Patsch
und Tirili
Als
ich Patsch das erste
Mal bestieg, erfüllte mich
ein Hochgefühl. Das ist doch Rasse, sagte ich mir; man spürt die adlige
Herkunft und sichere Tradition; kein aufdringliches Geräusch, kein
saloppes
Wackeln; alles sitzt fest, hat die richtige Spannung, aber auch die
entsprechende Federkraft; er gehorcht dem leichtesten Druck mit
ebensoviel
Folgsamkeit wie Intelligenz; was etwa noch fehlt, wird ihm ein bißchen
Erziehung sicher beizubringen wissen.
Ich
hatte damals freilich
nur böse Erfahrungen hinter mir. Das klapprige Ding, dem ich mich als
banger
Eleve hatte anvertrauen müssen, war durch schlechte Behandlung völlig
verdorben
und um alle Seele gebracht worden. Man hätte es eine Maschine nennen
können,
wenn es nicht zuweilen doch noch Spuren von Charakter gezeigt hätte.
Freilich
von schlechtem. Es war boshaft, heimtückisch, niederträchtig. Im
allgemeinen
heuchelte es Phlegma — wenn es nicht einfach
Faulheit war — und tat so, wie wenn es nichts könnte, als
stumpfsinnig seinen Trott gehen, geduldig, sanftmütig, schwerfällig,
aber
verlässig. Doch plötzlich, während man sich keiner Überraschung versah,
fiel es
ihm ein, Mätzchen zu machen. Wie von einem bösen Geist besessen, begann
es zu
rennen, zu rasen und hörte mit diesen infamen Tücken nicht eher auf,
als bis es
mich gegen eine der Säulen, die recht überflüssiger Weise in der
Radfahrschule
herumstanden, geworfen hatte. Dann lag es wie ein Bild hilfloser
Unschuld neben
mir, und nur seine Pedale zitterten vor innerem Triumphgefühl über den
glücklich gelungenen Streich.
Dabei
will ich gar nicht
davon reden, daß es ein wahres Jammerbild und in jeder Hinsicht
verkommen war.
Ich finde zu seiner Kennzeichnung nur das eine Wort: gemein, und man
wird es
verstehen, wenn ich bekenne, daß ich dieses Wesen aus voller Seele
gehaßt habe.
Es war besserer Gefühle ebensowenig würdig wie fähig. Genug von ihm.
Ich
sagte schon, daß Patsch
mir nach dieser Kreatur, deren Namen ich nicht einmal weiß, eine
blendenden Eindruck machte.
Da er von guter Herkunft, Cleveland, Mittelsorte, ist, so kann das
nicht weiter
in Erstaunen versetzen.
Das
Jahr 1898 war überdies
ein besonders guter Jahrgang für die Clevelands. Aber das will im
allgemeinen
doch nicht viel sagen. Gewiß, der Durchschnitt dieser Rasse ist immer
gut,
trefflich, in einem gewissen Sinn tadellos — aber auch
nicht mehr. Die Clevelands sind im allgemeinen wie gut gedrillte
Soldaten; sie
leisten das und das, und zwar nicht wenig, was ihnen eben beigebracht
worden
ist, immer ungefähr einer wie der andere ohne viel individuelle
Einzelzüge — es sind Amerikaner. Selten, daß ein
niederträchtiges Subjekt unter ihnen vorkommt, selten aber auch, daß
besondere
Persönlichkeiten hervorragen. Ich halte das natürlich für einen Vorzug
der
Rasse, aber immerhin, nicht wahr, wenn einem gerade ein besonders
begabtes
Individuum zufällt, so ist das nicht unerfreulich.
Nun!
Patsch war so ein
Individuum. Er war entschieden über den Durchschnitt begabt, und ich
würde
vielleicht überschwenglicher über ihn urteilen, wenn
ich nicht das unerhörte Glück gehabt hätte, nach ihm Tirili zu
erwerben.
Ich
hätte Patsch nicht
aufgegeben, wenn ihm nicht ein Malheur passiert wäre, an dem eine
Schwäche von
ihm schuld war, die ich längst erkannt hatte: seine Bremse taugte nicht
viel.
Es war so eine geistlose, platte Druckbremse, an der nichts
bewundernswert war,
als die Prätension, ein laufendes Rad zum Stehen bringen zu wollen.
Also gut!
Ich fuhr eines schönen Tages auf ihm am badischen Ufer des Untersees
entlang,
und zwar war die Situation so: ich kam aus einem Walde heraus, der
hochgelegen
war, und fuhr eine Weile planeben, wie mir schien; in Wahrheit aber
fiel der
Weg bereits ein wenig, was ich aber nicht bemerkte, weil ich eben eine
Siziliane
dichtete, eine Strophe, die italienischer Herkunft ist, weshalb sie
immer zwei
Reime mehr erfordert, als man im Deutschen leicht findet. Nun können
Sie sich
denken, daß man nicht zugleich Reime fangen und auf den Weg achtgeben
kann, und
mir war natürlich der Reim wichtiger, als der Weg — denn es
gibt
überhaupt nichts
Wichtigeres auf der
Welt als gute Reime.
So kam es denn, daß ich,
just als ich meinen Reim gefunden
hatte, die Pedale verlor, weil es plötzlich in einem ganz unmöglichen
Winkel
bergab ging. Ich fühlte deutlich, wie Patsch von einem Todesschrecken
durchrieselt wurde, als seine Pedale keine Leitung mehr fühlten und
sich in
einem wahnsinnigen Tempo wirbelig drehten, und ich selbst hatte auch
die
deutliche Empfindung, daß ich in wenigen Sekunden irgendwo in der Tiefe
fragmentarisch anlangen würde. Also ultima ratio: die Bremse.
Lächerliche Illusion! Zwar verbreitete sich augenblicks ein penetranter
Geruch
von heiß gewordenem Kautschuk, aber das Tempo der Abfuhr verminderte
sich so
gut wie nicht. Dafür kam mir ein Ochsenfuhrwerk gemächlich, aber sicher
entgegen, und ich vermochte mir, phantasievoll wie ich nun einmal bin,
mit
Blitzesschnelle auszumalen, wie in fünf Sekunden Patsch an der
Gabeldeichsel,
ich aber am Horn eines der Ochsen hängen würde.
Mein
letzter Gedanke war der
eben gefundene Reim: Karbatschen, den ich als Befähigungsnachweis für
die
Seligkeit mit
in die Ewigkeit
hinübernehmen wollte, die sich meinen angstvoll aufgerissenen Augen wie
ein Tor
mit durcheinanderkreisenden Feuerrädern auftat — da machte Patsch
einen Riesensatz nach rechts und raste auf einen Steinhaufen los. O du
Patsch
der Pätsche, o du Wunder von einem Patsch! Das war meine Rettung, aber
dein
Ruin. Der brave Cleveländer hatte sich, ein leuchtendes Beispiel von
Dienertreue, für mich aufgeopfert. Er nahm den Steinhaufen, torkelte
noch ein
Stück der dahinter liegenden Böschung hinan, dann fiel er erschöpft und
ohnmächtig um, und ich lag, die Hände in seine Speichen gekrampft, auf
ihm. Wie
es sich gebührt, sah ich erst nach, was ihm fehlte. Nun: er hatte
seinen Knacks
weg. Das eine Pedal war ganz ab, das andere baumelte nur noch; die
Lenkstange
hatte sich völlig verdreht; die Pneumatiks waren zerschlitzt.
Der
arme Kerl tat mir
furchtbar leid, obwohl ich vollkommen Ursache hatte, mir selbst leid zu
tun,
denn auch meine Pedale, sowie die vorstehenden Teile des Gesichtes
befanden
sich in einem mehr pathologischen als
ästhetischen Zustande. So hinkten wir beide nach Hause.
Bei
Patschs guter
Clevelandkonstruktion versteht es sich von selbst, daß er
wiederhergestellt
werden konnte. Und er wurde wieder hergestellt. Aber er blieb für mein
Gefühl
doch ein Krüppel, ein mißliebiger Anblick. So sind wir Menschen.
Dankbarkeit
und Treue sind bei einem anständigen Subjekt von Rad öfter zu finden,
als bei
uns. Ich beschloß, ihm zwar das Gnadenöl zu geben, mir aber doch ein
neues Rad
anzuschaffen.
Ich
hätte für diese
Herzlosigkeit verdient, ein ganz niederträchtiges Wesen aufgehängt zu
bekommen,
das sein Geschlecht an mir mit tausend Tücken gerächt hätte, und siehe
da — was ist das
für eine Weltordnung! — ich bekam, als sollte meine
Gemütsroheit
auch noch prämiiert werden, das Rad der Räder, das Überrad: Tirili.
Auch
Tirili entstammt der
Clevelandfamilie, doch gehört sie deren adeligem Zweig an, der
Baronlinie der
Luxusmodelle. Es wäre Vermessenheit, wollte ich versuchen, ihr Äußeres
zu
schildern. Sie ist
einfach ein
Erzengel an Schönheit und dabei hat sie einen Kettenschutz aus
Hartgummi und
ölt sich selbst.
Ich
will Ihnen lieber eins
der Begebnisse erzählen, die ich in letzter Zeit mit ihr erlebte;
daraus werden
Sie am besten ersehen, welch edle Seele ihr innewohnt, welch adlige
Eigenschaften sie besitzt, von welcher Fülle aller Reize sie umflossen
ist. Der
alte, gute, treue Patsch erscheint mir neben ihr ganz einfach als
Omnibus — ich kann mir
nicht helfen, so frevelhaft undankbar das auch klingen mag.
Gewiß,
er überragte den
Durchschnitt; er war ein Talent; aber Tirili ist unendlich viel mehr,
Tirili
ist ein Genie, ein Wunder. Man sollte von ihr nur in Versen reden oder,
besser
noch, man müßte nur Herrn Stephan George darüber in Versen reden
lassen, denn
nur das erhabene Lallen ist die kongeniale Ausdrucksweise für Tirili.
Nun
lächeln Sie natürlich
alle und finden, daß ich überschwänglich bin. Aber Sie werden gleich
anders
denken, wenn Sie hören, was mir kürzlich mit Tirili passiert ist.
Es
war ein schöner
Herbstmorgen und die Luft so
klar, daß die bayrischen Alpen wie zum Greifen nahe vor mir lagen.
Trotzdem
gedachte ich nur ins Dachauer Moos hinaufzufahren, wo, wie Sie wissen,
die
Wiege des malerischen Münchner Naturalismus stand, weshalb einige
Pietät und ab
und zu eine Radpartie wohl geboten erscheint. Gleichzeitig wollte ich
bei
dieser Gelegenheit den letzten Akt eines Dramas dichten, das Sie
hoffentlich
nicht aus Empörung über diese Geschichte auspfeifen werden, wenn es
aufgeführt
wird. Denn ich dichte immer, wenn ich auf Tirili sitze, es sei denn,
daß mir
durchaus nichts einfiele. Sie meinen: ich sollte lieber lenken? Da
kennen Sie
Tirili schlecht. Das gute Mädchen würde es als eine Beleidigung
auffassen,
wollte ich die Lenkstange auch nur angreifen. Sie liest offenbar
Gedanken, denn
bis jetzt hat sie mich immer dorthin geführt, wohin ich wollte, oder
wohin
meine Gedanken sich richteten.
Also
gut. Ich tätschelte
Tirili freundlich sowohl auf die vordere als auf die hintere Pneumatik,
freute
mich, wie drall und prall das alles war,
und heidi ging es hinaus, die Nymphenburger Allee entlang. Schon am
Fenster der
hübschen Nähmamsell links kam der Geist über mich, und ich begann ein
so heißes
Dichten, daß ich weder vorwärts, noch rechts und links, sondern nur
immer in
mich hineinsah, wo sich der letzte Akt meines Dramas glatt und con
amore
abspielte. Dieses Schauspiel interessierte mich riesig, und ich sah
nicht eher
aus mir heraus, als bis die Heldin so tot war, wie es nur eine Heldin
sein
kann, die es nach göttlichem und menschlichem Recht verdient, tot zu
sein. Wer
beschreibt aber mein Erstaunen, als ich, wie ich mich nun befriedigt
umsah,
mich nicht etwa in Dachau, sondern auf dem Gipfel eines Berges
erblickte, den
ich dank meiner Vorbildung auf einem deutschen Gymnasium sofort als die
Zugspitze erkannte? Du lieber Gott, sagte ich zu mir, die Zugspitze ist
doch
2974 Meter hoch und ganz voll Eis und Schnee, und der Arzt hat mir
ausdrücklich
verboten, größere Steigungen zu nehmen und mich Erkältungen
auszusetzen — da ging es auch schon
wieder abwärts, und nur mit Hilfe der wunderbaren Röllchenbremse
gelang es mir, einige Wände
ohne Unfall hinabzukommen. Aber bei allem Bremsen mußte ich doch in
einem ganz
unerhörten Tempo begriffen sein, denn nur dies vermag den Umstand zu
erklären,
den ich Ihnen sofort und ohne viele Worte berichten will.
Ich
sause also hinunter und
komme plötzlich in eine Klamm, die, rechts und links von senkrecht
aufragenden
Felsen eingeschlossen, nur oben Raum für einen ganz schmalen, überdies
völlig
beeisten Weg bot. Ich hatte meine Beine auf die Lenkstange gelegt und
hielt die
Arme verschränkt, wie ich immer zu tun pflege, wenn ich mir sagen muß:
hier
kann nur Tirili allein helfen.
Da,
denken Sie sich meinen
Schreck, sah ich am Ende der Klamm einen dicken Bauern auf mich
zukommen,
dessen breite Figur den Weg völlig einnahm. Einen Moment kam mir der
idiotische
Gedanke, zu läuten, aber da war ich auch schon — ja, wie soll
ich nun sagen: über den Bauern weg oder durch den Bauern durchgefahren?
Ich muß
unbedingt an die letztere Möglichkeit glauben, denn ich bin mir
durchaus nicht bewußt, daß wir, Tirili und ich, über ihn weggesprungen
sind.
Andrerseits war freilich an mir und dem Rad nicht das geringste zu
sehn, das
darauf hätte hindeuten können, daß wir durch einen leibhaftigen Bauern
hindurchgefahren waren. Aber, wenn Sie die Schnelligkeit bedenken, mit
der dies
offenbar geschehen war, so ist dieser Nebenumstand ja nicht weiter
verwunderlich. Auf alle Fälle ersuche ich Sie, nicht auf die Idee zu
verfallen,
ich hätte den Bauern überfahren. Einen so häßlichen Gedanken müßte ich
auf das
bestimmteste zurückweisen; ich überfahre nie jemand, sei es Bürger,
Bauer oder
Edelmann.
In weniger Zeit, als Sie
gebraucht haben, dieses kleine Abenteuer anzuhören, befand ich mich
danach auf
der Landstraße zwischen Planegg und München, und zwar der Stadt schon
sehr
nahe. Tirili verlangsamte ihre Gangart, und wir bummelten in dem Tempo
dahin,
das ich immer für das beste zum Dichten von Elegien erfunden habe. Ich
begann
sofort eine in sechsfüßigen Jamben auf das goldene Haar meiner
Geliebten. Schon
war ich am Ende des
Gedichts
angelangt, an diesem höchst wirkungsvollen Schluß, wo ich es mir als
seligsten
Tod wünsche, mich an diesen goldenen Strähnen aufzuhängen — da
kommt mir dieselbichte
Geliebte höchstselbst entgegen, und zwar auf einem schneeweißen
Zelter — ich darf in
diesem Zusammenhang dieses poetische Wort anwenden. Sie können sich
meinen
süßen Schrecken denken! Aber kaum hatte ich sein holdes Rieseln durch
das
Rückenmark gekostet, da kam ein gallebitterer Schrecken hinterdrein:
Hölle und
Teufel — ein Galan ritt neben ihr, ein schwarzes,
hakennasiges Herrchen in einer grünen Weste auf einem riesigen Fuchs.
Meine
Eitelkeit zischelte mir zu: welche Figur wirst du neben der Hakennase
spielen,
die auf einem hohen Gaul sitzt, während du auf einem Rad hockst, und
wäre es
auch Tirili, die Unvergleichliche. Und ich gedachte, mich rechts in die
Büsche
zu schlagen. Aber da waren die beiden auch schon da, und ich mitten
zwischen
ihnen, und ich reichte meiner Königin die Hand.
Wie
ist das nur möglich,
dachte ich mir, daß ich
diese holde Hand im grauen Reithandschuh von Tirilis Sattel aus so
leicht
erreichen konnte — da merkte ich, daß ich mich mit der
Hakennase in gleicher Höhe befand, und das Herrchen sagte etwas von
einer
famosen Isabelle, auf der ich ritte.
Der
Mensch sah Tirili für eine falbe Stute
an! Das muß von der Farbe der Spelgen Tirilis herkommen; anders kann
ich es mir
nicht erklären. Aber die Höhe! Die Höhe! Und Tirili kann doch nicht
wiehern!
Mir war zumute, wie wenn ich der Held in einer Geschichte von E. T. A.
Hoffmann
wäre, und ich freute mich, als die beiden sich mit den Worten
verabschiedeten: ”Mit Ihnen kommt man ja doch nicht mit!“ Kaum
waren diese Worte verklungen, da sah ich, daß
ich an meinem Hause angekommen war. Es war genau eine Stunde seit
Beginn meiner
Ausfahrt vergangen, und man sah Tirili durchaus nicht an, daß wir auf
der
Zugspitze gewesen waren.
Sind
Sie paff? Ich bin es
nicht. Ich erlebe täglich solche Sachen mit Tirili. Pegasus mit den
Gänseflügeln war ja zu jenen zurückgebliebenen
Zeiten ein ganz passables Reitpferd für Dichter, aber wenn Pindar heute
nochmals geboren würde — auch er würde einen Cleveländer
vorziehen. Meine
Tirili kriegt er aber nicht.