Geschichten
Max Dauthendey
„Hören
Sie die Lawinen, die bei Sonnenaufgang
sich von den Gletschern lösen und in die Tiefe donnern?“ sagte ein Herr
neben
mir zu einer Dame. Dann war tiefe Stille. Keine Teetasse klapperte,
kein
Schritt im Schnee knirschte mehr. Die Pferde spitzten die
Ohren und
schnupperten. Drüben im Nebel, über einem tageweiten Abgrund, erschien
der
fleischige Arm eines Riesen, die rosige fleischige Brust einer Frau,
Nacken,
Schultern, Hüften in gigantischen Dimensionen. Es waren die Umrisse des
Mount
Everest und des Kantschindschanga, die wie ein nacktes Riesenpaar höher
als der
Mond im Himmel lagen.
„Die Sonne,“ flüsterte
eine Dame.
Ich sah über meine
Schulter von den Bergen fort und entdeckte eine rote glühende Lawine,
die sich
auf Nebelfeldern kaum merklich fortrollte und größer und röter wurde, –
die
Sonne. Wie eine große rote Sintflut gab sie den Gletschern Blut und
machte den
Schnee zu Fleisch.
Im selben Augenblick,
mitten in diesem feierlichsten Augenblick des Sonnenaufgangs, nahm
jemand meine
Hand, führte meine Finger in eine Westentasche und sagte: Wo ist das
Amulett,
das du gestern kauftest? Sehen die großen fleischfarbenen Gletscher
dort nicht
aus wie die Männer- und die Frauenfigur deines Amuletts, das du der
Tibetfrau
gestern abkauftest?
Das Amulett war nicht in
meiner Westentasche. Aber das Geld, das ich dafür bezahlt hatte,
die drei großen Silberstücke, befand sich wieder in meiner Westentasche.
Der Gedanke an das
Amulett
hatte meine Hand in die Westentasche geschoben.
Wer hat jetzt laut
gelacht? Alle Gesichter sahen sich nach mir um. Es wurde mir unheimlich
vor mir
selbst. Wie ich meinen Pelzrock geöffnet hatte, um das Amulett zu
suchen, stieg
mir aus der Kleiderwärme wieder jener geheimnisvolle Blumengeruch
entgegen.
Aber jetzt bei der aufgehenden Sonne, in der Schneefrische des Morgens,
erkannte ich in dem Geruch ein betäubendes tibetanisches
Tempelräucherwerk,
das, in großen Massen eingeatmet, einschläfert und Visionen verschafft,
und
dieser Geruch steckte noch von der Nacht her in meinen Kleidern.
Auf dem Pferderücken
vorhin war mir schon der Geruch stark in die Nase gestiegen. Ich selbst
war
aber noch zu sehr von der Schlafzimmerluft betäubt gewesen, um seinen
Ursprung
zu erkennen.
Jetzt wandte ich mich mit
einem energischen Ruck an den Schmetterlingshändler, um ihn zu fragen:
„Glauben
Sie, dass es Amulette gibt, die ihren Besitzern so teuer sind, dass sie
sie für
nichts verkaufen würden? Glauben Sie, dass,
wenn ein tibetanisches Weib ein solches Amulett zufällig von sich
geschleudert
hätte, es alle Listen seiner listigen Natur anwenden würde, um das
Amulett wieder
zu erhalten? Glauben Sie, dass es durch Hintertüren in die Häuser
eindringen
würde und sich nicht scheuen würde ein Fenster einzustoßen, um das
Amulett zu
erhalten?
Sie werden mir sagen:
‚Das
zerbrechende Fenster würde jedermann wecken!‘ Aber ich sage Ihnen: Man
kann
zugleich durch das zerbrochene Fenster eine lebende Fledermaus ins
Zimmer
werfen, die die Aufmerksamkeit auf sich lenkt und nicht den Gedanken
aufkommen
lässt, dass ein Mensch mit Absicht das Fenster zerschlagen hätte.
Betäubt man
dann noch durch eine Räucherstange den im Zimmer Anwesenden, so ist es
ein
leichtes, nachher mit dem Arm durch die zerbrochene Fensterscheibe in
das
Zimmer zu langen, den Fensterknopf von innen aufzudrücken, durchs
geöffnete
Fenster vom Balkon hineinzusteigen, das verlorene Amulett zu suchen, zu
finden
und, wenn eine Kaufsumme dafür hergegeben war, das Geld wieder
hinzulegen und
das Amulett mitzunehmen.“
Alles dieses wollte ich
mit energischem Entschluss den
Schmetterlingshändler jetzt fragen. Ich öffnete den Mund. Aber die
Worte, die
ich sprechen wollte, verwandelten sich in Atemrauch, und ich hörte in
meinen
Ohren, dass ich sagte: „Wenn Sie wieder einige seltene Exemplare von
Himalaja-Schmetterlingen
haben, können Sie mir dieselben an meine Adresse nach Europa senden.“
Dabei nahm
ich aus meiner Westentasche dasselbe Silbergeld, womit ich gestern
schon das
Amulett bezahlt hatte, und bezahlte im Voraus den Preis für drei
Schmetterlinge.
Ich hatte nichts mehr
gesprochen. Die Sonne war bald wieder in Nebeln verschwunden, und wir
ritten im
Tageslicht, das aber mehr dem Mondlicht glich, an den nebelnden
Abgründen
zurück nach Darjeeling.
Das Amulett fand ich
nicht
mehr. Es war nicht auf meinem Tisch zu Hause im Hotelzimmer, nicht in
meinen
Taschen, nicht in meinen Koffern.
Ich erinnerte mich jetzt,
dass, als ich gestern Abend nach dem Diner durch die Billardsäle zu den
Spielzimmern gegangen war, wo die befrackten Herren und die
dekolletierten
Damen an den grünen Spieltischen vor den lodernden Kaminen saßen, mich
einen
Augenblick eine Sehnsucht gepackt hatte, fortzukommen aus den
europäischen Sälen, die man hier in Asien sogar noch hoch im Himalaja
für
verwöhnte Millionäre und Milliardäre hingestellt hat.
Ich war dann auf die
breite Hotelterrasse hinausgetreten und hatte dem Hexenspiel der
rollenden
Bergnebel über den Schluchten zugesehen und den Sternen, die über den
bewegten
Nebeln zu tanzen schienen. Dann fielen ein paar Regentropfen, mit
Schneeflocken
untermischt, aus fortflüchtenden Nebelwellen, die um den Mond
kreiselten.
Als ich wieder ins Hotel
zurückgehen wollte, war mir, als sähe ich ein großes Tier unter der
Terrassenbrüstung um die Hausecke laufen. Gestern Abend hatte ich
gedacht, es
sei ein Hund. Jetzt wusste ich aber, dass es ein Mensch gewesen, der
auf allen
Vieren ging, eine Frau, wahrscheinlich die Frau, deren Amulett ich
besaß, die
während der ganzen Nacht um das Hotel geschlichen war, und die sich mit
aller
List das Amulett aus meinem Zimmer von meinem Tisch geholt hatte.
Dies bedachte ich jetzt
nach der Rückkunft vom Mondscheinritt im Hotel und sehnte mich, mit
jemandem
darüber zu sprechen. Aber
meine europäischen Reisegefährten schienen mir alle zu banal, als dass
ich Lust
gehabt hätte, sie in die Mystik dieses Nachterlebnisses einzuweihen.
Nachmittags um drei Uhr
sollte mein Zug abgehen, der mich zum Abend wieder hinunter in die
Kaffeegärten
und Zuckerrohrpflanzungen Indiens bringen würde, und der am nächsten
Morgen mit
mir in Kalkutta eintreffen sollte.
Auf dem Weg zum
Bergbahnhof konnte ich mich nicht enthalten, die Rikscha am Laden des
Schmetterlingshändlers warten zu lassen. Ich stieg aus. Als ich die
Ladentüre
öffnen will, wird seltsamerweise dieselbe schon von innen aufgemacht,
und an
mir vorbei läuft ein tibetanisches Weib heraus. Ich hätte aber die Frau
kaum
wiedererkannt, da mir alle Tibetanerinnen untereinander so ähnlich
schienen,
sowie auch die Neger und Chinesen für den Europäer immer einander
ähnlich
sehen, hätte die Frau nicht mit einer heftig erschrockenen Bewegung in
die
Brustfalten ihres Mantelrockes gegriffen, als wolle sie dort etwas
beschützen,
was ich ihr hätte entreißen können. Mir schien, als ob sie hohläugiger
und
blasser wäre als am Tage vorher. Laut mit sich selbst sprechend
und mit den Ellenbogen in die Luft fuchtelnd, als müsste sie hundert
Hände
abwehren, die sich nach ihr streckten, stürzte sie die Bergstraße
hinunter
fort, begleitet vom Gelächter meiner Rikschaschieber, welche das
Gebaren der
Frau noch sonderbarer fanden als ich.
Im Laden kam ich nicht
dazu, dem Schmetterlingshändler vom Amulett zu sprechen, denn ehe ich
noch den
Mund öffnen konnte, zeigte er mir in einem geschnitzten Kästchen einen
aufgespießten sogenannten Handflächenschmetterling. Jene Frau hatte ihm
eben
den seltenen Schmetterling verkauft. Er wurde in einem Kästchen aus
Kampferholz
aufbewahrt, denn der Geruch dieses Holzes schützt die Schmetterlinge
gegen
zerstörende Witterungseinflüsse. Durch Generationen hindurch kann man
einen
solchen Schmetterling im Kampferholz bei vollem Glanz erhalten. Auch
diese Frau
hatte den Schmetterling schon lange als ein Erbstück ihrer Familie
besessen.
Warum sie ihn verkaufen wollte, da er doch unbezahlbar war, konnte der
Schmetterlingshändler nicht begreifen, denn ein
Handflächenschmetterling wird
alle hundert Jahre einmal im Gebirge gefunden. Auf seinen
Flügeln sind
dunkle Linien, deren Zeichnung den Linien in der Handfläche einer
Menschenhand
gleichen.
„Diese Frau,“ sagte der
Schmetterlingshändler, „muss vielleicht für irgendeine eingebildete
Schuld ein
Tempelopfer bringen, da sie mit einem solchen Schmetterling ihren
besten
Familienschatz verkauft, um Opfergeld zu erlangen.“
Ich erstand den
Schmetterling. Und kaum hatte ich ihn in Händen, so wurde mir auch,
ohne dass
ich fragte, eine Erklärung über meinen Amulettverlust zuteil.
Der Schmetterlingshändler
erzählte mir, dass jene Frau eine sogenannte „ewige Witwe“ sei, eine
von jenen,
die ihre Wangen nicht mit Ochsenblut bemalen und nicht mehr das
Verlangen
haben, einen anderen Mann als den Gestorbenen zu lieben. Um aber auch
des Toten
sicher zu sein, dass dieser ihr im nächsten Leben treu wird, wie sie
ihm treu
sein will, trägt eine solche Frau an einer unzerreißbaren Darmseite ein
Amulett
an der Brust, welches ein Menschenpaar darstellt. Wenn die Witwe aber
dieses
Amulett verliert, – denn ein Amulett wird eine Frau nie verkaufen, –
hat sie
damit die Treue des Toten verloren
und wird ihren Geliebten im nächsten Leben nicht wieder finden.
Ein solches Amulett wird
niemals verkauft, und sollte es verloren gehen, so setzt eine jede
tibetanische
Frau ihr Leben daran, um das kostbare Amulett der Treue wieder zu
erhalten. –
Während dieses
Nachmittags, als ich im Zug saß und in die finsteren Abgründe des
Himalaja
hinunterfuhr, sah ich im Dampf, der aus der Lokomotive kam, und der in
den
Dschungelwäldern und an den Urwaldästen hängen blieb, Hunderte Male die
Gestalt
jener ewigen Witwe, wie sie bald gebückt und geduckt suchte, und wie
sie
aufgerichtet forttanzte über die Urwaldwipfel, wie sie die Arme an die
Brust
drückte und nach dem Amulett fühlte, das ihr die Treue und die Liebe
ihres
Geliebten im nächsten Leben versprach.
Dann,
als es dunkel wurde
und ich draußen keinen Wald und keinen Dampf mehr sah, betrachtete ich
lange
bei der trüben Wagenlampe den großen Handflächenschmetterling in dem
Kampferkästchen, dessen Linien so verschlungen sind wie die
Schicksalslinien in
den Handflächen der Menschen und dessen Linien
in dunkle Nachtränder auslaufen, in unergründliche Finsternisse,
ähnlich den
Himalaja- Abgründen, die voll Finsternis und Aberglauben draußen dicht
bei den
Schienengeleisen der Bergbahn drohten.
oben
Textgrundlage:
"Himalajafinsternis" Max
Dauthendrey, aus: Geschichten aus
den Vier Winden", Seite 41 - 76.
wikimedia
Logo 177: "Himalaja-Panorama",
aufgenommen von einem
Astronauten an Border der internationalen
Raumstation am
1.4.2004, Original-Uploader was Mex at de.wikipedia gemeinfrei
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