Engel-Geschichten
Allgemein
Rabbi Josua Ben Levi und
der Todesengel
Gerechte
gibt es wenig. Aber nur die Seele des Gerechten kann einen Platz im
Paradies erwarten. Und Rabbi Josua, der Sohn Levis, war ein gerechter
Mann. Er hatte nie gesündigt, weder gegen Gott noch gegen die Menschen.
Die Seele des Josua war so rein wie an dem Tage, als er sie von seinem
Schöpfer erhielt. Aber jeder Mensch muss einmal sterben, und wäre er
noch so fromm und gerecht.
Auch
Josua Ben Levis Tage waren gezählt. Da sprach Gott zum Todesengel: “Geh
hin und führe die Seele des Josua ins Paradies. Aber weil er ein
Gerechter ist, sollst du ihm einen letzten Wunsch erfüllen.”
Der
Todesengel schwebte hinab zur Erde. In der Rechten hält er sein
Schwert, an dessen Spitze ein Tropfen Galle hängt. Jeder Mensch, der
ihn erblickt, öffnet vor Entsetzen den Mund, und der Todesengel tropft
Galle hinein. Da stirbt der Mensch, und der Todesengel eilt weiter, um
seine Mission auf Erden zu erfüllen.
So
also erschien er auch vor Rabbi Josua, der erschüttert sein Antlitz
abwandte.
“Ist
es Gottes Wille, dass ich sterben soll?” flüsterte er.
“Es
ist sein Wille” entgegnete der Todesengel.
“Aber
ich habe den Auftrag bekommen, dir noch einen Wunsch zu erfüllen.”
“Wenn
dem so ist, so zeige mir meinen Platz im Paradies”, sagte Josua.
Da
trat der Todesengel näher, um dem Rabbi seinen Platz im Paradies zu
zeigen. Dieser aber sprang entsetzt zur Seite. “Wie kann ich mich dir
anvertrauen, wenn ich mich vor deinem Schwert ängstige!” stieß er
hervor. “Gib es mir, ich will es halten!” Da reichte der Todesengel dem
Rabbi sein Schwert und nahm ihn in seine starken Arme. Und ehe Josua
sich versah, waren sie schon vor den Mauern des Paradieses angelangt.
Der Todesengel hob den Rabbi in die Höhe auf die Mauer des Paradieses,
sodass dieser das ganze Paradies überblicken konnte. Und Josua schaute
und schaute!
Zwei
diamantene Tore führten hinein, und vor jedem Tore wachten
siebzigtausend Dienstengel. Die Diamanten strahlten heller als die
Sonne, und ihr Schein spiegelte sich in den vier Flüssen wider, die die
neunzigtausend Bäume des Paradiesgartens bewässerten. Kein irdischer
Duft konnte sich mit dem messen, den auch der kleinste Baum ausströmte.
In den vier Ecken des Paradiesgartens sang ein Chor von je
siebentausend Dienstengeln Lobeshymnen. Mitten im Garten aber standen
zwei Bäume: Der Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen und der
Baum des Lebens, dessen Blätter das ganze Paradies bedeckten. Der Baum
des Lebens atmete verschiedene Düfte aus, sodass das ganze Paradies mit
seinen sieben riesigen Häusern und Myriaden Gemächern von diesen
unbeschreiblich lieblichen Düften gesättigt war.
Als
nun Josua diese Herrlichkeit wahrnahm, wollte er nicht mehr zurück auf
die Erde. Und so sprang er von der Mauer, ohne das Schwert des
Todesengels loszulassen, ins Paradies. Dorthin aber durfte ihm der
Todesengel nicht folgen. Der Todesengel bat und drohte, aber Josua Ben
Levi wanderte bezaubert durchs Paradies und dachte nicht daran, das
Schwert zurückzugeben. Da musste der Todesengel beschämt vor seinen
Gott treten, damit er ihm zu seinem Schwert verhelfe. Gott aber liebte
Josua, den Sohn Levis, weil er fromm und reinen Herzens war, und es
dauerte volle sieben Jahre, bis er die Bitte des Todesengels erhörte.
Erst nach sieben Jahren befahl er dem Rabbi, dem Todesengel das Schwert
zurückzugeben. Und erst dann gab es wieder den Tod auf der Welt.
Der
erste, der sterben sollte, war der Rabbi selbst. Aber er hatte dem Tod
das Versprechen abgenommen, ihm weder sein schreckliches Antlitz noch
sein Schwert zu zeigen. Und der Todesengel hielt sein Wort.
Seither
ist er unsichtbar, um die Sterbenden nicht zu erschrecken. Nur der
Gottlose meint in der Angst seines Herzens den Todesengel zu sehen.
Freilich zieht der Todesengel den Gottlosen die Seele heraus wie Dornen
aus der Wolle, aus dem Körper der Gerechten aber löst er sie sanft, wie
man einen Faden aus der Milch zieht.
Und
so tat er es auch bei Josua Ben Levi, dessen Seele geradewegs in ihr
Gemach in eines der sieben Häuser des Paradieses schwebte.
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Textgrundlage:
"Rabbi
Jusua Ben Levi und
der Todesengel", shambala25
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384:
"Six winged Seraph
(Azrael)",
Michael
Alexandrowitsch Wrubel (1904),
wikimedia
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