|
|
|
|
|
lifedays-seite
moment
in time
|
|
|
"Verzweiflung",
Ludwig Meidner
(Ausschnitt), 1914, "Ludwig
Meidner Archiv, Jüdisches Museum
der Stadt Frankfurt a. M.
04.3
Prosadichtungen und Schriften
Georg Heym
Eine
Fratze
Unsere Krankheit ist
unsere Maske.
Unsere
Krankheit ist grenzenlose Langeweile.
Unsere
Krankheit ist wie ein Extrakt aus Faulheit und
ewiger
Unrast.
Unsere
Krankheit ist Armut.
Unsere
Krankheit ist, an einen Ort gefesselt zu sein.
Unsere
Krankheit ist, nie allein sein können.
Unsere
Krankheit ist, keinen Beruf zu haben,
hätten wir einen,
einen zu haben.
Unsere
Krankheit ist Mißtrauen gegen uns, gegen andere,
gegen
das Wissen, gegen die Kunst.
Unsere
Krankheit ist Mangel an Ernst, erlogene Heiterkeit,
doppelte Qual. Jemand sagte zu uns: Ihr lacht
so komisch.
Wüßte er, daß dieses Lachen der
Abglanz unserer Hölle ist,
der bittere
Gegensatz des:
"Le sage ne rit qu‘en tremblant"
Baudelaires.
Unsere
Krankheit ist der Ungehorsam gegen den Gott,
den wir
uns selber gesetzt haben.
Unsere
Krankheit ist, das Gegenteil dessen zu sagen,
was wir
möchten. Wir müssen uns selber quälen,
indem wir den Eindruck
auf den Mienen der
Zuhörer beobachten.
Unsere
Krankheit ist, Feinde des Schweigens zu sein.
Unsere
Krankheit ist, in dem Ende eines Welttages
zu leben,
in einem Abend, der so stickig ward,
daß man den Dunst seiner
Fäulnis kaum noch
ertragen kann.
Begeisterung, Größe, Heroismus. Früher sah die Welt
manchmal
die Schatten dieser Götter am Horizont.
Heut sind sie
Theaterpuppen. Der Krieg ist
aus der Welt gekommen, der
ewige Friede hat ihn
erbärmlich beerbt.
Einmal
träumte uns, wir hätten ein unnennbares,uns
selbst
unbekanntes Verbrechen begangen. Wir sollten
auf eine diabolische
Art hingerichtet werden,
man wollte uns einen Korkzieher in die
Augen
bohren. Es gelang uns aber noch zu entkommen.
Und wir flohen — im Herzen eine ungeheure
Traurigkeit — eine
herbstliche Allee dahin,
die ohne Ende durch die trüben Reviere
der Wolken
zog.
War
dieser Traum unser Symbol?
Unsere
Krankheit. Vielleicht könnte sie etwas heilen:
Liebe.
Aber wir müßten am Ende erkennen, daß
wir selbst zur Liebe
zu krank wurden.
Aber
etwas gibt es, das ist unsere Gesundheit. Dreimal
"Trotzdem"
zu sagen, dreimal in die Hände
zu spucken wie ein alter Soldat,
und dann weiter
ziehen, unsere Straße fort, Wolken des
Westwindes
gleich, dem Unbekannten zu.
|
lifedays-seite
- moment in time |
|
|
|
|
|
|
|