Geschichten
Max Dauthendey
Der
Sommer
war hier früher
zu Ende, als man sich in Deutschland vorstellen kann. Und in
den ersten Tagen des August sahen die Frau, die ich liebe, und der ich
noch
nichts von dem Giftfläschchen in meiner Westentasche erzählt hatte, und
ich,
wir beide sahen mit Frösteln das schnelle Müdewerden der nordischen
Sommersonne. Und eine unbändige Sehnsucht nach neuer Sonne wachte jeden
Morgen
mit uns auf und war jeden Abend unser letztes Gespräch.
Frauen, die sich sehr
geliebt fühlen, fassen immer resoluteste Entschlüsse. So sagte diese
Frau eines
Tages:
„Wir wollen nach Italien.
Dort ist es noch Hochsommer. Es ist viel zu spät für die lappländische
Reise.
Wir würden nur den schönen Eindruck von Koster verwischen. Schweden ist
zu
schön, als dass man es in einem Sommer flüchtig durchreisen kann. Man
muss viele
Sommer darauf verwenden, um alle seine Schönheiten zu erreisen. Damit
wir den
Norden recht verstehen, sollen wir jetzt als Kontrast den Süden
aufsuchen.“
Ich deutete schwerfällig
und gewissenhaft wie jeder Mann auf den großen Koffer, in welchem die
Wintersachen
für Lappland lagen, auf Pelz und Wolle. „Sollen die ganz umsonst hieher
gewandert sein?“ fragte ich.
Aber hartnäckig, weil sie
meine Sehnsucht nach Sonne kannte, sagte die Frau:
„Wenn du soviel Respekt
vor Koffern hast, möchte ich sie schon gleich ins Meer versenken.“
„Gerade so wie ich mein
Giftfläschchen,“ entfuhr es mir. Und nun musste ich die ganze
Geschichte vom
Giftfläschchen, das mir wie ein Dämon in der Westentasche saß, und das
den
Kapitän wie ein Dämon dreißig Jahre lang gefoltert hatte, meiner
Geliebten
erzählen.
„Das ist ein neuer
Grund,“
rief diese erfinderisch aus. „Ich sehe, du und ich, wir werden dieses
Giftfläschchen eben sowenig los wie der Heide, der Kapitän. Aber es
fällt mir
gar nicht ein, deine Liebe mit einer Giftflasche zu teilen. Wir müssen
nach Rom
und das Gift an der einzigen Stelle der Welt, wo es hingehört und
keinen
Schaden anrichtet, abliefern.“
„Ja, wenn noch in Rom die
alten Römer leben würden,“ meinte ich. „Aber dort sind ja nur Ruinen,
wie du
selbst immer sagst.“
„Dort ist der heilige
Vater! Seiner Heiligkeit drückst du einfach das Fläschchen in die Hand,
so wie
es der Kapitän dir plötzlich in die Hand gedrückt hat.“
„Liebende Frauen sind
weise Frauen,“ sagte
ich. Und indessen sie die Koffer packte und die Wolle für Lappland zu
unterst
stopfte und dabei italienische Lieder vor sich hin sang, reiste ich in
sechzig
Stunden von Strömstad direkt nach Rom, immer das Giftfläschchen in der
Westentasche betastend, dass es mir nicht auskäme.
Als ich in Rom dann das
Fläschchen Seiner Heiligkeit in die Hand drückte, wie es mir die weise
und
liebe Frau geraten hatte, lächelte Pius und sagte verständnisvoll:
„Das macht nichts, das
kommt öfters vor.“
„Natürlich,“ sagte ich
eilfertig aus Verlegenheit. „Darf ich Eure Heiligkeit fragen, was Sie
damit
anfangen werden,“ setzte ich neugierig hinzu.
„Das stellen wir zu den
andern,“ nickte der Papst. Und ebenso nickte Seine Eminenz, der
Kardinal del
Val, der bei meiner Audienz zugegen war: „Das stellen wir zu den
andern.“
Das Gespräch wurde in den
vatikanischen Gärten geführt, die mir durch ihre Regelmäßigkeit,
regelrecht
gestutzte Taxushecken, etwas pedantisch und langweilig vorkamen, mir,
der ich
gerade von der Insel der heiligen Kühe kam, vom Lande,
wo die Steine sprechen, von Wacholder,
wilden Rosen und Urgestein, von der schwedischen Heideninsel,
wo in der blauen Glocke des Himmels die Sonne
täglich zu einem Fest geglänzt hatte, wo das große freie Meer geläutet
hatte,
und wo die Fischerleute arm, bescheiden und ehrlich waren wie der
Fischer
Petrus und wie die Apostel, welche einst Fischer waren am See
Genezareth.
„Und um die Erde sind Sie
auch gereist?“ meinte Seine Eminenz der Kardinal. „Und haben einen
amerikanischen Bischof unterwegs getroffen, der von allen Göttern der
Welt ein
Probebild mit nach Philadelphia nahm! Der ganze Vatikan hat diesen
Winter „die
geflügelte Erde“ studiert. Wenn die sündige Erde wirklich rundum so
voll
schöner Wunder ist, wie Sie da beschreiben, dann gibt sie uns hier
vieles
Nachdenken. Wir hatten wirklich nicht geglaubt, dass noch etwas irdisch
Schönes
an der Welt wäre. Wir dachten, wir hätten alles Verführerische mit
heiliger
Christenstrenge ausgemerzt.“
„O!“ rief ich aus und
machte meinen Mund größer auf, als in den vatikanischen Gärten erlaubt
ist,
„wenn Sie nur ‚die geflügelte Erde‘ gelesen haben, dann haben
Sie noch
nicht vom Schönsten gehört, was ich gesehen habe.“
Seine Heiligkeit, welche
wir
auf den Wegen des Gartens zwischen uns gehen ließen, setzte sich auf
das
Stühlchen, das die Schweizer Wache, die hinter uns ging, ihm
unterschob. Der
Papst hielt immer noch mein Giftfläschchen zwischen den Fingern, obwohl
es ihm
der Kardinal öfters hatte abnehmen wollen. Der Papst hielt das
Giftfläschchen
gegen die Sonne:
„Wieviel Gifttropfen sind
darin und wie wirken sie?“
Ah, dachte ich. Dem Papst
geht es jetzt wie dem Heiden auf Koster. Der Kapitän hat das Fläschchen
auch
nicht mehr hergegeben, als er es einmal zwischen den Fingern hatte. Und
obwohl
ich vom Allerschönsten, was es auf der Welt gab, eben hatte erzählen
wollen,
hatte der Papst nicht zugehört, sondern immer an das Gift denken müssen.
Der Kardinal kam mir
zuvor
und beantwortete die Fragen, die das Gift betrafen, und ich bewunderte
dabei
des Kardinals scharfes Gedächtnis, der alles genau behalten hatte, was
ich ihm
über das Giftfläschchen vorher mitgeteilt hatte.
„Was gibt es Schöneres in
der Welt als Rom,“
fragte der Papst, schwärmerisch durch das Giftfläschchen den römischen
Himmel
betrachtend.
„Die Insel Koster,“ sagte
ich prompt. „Dort würden Eure Heiligkeit sich einmal recht von allem
Glockengeläute erholen.“
Auch der Kardinal ließ
sich jetzt von der Schweizer Wache, die auf seinen Wink herbei eilte,
ein
Stühlchen unterschieben.
Da saßen sie nun vor mir
in dem Taxusheckengang, Seine milde Heiligkeit im weißen fleckenlosen
Gewand
und der Kardinal im Scharlachkleid.
Wenn jetzt nur die Frau,
die ich liebe, und die ich auf Koster singend beim Kofferpacken
zurückgelassen
habe, aus der Taxushecke käme! Nur sie könnte mir jetzt aus der
peinlichen
Verlegenheit helfen, dachte ich. Denn dieses mit dem Glockengeläute
habe ich
verkehrt gesagt, das sah ich den beiden Italienern an den gelben
Gesichtern an.
„Die Insel Koster,
trotzdem sie keine Kirche und keine Glocken hat,“ fuhr ich fort und
eilte mich
mit den Worten, um mich bei den Italienern wieder in Gunst zu reden,
„diese
Insel Koster ist nämlich heute noch der unschuldigste Platz
der Welt. Dort gab es noch nie eine Lüge, nie einen Diebstahl, nie
einen Mord;
nie musste dort jemals das Gericht einschreiten und keine Polizei. Die
Menschen
dort sind noch die reinsten unschuldigsten Heiden,“ platzte ich heraus,
weil
mich die hochmütigen Gesichter der römischen Herren ärgerten.
Meine Worte mussten sehr
gut gewirkt haben, denn Seine Heiligkeit lächelte Seine Eminenz an, und
Seine
Eminenz lächelte Seine Heiligkeit an. Und diese Lächeln gingen
miteinander über
die Taxushecken, über die Palmen und über die weißen Geländer der
Terrassen des
vatikanischen Gartens, versöhnlich hinauf bis in den üppigen blauen
römischen
Himmel.
Der Papst hob das
Giftfläschchen, das zugleich mit dem großen Ring am Daumen seiner Hand
funkelte, wieder ans Licht.
Die Allmacht dieses
Siegelringes zuckte mir zu gleicher Zeit mit dem Schiller des
Giftfläschchens
entgegen. Ich verstand nicht sogleich, dass diese Geste des Papstes mir
meine
schöne unschuldige Insel Koster beleidigen wollte.
„Menschliches Gift kann
lange im Verborgenen leben,“
sagte der alte Mann mit den blassen Wangen, mit dem blassen Kinn, mit
der blassen
Nase und mit den blassen Augen, die mir plötzlich unheimlich lebensmüde
aus dem
dunkelgrünen schwülen Palmengarten entgegenleuchteten.
„Lieber Dichter, habt Ihr
nicht dieses Gift, wie Ihr erzählet, von jener Barbareninsel gebracht?“
tönte
es ironisch von seinen blassen Lippen.
„Ja,“ sagte ich eifrig,
meine Insel Koster verteidigend. „Das Gift kam von der Welt dorthin.
Aber jetzt
ist kein Gifttropfen mehr dort. Ich habe alles Gift Eurer Heiligkeit
gebracht,
direkt nach einer Sechzigstundenfahrt, und das Giftfläschchen gleich
übergeben,
damit Eure Heiligkeit es aus der Welt schaffen.“
„Mein Lieber,“ sagte die
weiße Figur vor mir, die da unter dem blauen römischen Himmel im Garten
zugleich mit dem Kardinal von dem Stühlchen aufstand, und deren weiße
Lippen
tief Atem holten, als wollten sie mir eine tiefe Wahrheit sagen, und
ich dachte
schon vorschnell:
Seine
Heiligkeit wird
sagen: nichts kann das Gift der Welt aus der Welt schaffen,
nicht der Papst, nicht der Dichter, nicht die Christen, nicht die
Heiden. Und ich dachte, dass ich mit dieser großen Weisheit dann
entlassen
würde.
Aber nein, – Pius reichte
mir nur die Hand, die das Giftfläschchen hielt, zum Abschiedskuss, und
mit den
Augen auf das Fläschchen deutend:
„Mein Lieber, wir werden
es zu den andern stellen.“ – – –
„Wenn das nur nicht
großes
Unglück anstiftet,“ sagte später die Frau, die ich liebe, zu mir. „Das
kann
nicht gut sein, wenn man im Vatikan ein Giftfläschchen zum andern
stellt. Der
Kapitän auf Koster, der dreißig Jahre das Fläschchen aufbewahrt hatte,
ist ganz
wild davon geworden, und die Leute nannten ihn schließlich einen
Heiden. Wenn
nur nicht der ganze Vatikan von dem Kostergift wild wird!“
Und wirklich, die viel
geliebte
Frau hatte wieder recht. Ein paar Wochen später schon begann die
Geschichte mit
den Modernisteneiden, und die Bannflüche fliegen seitdem wie Giftpfeile
aus dem
Vatikan über die Alpen.
„Das
kommt davon,“ sage
ich zu meiner Frau (wenn ich die Bayerische Landeszeitung aus
der Hand lege, worin der Memminger so genau die Zustände und die
Aufregungen
des Papstes schildert), – „das kommt davon, dass der Papst als Ratgeber
nur
Kardinäle und keine Frau hat. Die Liebe einer Frau ratet besser als
alle
Kardinäle.“ –
oben
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Textgrundlage: "Das Giftfläschchen" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus
den Vier Winden",
Seite 7 - 40.
wikimedia
Logo 129: "Die Musik I", Gustav
Klimt, EJ: 1895,
Aufbewahrung: München, Bayerische
Staatsgemäldesammlung, gemeinfrei
zeno.org
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