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Literatur


04.3



Geschichten

Max Dauthendey




 Auf dem Weg zu den Eulenkäfigen III


Nie fehlen Blumen auf ihrem Teetisch, nie geht bürgerlich langweilige Luft durch ihre Zimmer. Es ist Claudia ein Genuss, wenigstens äußerlich glücklich zu wirken – auf die nicht Eingeweihten, die nicht in ihren schwarzen Augen zu lesen verstehen.

Lange Zeit erschien sie immer als glückliche Gattin, die, leicht die Achsel zuckend, die Lebensweise ihres Mannes hinzunehmen schien. Und viele mögen verblüfft gewesen sein, als Claudia plötzlich mit dem Kaukasier verschwand. Aber nicht einer hatte es ihr beim näheren Hinsehen verdenken können.
Und nun zurückgekehrt, scheint sie die Rolle der Glücklichen nicht mehr harmlos spielen zu können.

Dazu ist ihr Gesicht doch zu blass geworden, und ihre Züge sind wachsmaskenartig erstarrt. Ihre Augen funkeln nicht mehr lebenstrotzig. Der Trotz sieht versteinert aus und steckt als Kern in ihrem Herzen.

Am Weihnachtsabend, als ich bei Claudia und Dagon mit einigen Gästen eingeladen war und jene Frau uns alle unter den brennenden Weihnachtsbäumen ihres Salons beschenkte, da schien es für Sekunden, als könnte doch vielleicht das Wachs ihres Gesichtes nochmals ]weich werden und schmelzen. Dann aber, als es während des Abendessens klingelte und unter den Geschenken, die von Bekannten geschickt wurden, auch Aufmerksamkeiten von einigen Damen waren, deren Gunst Dagon in letzter Zeit errungen hatte, da sah ich, wie Claudia zu frieren begann. Trotzdem die Zimmer von der Wärmeleitung und den Weihnachtskerzen heiß waren, bat sie, dass man die Fenster schließen möchte, das eine der eingeladenen Damen geöffnet hatte. Die Gepeinigte fror von innen heraus. Ich glaube, sie muss ihr Herz in diesem Augenblick so schmerzend gefühlt haben, wie man in der Winternacht das Eisen einer Türklinke brennend kalt fühlt, wenn man die Hand darauf legt.

Dagon hat schon längst keine Geheimnisse mehr vor seiner Frau. Das letzte Schamgefühl ist zwischen ihnen gefallen. Im Gegenteil, er will, dass Claudia nichts fühlen soll und nichts mit ihm teilen soll als die Lust, die ihm seine Abenteuer geben. Sie soll die Lust an dem Verbrechen, das er an ihrer Liebe begeht, sich selbst verleugnend mit ihm genießen.

Wieder haben jetzt beide eine Wohnung, in der kein Hauch von Unglück zu spüren ist. Die hellen weißen und himmelblauen Gemächer, mit gelbseiden verschleierten elektrischen Lampen und voll mit Bildern und Büchern und von zierlichen asiatischen Nippes belebt, sind wie eine irisierende Haut über einem Pfuhl von pechschwarzem Wasser.

Aber die einzige tiefe Empfindung, die man in diesen hellen und gefälligen Räumen erlebt, kommt nicht von den Büchern in den Schränken und nicht von den Kunstwerken aus, sie geht aus von den unglücksglänzenden schwarzen Augen Claudias; diese Augen, denen das Weinen schon längst kein Trost und keine Erlösung mehr ist, glänzen vor Schmerzen.

Bald nach dem Weihnachtsfest sah ich Claudia bei einem Besuch wieder. Sie stand an ihrem Teetisch und trug über dem schwarzen Seidenrock eine goldgelbe Seidenjacke, die war von einem etwas dunkleren Goldgelb als die Schleier ihrer Lampen. Sie schien Ruhe und Wärme auszuströmen, und ich fragte mich erstaunt: was geht in ihr vor? Ihre Augen waren entkräftet und schienen außerhalb des Zimmers traumwandelnd herumzugehen. Ich erfuhr dann, dass sie krank sei, sie hustete, sie hatte Fieber. Es war eine rein äußerliche Krankheit, und Claudia trug diese Krankheit wie ein Weihnachtsgeschenk des Himmels mit sich. Sie, die einstmals so stark war, dass sie nicht für den Tod geboren schien, freute sich, dass ihr Fieber täglich stieg, freute sich, dass ihre Augen erlöschen wollten.

Und wenn man sagte, dass sie sich pflegen müsste, lächelte sie nur. Sie erwartete das Sterben und freute sich.

Der Tod kam nicht. Die Schwäche ging vorüber. „Weshalb?“ fragte sie erschrocken.

Sie lebt jetzt immer noch im selben Hause mit dem, mit dem sie einst gerungen und gekämpft hat. Sie lebt kampflos jetzt. Beide sehen sich täglich, aber sie sprechen sich wenig. Claudia weiß nie, wohin Dagon geht, wenn er abends seinen Frack anzieht. Sie will es auch gar nicht wissen.

Und er fragt nicht, wenn Claudia ins Theater fährt, wohin sie geht. Und das ist vielleicht noch schmerzlicher für sie zu ertragen, dass er sie gehen lässt, wohin sie will.

Das Kind, ihre Tochter, ist bald erwachsen und sieht und versteht und hört alles. Und das ist das aller Schmerzlichste für Claudia.

Der selbstherrliche Mann schont die beiden Frauen nicht, nicht die Tochter und nicht die Mutter. Er lächelt über sie hinweg, zu den beiden von seinen Erfolgen bei den Frauen, will, dass sie mit ihm über die Scherze, die er mit dem Liebesleben und seinem eigenen Herzen treibt, lachen sollen.

Und Dagon lächelt sein alles verschlingendes Lächeln, wenn die beiden Frauen ihm ausweichen. Wenn die beiden Frauen anklagen, lächelt er und verschlingt ihre Anklagen. Wenn die beiden Frauen ihn morden wollen, lächelt er und verschlingt ihre Mordgedanken.

Er ist liebenswürdig, spaßhaft; er ist nie mürrisch. Er ist nur launenhaft verschlossen, wo er sich fürchtet zu sprechen, weil er sich bei aller lächelnder Offenheit nie ganz offen gibt.

Seine lächelnde Offenheit ist ein Abgrund, in den er die Offenheit der andern hineinlockt. Und er sieht lächelnd zu, wie Menschen in diesen stürzen, die er angelockt hat. Er lächelt und gleitet über die Angstblicke, die er sehen müsste, hinweg.

Welches ist das Schicksal, das ihn ereilen wird? Wo ist die Grenze, die seiner Unendlichkeit im Grausamsein gesetzt ist?

Seht, dieses sind die Blicke, die als einziges Leben aus den Augen Claudias starren. Will sie sein Ende erleben, und ist sie noch nicht gestorben? fragte ich mich. Das ungeheuerliche Ende, die ungeheuerliche Todesstunde, die in der Brust Dagons das lächelnde Herz voll Ungeheuerlichkeiten töten wird, die ihm und sein alles verschlingendes Lächeln aus der Welt schaffen wird, – wartet Claudia darauf? –

Als wir zu den Eulenkäfigen kamen, trug ich diese letzte Frage in mir. Da saßen wie seltsame weiße und graue Federgruppen die Eulen, diese weichen, lautlosen Nachtgeschöpfe, auf den Ästen abgestorbener Bäume hinter den Gitterstäben. Einige konnten die Köpfe ganz rund um den Nacken drehen. Andere spitzten die katzenartigen Ohren. Aber alle saßen da wie ausgestopfte Federbälge. Die einen hatten wunderbar silberweißes Gefieder, und es wirkte jeder weiße Vogel wie eine einzige ungeheuerliche Riesenschneeflocke. Andere graue Eulen waren wie ein dicker Ballen Spinnweben. Und wenn sie nicht manchmal die Köpfe rundum gedreht hätten, sodass das Gesicht nicht auf der Brust, sondern plötzlich auf den Rücken stand, so hätte man in ihnen kein Leben vermutet.

So sahen die Eulen aus, als wir von weitem an die Käfige kamen. Aber als wir nähertraten,  da verschwanden die Federkörper. Da standen nur in der Luft über den abgestorbenen Baumästen paarweise ungeheuerliche schwarze Augen. Augen, die so groß und rund in ihrer Schwärze starrten, als müssten sie alles und nichts sehen; als könnten sie die Tiefe des ganzen Weltalls umfassen, alle Schmerzen und alle Trostlosigkeiten der Abgründe des Lebens.

Während sich alle meine Freunde beim Näherkommen über die Federn, die Haltung, die Kopfwendungen der Eulen ereifert hatten, wurden sie jetzt stumm. Und nur Claudia, die vorher stumm gewesen war, als wir die Eulen zuerst erblickten, wurde jetzt vor den Eulenaugen laut und begeistert.

„Haben diese Vögel nicht die schönsten Augen der Welt? Da sprechen die Menschen immer von glotzenden Eulenaugen, und ich finde, es sind die feierlichsten, ausdrucksvollsten, geheimnisreichsten und schicksalsschwersten Blicke, mit denen nur je ein lebendes Wesen auf die Welt herabsehen kann.

Solche Augen möchte ich haben,“ setzte Claudia hinzu. „Wie ich diese Tiere um ihre Augen beneide! Auf was warten sie nur, diese Eulenaugen?“ –

Als wir uns später unter dem schwerhölzernen, blutroten chinesischen Tor am Ausgang des Zoologischen Gartens trennten und der Abend schon über den Straßenschachten dunkelnd lag, die elektrischen Lampen in den Straßenfluchten aufleuchteten, ging ich einsam heim. Der Himmel wurde immer nachtdunkler, und als ich in den nachtschwarzen Äther sah, der noch asternlos über den Dächern der Häuser stand, erkannte ich in dem schwarzen Himmelsabgrund, den Eulenaugen und Claudias Augen eine Einheit. In der Nacht und in jenen Augen war kein Blick mehr, den man hätte fühlen können. Sie schienen alles innere Leben hergegeben zu haben. Und nur ein Wille war in ihrer Finsternis. Der: Mit stummer Macht den Untergang der Lebenden, auf die sie herabsahen, zu erwarten.





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Geschichte: "Auf dem Weg zu den Eulenkäfigen"
Max Dauthendrey, aus: Geschichten aus den
Vier Winden", Seite 143 - 171.

Lizenz
wikimedia

Logo 184: "Waldmärchen", Margret Hofheinz-Döring, 1965,
Aufbewahrungsort: Galerie Brigitte Mauch, Göppingen,
Quelle: Peter Mauch

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