Geschichten
Max Dauthendey
An diesem Abend war mir
unbewußt klar geworden: Der Tote war zu seiner Mutter und zu seinem
Vater
verklärt wiedergekehrt. Er war wieder auferstanden in den Räumen des
Hauses.
Der junge Mann stand neben uns und wollte uns von seiner
Übersinnlichkeit einen
Ausdruck geben. Seine Todeswelle, raumloser als die räumlichen Wellen,
die wir
Lebenden fühlen, wollte sich vor uns verkörpern.
Dieser feierliche
Schauder
berührte mich noch, als die trauernde Frau des Hauses zu mir sagte und
auf den
Gast deutete, der außer mir noch im Zimmer geblieben war:
„Sie gehen doch noch
nicht? Ich dachte, wir wollten heute Abend noch ein wenig Musik hören.
Sie
wissen, es ist seit Monaten kein Ton in diesem Hause gespielt worden.“
Der junge Mann, den sie
zum Spielen aufforderte, war ein sehr feiner, künstlerisch ernster und
gewandter Klavierspieler. Er spielte uns dann gute Werke großer
Komponisten
vor, verabschiedete sich aber bald.
Mich jedoch hielt eine
Spannung fest, eine Erwartung,
eine Sehnsucht nach der Verkörperung der überirdischen Festlichkeit des
Todes,
die mich in diesen Räumen nicht verließ.
Die beiden Klavierlampen
brannten noch am offenstehenden Flügel. Unweit von mir auf einem
kleinen
Damenschreibtisch stand die Fotografie des jungen Verstorbenen.
Draußen vor den weiß
verschleierten
Fenstern des Hauses lehnte das Schweigen des dunkeln Gartens, des
dunkeln
Waldes. Ich wusste, die Nachtlandschaft draußen war schneelos und
winterlich
düster. Es war Februar, und das Grab des Toten lag fern irgendwo in
einem der
mächtigen Großstadtfriedhöfe. Und jenes Grab unterschied sich in nichts
von der
Wintererde und in nichts von den andern Millionen Grabhügeln, die
überall auf
der Welt jahraus, jahrein hervorwachsen, die im Sommer begrünt sind wie
die
Wälder und Wiesen und im Winter verlassen scheinen wie die Wälder und
Wiesen.
Der Geist der Toten aber
lebt Sommer und Winter in einer verklärten Jahreszeit, die wir auf
Erden nicht
kennen, die sich aber auf uns herabsenkt, wenn sich ein Toter uns
mitteilen
will. Beim Gemisch der eisigen Wellen des Toten und der Wärmewellen
unseres Herzens
entsteht jene schauer süße Stimmung, in der wir fröstelnd fühlen, der
Tote ist
auferstanden und kehrt verklärt bei uns ein.
Ich wagte unter dem Bann
dieser Stimmung die Frage an die trauernde Mutter, ob sie nicht ein
Lied ihres
verstorbenen Sohnes singen oder ein Musikstück von ihm spielen möchte.
Sie lächelte schmerzlich
und ging zum Flügel. Aber als wenn sie sich selbst vom gleichen Wunsch
zum
Klavier hingezogen gefühlt hätte, schien sie mir dabei freudiger im
Gang, von einer
verhaltenen Freude umgeben. Allein im Hause, hätte sie es vielleicht
nicht
gewagt, jetzt schon vor dem Vater des
Verstorbenen Lieder und
Töne
aufleben zu
lassen.
Als die Trauernde sich
zwischen die zwei hellen verschleierten Lampen an den schwarz
glänzenden Flügel
setzte und ihre schwarz eingehüllten schmalen Schultern sich von den
schneeweißen Tüllvorhängen abhoben, die senkrecht vor den Fenstern
hinter ihr
herabhingen, da war es mir noch nicht gewiss, ob Leben aus dem Flügel
erwachen
würde. Ich musste immer noch denken, dass diese in tiefe Trauer
gehüllte Mutter
den Sohn immer noch begrub. Der Flügel vor ihr wurde mir wie zum
glänzend
schwarzen Sarg, an
dem sie sich, wie mir schien, niederlassen musste, um zu schluchzen, um
zu
weinen und zu begraben.
Ich wusste nicht, ob die
Trauernde schon reif war, den Toten auferstehen zu lassen, in jener
Verklärung,
in der ich als Fremder ihn bereits in den Räumen eingetreten fühlte.
Es würde mich nicht
verwundert haben, wenn die noch schwer Erschütterte nach den ersten
Tönen das
Spiel abgebrochen und ihr Gesicht in die Hände vergraben hätte.
Aber sie war reif zum
Empfang des Zurückkehrenden. Mit einem wunderbaren Mut, als
überschritte sie
selbst freudig die Schwelle vom Leben zum Tod, entlockte sie dem Flügel
die
alten Wohllaute, die nur ihr vertrauten einsamen Jünglingsgefühle des
Sohnes, die
männlich junge Lust und die männlich jungen Zweifel, die einst in ihm
gerungen
hatten.
Und als sie eines der
letzten seiner Lieder sang, geschah vor meinen Augen das Wunderbare:
die reife
schöne Frau sang sich an den jugendlichen Weisen ihres Sohnes zur
eigenen
frühesten Jugend zurück. Und ihr Frauengesicht wurde mädchenhaft, aller
Enttäuschungen bar. Mädchenhaft gläubig und vertrauend wurden
die Augen beim Aus- und Einatmen der Musik. Die Vergrämte verklärte
sich unter
der Verklärung des Toten. Und ich sah Mutter und Sohn auf zwei großen,
überweltlich großen, jugendlichen Rossen, von denen jedes die
Verkörperung
eines Schicksals zu sein schien, am Meer der Unendlichkeit hinreiten.
So sehe ich beide dort
heute noch und in Ewigkeit als zwei Reiter am ungeheuren Meer am Rand
der Welt.
Und
wenn ich in neuen
Stunden und in anderen Räumen dieser Frau wiederbegegnen werde, sie
wird für
mich immer die vom Todesschmerz mädchenhaft verklärte Mutter sein, die,
auf der
Linie zwischen Leben und Tod, lebender in der Entrückung auflebt als im
Irdischen.
oben
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Geschichte:"Zwei 'Reiter am Meer" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus
den Vier Winden",
Seite 129-142.
wikimedia
Logo 180: "Zwei Reiter am Meer", Max Liebermann,
Entstehung nach
1900, Aufbewahrungsort Bremen,
Kusthalle, Kupferstichkabinett - gemeinfrei
zeno.org
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