ Ich schweigen? Ich? Niemals! Der Tag wird kommen,
da unsre Saat der Freiheit Früchte trägt,
schon sproßt das Grün, habt nur Geduld ihr Brüder,
ich seh die Knospe, die am Baum sich regt!

Es dämmert, Freund! Bald loht die große Flamme
und hitzt das Blei, das unsere Schultern drückt!
Schürt diese Flamme! Sie muß Ketten schmelzen,
das Beil vernichten, das nach uns sich zückt!

Hört meinen Schwur! Auch eurer Schrei soll gellen,
am Don erklingt’s, vom Kreml zum Ural!
Der Block erzittert! Russland, Russland, Russland!
Die Freiheit naht! Zu Ende ist die Qual!

Dumpf klirrt die Kette, Küssen, Weinen, Lachen,
der junge Tag erglänzt im Schneegebreit
wie Blut so rot – o Sonne, Sonne, Sonne!
und Raben krächzen in der Einsamkeit.


Um die Dämmerstunde

Leise sinken weiche Dämmerschleier,
tief im Walde träumt der stille Weiher,
lautlos streicht mit scheuem Silberflügel
eine Taube über seinen Spiegel –
leicht im Windhauch schwanken Gras und Ried,
und von fernher klingt ein klagend Lied . . .

Dringt hinab in meiner Seele Tiefen,
weckt die Schmerzen, die dort unten schliefen,
weckt im Herzen ein verhaltens Sehnen –
meine Augen füllen sich mit Tränen,
ach, die Sehnsucht, die kein Ziel sich weiß,
irrt durch meine Träume stumm und heiß . . .



Die Möwen  flattern

Die Möwen flattern - nun kommt meine Zeit,
am Strand liegt mein Schifflein, zur Abfahrt bereit.
Schon blühen am Himmel die Sterne auf,
und golden und groß steigt der Vollmond herauf.

Mit ihm steigt die Flut – hinaus nun ins Meer,
was frag’ ich nach Landung und Wiederkehr?
Meines Herzens starker, wildtrotziger Schlag
frohlockt dir entgegen, du neuer Tag!

Trag’ mich, mein Schifflein, hinaus in die Nacht,
eh’ des Alltags Ebbe die Seele verflacht,
eh’ der Sehnsucht hochflutende Welle sinkt –
eh’ das jauchzende Lied des Lebens verklingt!



_______________________





____________________________

Textgrundlage: aus der Sammlung „Heimatlose“
Sibirien,  Um die Dämmerstunde  Die Möwen flattern, 
gedichte.xbib

Logo 257: 
"Stiefmütterchen und Schmetterlinge",
Olga Wisinger-Florian (1844-1926).
Ca. 1926, gemeinfrei

wikimedia

  lifedays-seite - moment in time