lifedays-seite

moment in time

 

  
Literatur


04.3


Geschichten

Max Dauthendey




 Himalayafinsternis II


„Hören Sie die Lawinen, die bei Sonnenaufgang sich von den Gletschern lösen und in die Tiefe donnern?“ sagte ein Herr neben mir zu einer Dame. Dann war tiefe Stille. Keine Teetasse klapperte, kein Schritt im Schnee knirschte mehr. Die Pferde spitzten die Ohren und schnupperten. Drüben im Nebel, über einem tageweiten Abgrund, erschien der fleischige Arm eines Riesen, die rosige fleischige Brust einer Frau, Nacken, Schultern, Hüften in gigantischen Dimensionen. Es waren die Umrisse des Mount Everest und des Kantschindschanga, die wie ein nacktes Riesenpaar höher als der Mond im Himmel lagen.

„Die Sonne,“ flüsterte eine Dame.

Ich sah über meine Schulter von den Bergen fort und entdeckte eine rote glühende Lawine, die sich auf Nebelfeldern kaum merklich fortrollte und größer und röter wurde, – die Sonne. Wie eine große rote Sintflut gab sie den Gletschern Blut und machte den Schnee zu Fleisch.

Im selben Augenblick, mitten in diesem feierlichsten Augenblick des Sonnenaufgangs, nahm jemand meine Hand, führte meine Finger in eine Westentasche und sagte: Wo ist das Amulett, das du gestern kauftest? Sehen die großen fleischfarbenen Gletscher dort nicht aus wie die Männer- und die Frauenfigur deines Amuletts, das du der Tibetfrau gestern abkauftest?

Das Amulett war nicht in meiner Westentasche. Aber das Geld, das ich dafür bezahlt hatte, die drei großen Silberstücke, befand sich wieder in meiner Westentasche.

Der Gedanke an das Amulett hatte meine Hand in die Westentasche geschoben.

Wer hat jetzt laut gelacht? Alle Gesichter sahen sich nach mir um. Es wurde mir unheimlich vor mir selbst. Wie ich meinen Pelzrock geöffnet hatte, um das Amulett zu suchen, stieg mir aus der Kleiderwärme wieder jener geheimnisvolle Blumengeruch entgegen. Aber jetzt bei der aufgehenden Sonne, in der Schneefrische des Morgens, erkannte ich in dem Geruch ein betäubendes tibetanisches Tempelräucherwerk, das, in großen Massen eingeatmet, einschläfert und Visionen verschafft, und dieser Geruch steckte noch von der Nacht her in meinen Kleidern.

Auf dem Pferderücken vorhin war mir schon der Geruch stark in die Nase gestiegen. Ich selbst war aber noch zu sehr von der Schlafzimmerluft betäubt gewesen, um seinen Ursprung zu erkennen.

Jetzt wandte ich mich mit einem energischen Ruck an den Schmetterlingshändler, um ihn zu fragen:

„Glauben Sie, dass es Amulette gibt, die ihren Besitzern so teuer sind, dass sie sie für nichts verkaufen würden? Glauben Sie, dass, wenn ein tibetanisches Weib ein solches Amulett zufällig von sich geschleudert hätte, es alle Listen seiner listigen Natur anwenden würde, um das Amulett wieder zu erhalten? Glauben Sie, dass es durch Hintertüren in die Häuser eindringen würde und sich nicht scheuen würde ein Fenster einzustoßen, um das Amulett zu erhalten?

Sie werden mir sagen: ‚Das zerbrechende Fenster würde jedermann wecken!‘ Aber ich sage Ihnen: Man kann zugleich durch das zerbrochene Fenster eine lebende Fledermaus ins Zimmer werfen, die die Aufmerksamkeit auf sich lenkt und nicht den Gedanken aufkommen lässt, dass ein Mensch mit Absicht das Fenster zerschlagen hätte. Betäubt man dann noch durch eine Räucherstange den im Zimmer Anwesenden, so ist es ein leichtes, nachher mit dem Arm durch die zerbrochene Fensterscheibe in das Zimmer zu langen, den Fensterknopf von innen aufzudrücken, durchs geöffnete Fenster vom Balkon hineinzusteigen, das verlorene Amulett zu suchen, zu finden und, wenn eine Kaufsumme dafür hergegeben war, das Geld wieder hinzulegen und das Amulett mitzunehmen.“

Alles dieses wollte ich mit energischem Entschluss den Schmetterlingshändler jetzt fragen. Ich öffnete den Mund. Aber die Worte, die ich sprechen wollte, verwandelten sich in Atemrauch, und ich hörte in meinen Ohren, dass ich sagte: „Wenn Sie wieder einige seltene Exemplare von Himalaja-Schmetterlingen haben, können Sie mir dieselben an meine Adresse nach Europa senden.“ Dabei nahm ich aus meiner Westentasche dasselbe Silbergeld, womit ich gestern schon das Amulett bezahlt hatte, und bezahlte im Voraus den Preis für drei Schmetterlinge.

Ich hatte nichts mehr gesprochen. Die Sonne war bald wieder in Nebeln verschwunden, und wir ritten im Tageslicht, das aber mehr dem Mondlicht glich, an den nebelnden Abgründen zurück nach Darjeeling.
Das Amulett fand ich nicht mehr. Es war nicht auf meinem Tisch zu Hause im Hotelzimmer, nicht in meinen Taschen, nicht in meinen Koffern.

Ich erinnerte mich jetzt, dass, als ich gestern Abend nach dem Diner durch die Billardsäle zu den Spielzimmern gegangen war, wo die befrackten Herren und die dekolletierten Damen an den grünen Spieltischen vor den lodernden Kaminen saßen, mich einen Augenblick eine Sehnsucht gepackt hatte, fortzukommen aus den europäischen Sälen, die man hier in Asien sogar noch hoch im Himalaja für verwöhnte Millionäre und Milliardäre hingestellt hat.

Ich war dann auf die breite Hotelterrasse hinausgetreten und hatte dem Hexenspiel der rollenden Bergnebel über den Schluchten zugesehen und den Sternen, die über den bewegten Nebeln zu tanzen schienen. Dann fielen ein paar Regentropfen, mit Schneeflocken untermischt, aus fortflüchtenden Nebelwellen, die um den Mond kreiselten.

Als ich wieder ins Hotel zurückgehen wollte, war mir, als sähe ich ein großes Tier unter der Terrassenbrüstung um die Hausecke laufen. Gestern Abend hatte ich gedacht, es sei ein Hund. Jetzt wusste ich aber, dass es ein Mensch gewesen, der auf allen Vieren ging, eine Frau, wahrscheinlich die Frau, deren Amulett ich besaß, die während der ganzen Nacht um das Hotel geschlichen war, und die sich mit aller List das Amulett aus meinem Zimmer von meinem Tisch geholt hatte.

Dies bedachte ich jetzt nach der Rückkunft vom Mondscheinritt im Hotel und sehnte mich, mit jemandem darüber zu sprechen.  Aber meine europäischen Reisegefährten schienen mir alle zu banal, als dass ich Lust gehabt hätte, sie in die Mystik dieses Nachterlebnisses einzuweihen.

Nachmittags um drei Uhr sollte mein Zug abgehen, der mich zum Abend wieder hinunter in die Kaffeegärten und Zuckerrohrpflanzungen Indiens bringen würde, und der am nächsten Morgen mit mir in Kalkutta eintreffen sollte.

Auf dem Weg zum Bergbahnhof konnte ich mich nicht enthalten, die Rikscha am Laden des Schmetterlingshändlers warten zu lassen. Ich stieg aus. Als ich die Ladentüre öffnen will, wird seltsamerweise dieselbe schon von innen aufgemacht, und an mir vorbei läuft ein tibetanisches Weib heraus. Ich hätte aber die Frau kaum wiedererkannt, da mir alle Tibetanerinnen untereinander so ähnlich schienen, sowie auch die Neger und Chinesen für den Europäer immer einander ähnlich sehen, hätte die Frau nicht mit einer heftig erschrockenen Bewegung in die Brustfalten ihres Mantelrockes gegriffen, als wolle sie dort etwas beschützen, was ich ihr hätte entreißen können. Mir schien, als ob sie hohläugiger und blasser wäre als am Tage vorher. Laut mit sich selbst sprechend und mit den Ellenbogen in die Luft fuchtelnd, als müsste sie hundert Hände abwehren, die sich nach ihr streckten, stürzte sie die Bergstraße hinunter fort, begleitet vom Gelächter meiner Rikschaschieber, welche das Gebaren der Frau noch sonderbarer fanden als ich.

Im Laden kam ich nicht dazu, dem Schmetterlingshändler vom Amulett zu sprechen, denn ehe ich noch den Mund öffnen konnte, zeigte er mir in einem geschnitzten Kästchen einen aufgespießten sogenannten Handflächenschmetterling. Jene Frau hatte ihm eben den seltenen Schmetterling verkauft. Er wurde in einem Kästchen aus Kampferholz aufbewahrt, denn der Geruch dieses Holzes schützt die Schmetterlinge gegen zerstörende Witterungseinflüsse. Durch Generationen hindurch kann man einen solchen Schmetterling im Kampferholz bei vollem Glanz erhalten. Auch diese Frau hatte den Schmetterling schon lange als ein Erbstück ihrer Familie besessen. Warum sie ihn verkaufen wollte, da er doch unbezahlbar war, konnte der Schmetterlingshändler nicht begreifen, denn ein Handflächenschmetterling wird alle hundert Jahre einmal im Gebirge gefunden. Auf seinen Flügeln sind dunkle Linien, deren Zeichnung den Linien in der Handfläche einer Menschenhand gleichen.

„Diese Frau,“ sagte der Schmetterlingshändler, „muss vielleicht für irgendeine eingebildete Schuld ein Tempelopfer bringen, da sie mit einem solchen Schmetterling ihren besten Familienschatz verkauft, um Opfergeld zu erlangen.“

Ich erstand den Schmetterling. Und kaum hatte ich ihn in Händen, so wurde mir auch, ohne dass ich fragte, eine Erklärung über meinen Amulettverlust zuteil.

Der Schmetterlingshändler erzählte mir, dass jene Frau eine sogenannte „ewige Witwe“ sei, eine von jenen, die ihre Wangen nicht mit Ochsenblut bemalen und nicht mehr das Verlangen haben, einen anderen Mann als den Gestorbenen zu lieben. Um aber auch des Toten sicher zu sein, dass dieser ihr im nächsten Leben treu wird, wie sie ihm treu sein will, trägt eine solche Frau an einer unzerreißbaren Darmseite ein Amulett an der Brust, welches ein Menschenpaar darstellt. Wenn die Witwe aber dieses Amulett verliert, – denn ein Amulett wird eine Frau nie verkaufen, – hat sie damit die Treue des Toten verloren und wird ihren Geliebten im nächsten Leben nicht wieder finden.

Ein solches Amulett wird niemals verkauft, und sollte es verloren gehen, so setzt eine jede tibetanische Frau ihr Leben daran, um das kostbare Amulett der Treue wieder zu erhalten. –

Während dieses Nachmittags, als ich im Zug saß und in die finsteren Abgründe des Himalaja hinunterfuhr, sah ich im Dampf, der aus der Lokomotive kam, und der in den Dschungelwäldern und an den Urwaldästen hängen blieb, Hunderte Male die Gestalt jener ewigen Witwe, wie sie bald gebückt und geduckt suchte, und wie sie aufgerichtet forttanzte über die Urwaldwipfel, wie sie die Arme an die Brust drückte und nach dem Amulett fühlte, das ihr die Treue und die Liebe ihres Geliebten im nächsten Leben versprach.

Dann, als es dunkel wurde und ich draußen keinen Wald und keinen Dampf mehr sah, betrachtete ich lange bei der trüben Wagenlampe den großen Handflächenschmetterling in dem Kampferkästchen, dessen Linien so verschlungen sind wie die Schicksalslinien in den Handflächen der Menschen und dessen Linien in dunkle Nachtränder auslaufen, in unergründliche Finsternisse, ähnlich den Himalaja- Abgründen, die voll Finsternis und Aberglauben draußen dicht bei den Schienengeleisen der Bergbahn drohten.

oben






______________________

Textgrundlage:
"Himalajafinsternis"
Max Dauthendrey, aus: Geschichten aus
den Vier Winden", Seite 41 - 76.

wikimedia

Logo 177
: "Himalaja-Panorama", aufgenommen von einem
Astronauten an Border der internationalen Raumstation am
 1.4.2004, Original-Uploader was
Mex at de.wikipedia gemeinfrei
wikimedia


  lifedays-seite - moment in time