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Literatur


04.3


Geschichten

Max Dauthendey




Das Giftfläschchen II


Der Sommer war hier früher zu Ende, als man sich in Deutschland vorstellen kann. Und in den ersten Tagen des August sahen die Frau, die ich liebe, und der ich noch nichts von dem Giftfläschchen in meiner Westentasche erzählt hatte, und ich, wir beide sahen mit Frösteln das schnelle Müdewerden der nordischen Sommersonne. Und eine unbändige Sehnsucht nach neuer Sonne wachte jeden Morgen mit uns auf und war jeden Abend unser letztes Gespräch.

Frauen, die sich sehr geliebt fühlen, fassen immer resoluteste Entschlüsse. So sagte diese Frau eines Tages:

„Wir wollen nach Italien. Dort ist es noch Hochsommer. Es ist viel zu spät für die lappländische Reise. Wir würden nur den schönen Eindruck von Koster verwischen. Schweden ist zu schön, als dass man es in einem Sommer flüchtig durchreisen kann. Man muss viele Sommer darauf verwenden, um alle seine Schönheiten zu erreisen. Damit wir den Norden recht verstehen, sollen wir jetzt als Kontrast den Süden aufsuchen.“

Ich deutete schwerfällig und gewissenhaft wie jeder Mann auf den großen Koffer, in welchem die Wintersachen für Lappland lagen, auf Pelz und Wolle. „Sollen die ganz umsonst hieher gewandert sein?“ fragte ich.

Aber hartnäckig, weil sie meine Sehnsucht nach Sonne kannte, sagte die Frau:
„Wenn du soviel Respekt vor Koffern hast, möchte ich sie schon gleich ins Meer versenken.“
„Gerade so wie ich mein Giftfläschchen,“ entfuhr es mir. Und nun musste ich die ganze Geschichte vom Giftfläschchen, das mir wie ein Dämon in der Westentasche saß, und das den Kapitän wie ein Dämon dreißig Jahre lang gefoltert hatte, meiner Geliebten erzählen.

„Das ist ein neuer Grund,“ rief diese erfinderisch aus. „Ich sehe, du und ich, wir werden dieses Giftfläschchen eben sowenig los wie der Heide, der Kapitän. Aber es fällt mir gar nicht ein, deine Liebe mit einer Giftflasche zu teilen. Wir müssen nach Rom und das Gift an der einzigen Stelle der Welt, wo es hingehört und keinen Schaden anrichtet, abliefern.“

„Ja, wenn noch in Rom die alten Römer leben würden,“ meinte ich. „Aber dort sind ja nur Ruinen, wie du selbst immer sagst.“

„Dort ist der heilige Vater! Seiner Heiligkeit drückst du einfach das Fläschchen in die Hand, so wie es der Kapitän dir plötzlich in die Hand gedrückt hat.“

„Liebende Frauen sind weise Frauen,“ sagte ich. Und indessen sie die Koffer packte und die Wolle für Lappland zu unterst stopfte und dabei italienische Lieder vor sich hin sang, reiste ich in sechzig Stunden von Strömstad direkt nach Rom, immer das Giftfläschchen in der Westentasche betastend, dass es mir nicht auskäme.

Als ich in Rom dann das Fläschchen Seiner Heiligkeit in die Hand drückte, wie es mir die weise und liebe Frau geraten hatte, lächelte Pius und sagte verständnisvoll:

„Das macht nichts, das kommt öfters vor.“

„Natürlich,“ sagte ich eilfertig aus Verlegenheit. „Darf ich Eure Heiligkeit fragen, was Sie damit anfangen werden,“ setzte ich neugierig hinzu.

„Das stellen wir zu den andern,“ nickte der Papst. Und ebenso nickte Seine Eminenz, der Kardinal del Val, der bei meiner Audienz zugegen war: „Das stellen wir zu den andern.“

Das Gespräch wurde in den vatikanischen Gärten geführt, die mir durch ihre Regelmäßigkeit, regelrecht gestutzte Taxushecken, etwas pedantisch und langweilig vorkamen, mir, der ich gerade von der Insel der heiligen Kühe kam, vom Lande, wo die Steine sprechen, von Wacholder, wilden Rosen und Urgestein, von der schwedischen Heideninsel, wo in der blauen Glocke des Himmels die Sonne täglich zu einem Fest geglänzt hatte, wo das große freie Meer geläutet hatte, und wo die Fischerleute arm, bescheiden und ehrlich waren wie der Fischer Petrus und wie die Apostel, welche einst Fischer waren am See Genezareth.

„Und um die Erde sind Sie auch gereist?“ meinte Seine Eminenz der Kardinal. „Und haben einen amerikanischen Bischof unterwegs getroffen, der von allen Göttern der Welt ein Probebild mit nach Philadelphia nahm! Der ganze Vatikan hat diesen Winter „die geflügelte Erde“ studiert. Wenn die sündige Erde wirklich rundum so voll schöner Wunder ist, wie Sie da beschreiben, dann gibt sie uns hier vieles Nachdenken. Wir hatten wirklich nicht geglaubt, dass noch etwas irdisch Schönes an der Welt wäre. Wir dachten, wir hätten alles Verführerische mit heiliger Christenstrenge ausgemerzt.“

„O!“ rief ich aus und machte meinen Mund größer auf, als in den vatikanischen Gärten erlaubt ist, „wenn Sie nur ‚die geflügelte Erde‘ gelesen haben, dann haben Sie noch nicht vom Schönsten gehört, was ich gesehen habe.“

Seine Heiligkeit, welche wir auf den Wegen des Gartens zwischen uns gehen ließen, setzte sich auf das Stühlchen, das die Schweizer Wache, die hinter uns ging, ihm unterschob. Der Papst hielt immer noch mein Giftfläschchen zwischen den Fingern, obwohl es ihm der Kardinal öfters hatte abnehmen wollen. Der Papst hielt das Giftfläschchen gegen die Sonne:

„Wieviel Gifttropfen sind darin und wie wirken sie?“

Ah, dachte ich. Dem Papst geht es jetzt wie dem Heiden auf Koster. Der Kapitän hat das Fläschchen auch nicht mehr hergegeben, als er es einmal zwischen den Fingern hatte. Und obwohl ich vom Allerschönsten, was es auf der Welt gab, eben hatte erzählen wollen, hatte der Papst nicht zugehört, sondern immer an das Gift denken müssen.

Der Kardinal kam mir zuvor und beantwortete die Fragen, die das Gift betrafen, und ich bewunderte dabei des Kardinals scharfes Gedächtnis, der alles genau behalten hatte, was ich ihm über das Giftfläschchen vorher mitgeteilt hatte.

„Was gibt es Schöneres in der Welt als Rom,“ fragte der Papst, schwärmerisch durch das Giftfläschchen den römischen Himmel betrachtend.

„Die Insel Koster,“ sagte ich prompt. „Dort würden Eure Heiligkeit sich einmal recht von allem Glockengeläute erholen.“

Auch der Kardinal ließ sich jetzt von der Schweizer Wache, die auf seinen Wink herbei eilte, ein Stühlchen unterschieben.

Da saßen sie nun vor mir in dem Taxusheckengang, Seine milde Heiligkeit im weißen fleckenlosen Gewand und der Kardinal im Scharlachkleid.

Wenn jetzt nur die Frau, die ich liebe, und die ich auf Koster singend beim Kofferpacken zurückgelassen habe, aus der Taxushecke käme! Nur sie könnte mir jetzt aus der peinlichen Verlegenheit helfen, dachte ich. Denn dieses mit dem Glockengeläute habe ich verkehrt gesagt, das sah ich den beiden Italienern an den gelben Gesichtern an.

„Die Insel Koster, trotzdem sie keine Kirche und keine Glocken hat,“ fuhr ich fort und eilte mich mit den Worten, um mich bei den Italienern wieder in Gunst zu reden, „diese Insel Koster ist nämlich heute noch der unschuldigste Platz der Welt. Dort gab es noch nie eine Lüge, nie einen Diebstahl, nie einen Mord; nie musste dort jemals das Gericht einschreiten und keine Polizei. Die Menschen dort sind noch die reinsten unschuldigsten Heiden,“ platzte ich heraus, weil mich die hochmütigen Gesichter der römischen Herren ärgerten.

Meine Worte mussten sehr gut gewirkt haben, denn Seine Heiligkeit lächelte Seine Eminenz an, und Seine Eminenz lächelte Seine Heiligkeit an. Und diese Lächeln gingen miteinander über die Taxushecken, über die Palmen und über die weißen Geländer der Terrassen des vatikanischen Gartens, versöhnlich hinauf bis in den üppigen blauen römischen Himmel.

Der Papst hob das Giftfläschchen, das zugleich mit dem großen Ring am Daumen seiner Hand funkelte, wieder ans Licht.

Die Allmacht dieses Siegelringes zuckte mir zu gleicher Zeit mit dem Schiller des Giftfläschchens entgegen. Ich verstand nicht sogleich, dass diese Geste des Papstes mir meine schöne unschuldige Insel Koster beleidigen wollte.

„Menschliches Gift kann lange im Verborgenen leben,“ sagte der alte Mann mit den blassen Wangen, mit dem blassen Kinn, mit der blassen Nase und mit den blassen Augen, die mir plötzlich unheimlich lebensmüde aus dem dunkelgrünen schwülen Palmengarten entgegenleuchteten.

„Lieber Dichter, habt Ihr nicht dieses Gift, wie Ihr erzählet, von jener Barbareninsel gebracht?“ tönte es ironisch von seinen blassen Lippen.

„Ja,“ sagte ich eifrig, meine Insel Koster verteidigend. „Das Gift kam von der Welt dorthin. Aber jetzt ist kein Gifttropfen mehr dort. Ich habe alles Gift Eurer Heiligkeit gebracht, direkt nach einer Sechzigstundenfahrt, und das Giftfläschchen gleich übergeben, damit Eure Heiligkeit es aus der Welt schaffen.“

„Mein Lieber,“ sagte die weiße Figur vor mir, die da unter dem blauen römischen Himmel im Garten zugleich mit dem Kardinal von dem Stühlchen aufstand, und deren weiße Lippen tief Atem holten, als wollten sie mir eine tiefe Wahrheit sagen, und ich dachte schon vorschnell:

Seine Heiligkeit wird sagen: nichts kann das Gift der Welt aus der Welt schaffen,  nicht der Papst, nicht der Dichter, nicht die Christen, nicht die Heiden. Und ich dachte, dass ich mit dieser großen Weisheit dann entlassen würde.

Aber nein, – Pius reichte mir nur die Hand, die das Giftfläschchen hielt, zum Abschiedskuss, und mit den Augen auf das Fläschchen deutend:

„Mein Lieber, wir werden es zu den andern stellen.“ – – –

„Wenn das nur nicht großes Unglück anstiftet,“ sagte später die Frau, die ich liebe, zu mir. „Das kann nicht gut sein, wenn man im Vatikan ein Giftfläschchen zum andern stellt. Der Kapitän auf Koster, der dreißig Jahre das Fläschchen aufbewahrt hatte, ist ganz wild davon geworden, und die Leute nannten ihn schließlich einen Heiden. Wenn nur nicht der ganze Vatikan von dem Kostergift wild wird!“
Und wirklich, die viel geliebte Frau hatte wieder recht. Ein paar Wochen später schon begann die Geschichte mit den Modernisteneiden, und die Bannflüche fliegen seitdem wie Giftpfeile aus dem Vatikan über die Alpen.

„Das kommt davon,“ sage ich zu meiner Frau (wenn ich die Bayerische Landeszeitung aus der Hand lege, worin der Memminger so genau die Zustände und die Aufregungen des Papstes schildert), – „das kommt davon, dass der Papst als Ratgeber nur Kardinäle und keine Frau hat. Die Liebe einer Frau ratet besser als alle Kardinäle.“ –


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Textgrundlage: "Das Giftfläschchen" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden",
Seite 7 - 40.

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: "Die Musik I", Gustav Klimt, EJ: 1895,
Aufbewahrung: München, Bayerische
Staatsgemäldesammlung, gemeinfrei

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