Er lachte höhnisch
außer sich auf. «Also Du glaubst, daß es nichts schadet, wenn ein
Mensch plötzlich aufhört, diejenigen Pflichten zu erfüllen, die
ihm Gott für sein Leben zugetheilt hat? Es schadet wohl nichts, wenn
eine Frau, anstatt ihren Mann glücklich zu machen und ihre Kinder zu
pflegen, in zwecklosem Genießen nur noch körperlich fortvegetiert,
ohne geistig auf ihrem Posten zu stehen? Steht nicht geschrieben: Wer
nicht arbeitet, der soll auch nicht essen?»
«Nicht essen? —
Lieber Arnold, muß ich Dich daran erinnern, daß ich kein armes
Mädchen war, das geheirathet hat, um versorgt zu sein? Unsere Renten
sind ungefähr gleich. Was giebt Dir denn das Recht mir vorzuhalten;
daß ich ohne Gegenleistung dafür mir erlaube — — zu essen?»
«Nimm das nicht buchstäblich, spiele nicht mit Worten,» rief
er außer sich, «es ist ein frivoles Spiel. Jeder Mensch hat sein
Leben zu durchkämpfen, wenn es sein muß, zu durchleiden, um einen
gewissen Kreis von Pflichten zu erfüllen, die ihm zugefallen sind.
Nicht Jeder braucht um das tägliche Brot zu arbeiten. Mancher ist zu
mehr, zu Besserem, zu Höherem berufen. Jedes Weib ist dem Himmel
verantwortlich für die Seelen ihrer Kinder, die sie dem ewigen Heil
zuführen muß. Man muß einen Lebenszweck haben, begreifst Du das
nicht?»
Einen Lebenszweck — — wie eine Vision stand der
Kirchhof vor ihrem inneren Auge; sie saß am Grabe ihrer Eltern, die
rothen Sonnenstrahlen schimmerten auf dem schwarzen Marmor des
Grabsteins. Neben ihr saß ein Mann, ein Freund, er verstand sie, und
sie — sie liebte ihn.
Er war jetzt hinübergegangen zu den
Todten, und von ferne, aus einer anderen Welt, jenseits des Grabes,
aus der Welt der Erinnerung drangen Worte an ihr inneres Ohr —
Worte, die er einstmals gesprochen, «der Genuß ist auch ein
Lebenszweck, so gut wie die Arbeit; es kommt nur darauf an, daß man
seine moralischen Begriffe damit in Einklang zu bringen versteht —
— — — — — — — —» Mechanisch, halblaut, wie man nachspricht, was jemand
vorsagt, sprach sie sie aus, diese Worte des
Freundes.
Der erzürnte Mann vor ihr hatte diese Antwort doch
nicht erwartet. Wie ein Schleier sank es ihm plötzlich von den
Augen. Diese Frau mit dem irren, abwesenden, in’s Leere starrenden
Blick konnte er nicht für die Worte verantwortlich machen, die so
abgerissen und ausdruckslos von den bleichen, zuckenden Lippen
fielen. Sie war krank, unzurechnungsfähig. — Mit furchtbarer
Ahnung durchblitzte sein Hirn der Gedanke, sie könne wahnsinnig
geworden sein durch die Verzweiflung, in die sein rücksichtsloses
Vorgehen sie gestürzt hatte.
«Du mußt in eine Anstalt,
nachher wird Alles besser werden,» und wie sie zusammenzuckte, fügte
er noch mitleidig und traurig hinzu: «ich will Dich nicht quälen.»
Dann ging er hinaus. Wenn er gewünscht und gehofft hatte,
seine Frau zu erschüttern, zu rühren und der Bereuenden vielleicht
dann verzeihen zu können, so sah er sich bitter enttäuscht. Er
hatte nichts erreicht, höchstens den Riß, den nach seiner Ansicht
ihre Morphiumsucht in die Ehe gebracht hatte, unheilbar gemacht und
endlos vergrößert. Seinem Auge bot sich kein Ausweg. Er wollte und
mußte sie in eine Heilanstalt bringen, aber selbst wenn sie dort
körperlich geheilt werden sollte, konnte er nicht hoffen, daß ihre
Seele wieder gesund werden würde.
Er hatte sie geliebt, jetzt
hatte er ihre Liebe verloren. Mit heißem Schmerze fühlte er, daß
seine Liebe zu der Kranken, Unglücklichen unerschütterlich treu in
seinem Herzen fortleben würde, so lange er lebte, vielleicht konnte
diese Liebe noch wachsen und zunehmen, wenn sie jemals sich hülflos
und verzweifelt an ihn anklammern würde, aber er fühlte, daß sie
das, was ihm und auch ihr früher selbstverständlich erschienen
wäre, nicht thun würde — nie wieder. — Es stand etwas zwischen
ihnen, was er nicht aus dem Wege zu räumen vermochte, weil es
überwältigend und unsagbar war, eine Leidenschaft — — Morphium.
—
Er dachte auch einen Augenblick an den blutigen Schatten
des todten Freundes. Nein, der stand nicht zwischen ihm und ihr, den
hätte die Liebe des Mannes überwinden können; aber gegen den Dämon
konnte er nicht kämpfen, der ihre Seele gefesselt hatte. Mit einem
schweren Seufzer blieb er vor der Thür ihres Zimmers stehen. Dann
ging er mit festen Schritten hinüber in’s Kinderzimmer.
Nacheinander hob er beide Kinder zu sich empor, drückte sie fest an
die Brust und küßte sie innig.
«Meine Frau ist schwer krank,
Fräulein, die armen Kinder werden manches entbehren müssen,» sagte
er ernst.
«Was ich thun kann, um den Kindern die Mutter, so
lange es nöthig sein wird, zu ersetzen, soll geschehen,» antwortete
Hedwig Wagner einfach und schlicht.
In ihren grauen Augen
standen Thränen, treu und freimüthig legte sie ihr Versprechen ab.
Der Geheimrath gab ihr die Hand. Dann verließ er die Kinder; es war
ihm, als hätte er sie in die Obhut eines Schutzengels gegeben.
Um
so schnell wie möglich die Unterbringung seiner kranken Frau in
einer geeigneten Anstalt zu veranlassen, begab er sich gleich darauf
zu Professor Schrödter.
Lydia war, nachdem ihr Mann sie
verlassen hatte träumend und regungslos stehen geblieben. Ein
weißes, langes Kleid floß weich herab an ihrer schlanken Gestalt,
der schöngeformte, hoch frisierte Kopf sah reizend und jugendlich
aus, aber die Augen waren glanzlos, die vorher brennenden Wangen
waren fahl geworden, und die Hände hingen schlaff und müde herab.
Sie fühlte, daß Alles zu Ende war zwischen ihrem Manne und
ihr. Sie hatte, seit sie Morphinistin war, nicht darüber
nachgedacht, ob sie ihn noch liebe oder nicht. Still und unmerklich
war die Liebe eingeschlafen in ihrem Herzen. Ein zartes
verständnißvolles Benehmen des Mannes hätte sie vielleicht leise
und sanft wieder erwecken können wie ein Sonnenstrahl eine Blüthe,
die ein Nachtfrost geschlossen hat, aber seine brutale Moral, sein
schroffer correcter Ehrbegriff hatte die zarte, sterbende Blüthe
zertreten.
Sie hatte aufgehört, ihn zu lieben und konnte ihn
auch nicht wieder lieben, nie, im Leben nicht wieder.
In
erbittertem Kampfe stand er ihr gegenüber. Verachtung hatte er ihr
entgegen geschleudert.
Um ihr Laster auszurotten, wollte er sie in
eine Heilanstatt bringen. Gegen sie, das zarte kranke Weib, rief er
den rohen rücksichtslosen Arzt zu Hülfe, den sie verabscheute.
Es
ist so leicht, einen wehrlosen, kranken Menschen zu peinigen und zu
verfolgen. Darin liegt aber eine Gemeinheit, eine moralische Hoheit,
die doch wohl eben so verächtlich ist, wie die Pflichtvergessenheit
einer Kranken. Lydia wußte, was das Wort in sich schließt «eine
Entziehungscur.» Professor Schrödter garantierte zwar für seine
«Entziehungscuren ohne Qualen», aber nur ein Morphiumkranker kann
ermessen, wie groß die Lüge ist, die in dieser Vorspiegelung liegt.
Ein Opfer dieser Qualen aber sollte sie nun sein, um nach dem
Willen ihres Mannes ihren Pflichten zurückgegeben zu werden.
Sie
dachte an Turnau. Nicht mehr mit Liebe, sondern mit Neid gedachte sie
des glücklichen Todten. Er hatte den Genuß, den das Morphium
gewährt, auskosten dürfen bis zum Ende, ihr dagegen riß man den
goldenen Kelch von den Lippen, jetzt wo sie noch durstig war —
durstiger als je.
Ihre Seele lechzte nach Betäubung, um die
Schmach zu vergessen, die ihr angethan worden war. Von ihrer
Krankheit, von ihrer Verirrung sprach ihr Mann; die Ärzte, die Welt
würde davon sprechen; Nachsicht und Mitleid würde man ihr zu Theil
werden lassen — und Achtung, äußere Achtung vielleicht auch
wieder, ja — das — —
Der T o d t e aber hatte sie besser
gekannt, als alle lebenden Menschen. Er allein wußte, daß sie eine
Schuldige — eine Ehrlose war.
«Der Tod ist der Sünde Sold»,
das war das letzte Wort, was er ihr zurief von seiner blutigen Bahre.
In frivolem Spotte hatte er gespielt mit dem Gedanken an ewige Dinge,
und als dann der Tod kam, klammerte er, der Freigeist, sich an die
Verheißung des Christenthums von der Gnade Gottes und dem ewigen
Leben in Christus.
O, wie sie sich schämte; in der Tiefe ihrer
Seele verging sie in Scham und in Reue. «Der Tod ist der Sünde
Sold.» Es war ihr plötzlich wie eine Offenbarung. Auf seinen
Grabstein sollte man den Spruch setzen. Aber der Spruch war für sie.
Wenn Menschen schweigen, so reden die Steine. Zu ihr, nur zu ihr
sollte er sprechen, dieser Stein; nur für sie galt die furchtbare
Mahnung: «Der Tod ist der Sünde Sold.»
Mit einem wilden
Schrei griff sie nach ihren hämmernden Schläfen. Dann stürzte sie
vorwärts und riß die Schnur von ihrem Halse, an der sie den
Schlüssel verbarg zu ihren «Schätzen.» Sie kniete nieder an dem
Schränkchen und schloß es mit zitternden Händen auf. Da standen
sie alle, alle die kleinen Gläser, die sie bei dem Todten gefunden,
es fehlte nicht eins.
Das erste beste ergriff sie und setzte es
an die Lippen. Sie fühlte ein scharfes Brennen, aber sie wollte es
überwinden, das Gläschen leer trinken. Da ging hinter ihr eine Thür
auf. Hedwig Wagner trat ein, nahm ihr mit ruhiger Bestimmtheit das
Gläschen vom Munde und verschloß den Schrank.
«Das geht
nicht, gnädige Frau. Der Professor wird Ihnen so viel Morphium
zutheilen, wie Sie bedürfen, um nicht zu leiden», sagte das
Mädchen.
Lydia antwortete keine Silbe. Scheu und traurig
begegnete ihr Blick dem der Bonne. Dann verließ sie das Zimmer. Sie
stieg die Treppe hinauf, mit einer Hand hielt sie ihr Kleid, die
andere lag an der Stirn. «Die Steine reden, die Steine rufen.» —
Leise und stockend sagte sie das vor sich hin, wieder, immer wieder.
Sie ging die ganze Treppe hinauf, schritt über den Boden, noch
eine kleine Treppe höher und stieg endlich durch eine Klappe auf das
platte Dach des hohen Hauses. Ein niedriges Geländer umgab die
Plattform. Lydia beugte sich darüber hinweg und starrte hinab auf
das Steinpflaster des Hofes vor den Stallungen und Remisen.
Die
Steine da unten schimmerten grau zu ihr empor. Ein röthlicher
Sonnenstrahl glitt drüber hin.
Der Tod ist der Sünde Sold; —
«die Steine reden, die Steine rufen.» Sie sah sich scheu um. Nein,
es war ihr niemand gefolgt, sie war allein, frei, vielleicht zum
letzten Male frei, ehe sie die Gefangenschaft des Irrenhauses umgab.
Wie wonnig ist doch die Freiheit, das edelste Menschenrecht —
— — Sie hatte die Freiheit benutzt.
Ein Schrei, ein Fall —
die Steine der Tiefe nahmen sie auf.
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