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"Verzweiflung",
Ludwig Meidner
(Ausschnitt), 1914, "Ludwig
Meidner Archiv, Jüdisches Museum
der Stadt Frankfurt a. M.
04.3
Geschichten - Georg Heym
Der Dieb
Ein
Novellenbuch
Der
Irre
Der
Wärter gab ihm seine Sachen, der Kassierer
händigte ihm sein Geld aus, der Türsteher schloß vor ihm die große
eiserne Tür
auf. Er war im Vorgarten, er klinkte die Gartenpforte auf, und er war
draußen.
So,
und nun sollte die Welt etwas erleben.
Er
ging die Straßenbahnschienen entlang, zwischen den
niedern Häusern der Vorstadt durch. Er kam an einem Feld vorbei und
warf sich
an seinem Rande in die dicken Mohnblumen und den Schierling. Er
verkroch sich
ganz darein, wie in einen dicken grünen Teppich. Nur sein Gesicht
schien daraus
hervor wie ein weißer aufgehender Mond. So, nun saß er erst einmal.
Er
war also frei. Es war aber auch höchste Zeit, daß
sie ihn herausgelassen hatten, denn sonst hätte er alle umgebracht,
alle
miteinander. Den dicken Direktor, den hätte er an seinem roten
Spitzbart
gekriegt und ihn unter die Wurstmaschine gezogen. Ach, was war das für
ein
widerlicher Kerl. Wie der immer lachte, wenn er durch die Fleischerei
kam.
Teufel,
das war ein ganz widerwärtiger Kerl.
Und
der Assistenzarzt, dieses bucklige Schwein, dem
hätte er noch mal das Gehirn zertreten. Und die Wärter in ihren weiß
gestreiften Kitteln, die aussahen wie eine Bande Zuchthäusler, diese
Schufte,
die die Männer bestahlen und die Frauen auf den Klosetts
vergewaltigten. Das
war ja rein zum Verrücktwerden.
Und
er wußte wirklich nicht, wie er da seine Zeit
ausgehalten hatte. Drei Jahre oder vier Jahre, wie lange hatte er da
eigentlich
gesessen, dahinten in diesem weißen Loch, in diesem großen Kasten,
mitten unter
Verrückten. Wenn er da morgens in die Fleischerei ging, über den großen
Hof,
wie sie da herumlagen und die Zähne fletschten, manche halbnackt. Dann
kamen
die Wärter und schleppten die fort, die sich besonders schlecht
aufführten. Sie wurden in heiße Bäder gesteckt. Da war mehr wie
einer
verbrüht worden, mit Absicht, das wußte er. Einmal wollten die Wärter
einen
Toten in die Fleischerei bringen, daraus sollte Wurst gemacht werden.
Das
sollten sie dann zu essen bekommen. Er hatte es dem Arzt gesagt, aber
der hatte
es ihm ausgeredet. So, der hatte also mit unter der Decke gesteckt.
Dieser
verfluchte Hund. Wenn er ihn jetzt hier hätte. Den würde er in das Korn
schmeißen und ihm die Gurgel abreißen, diesem verfluchten Schwein,
diesem
Sauhund, verfluchten.
Überhaupt,
warum hatten sie ihn eigentlich in die Anstalt
gebracht? Doch nur aus Schikane. Was hatte er denn weiter gemacht? Er
hatte
seine Frau ein paarmal verhauen, das war doch sein gutes Recht, er war
doch
verheiratet. Auf der Polizei hätte man seine Frau ’rausschmeißen
sollen, das
wäre viel richtiger gewesen. Statt dessen hatten sie ihn vorgeladen,
verhört,
lauter Theater mit ihm aufgestellt. Und eines Morgens war er überhaupt
nicht
mehr fortgelassen worden. Sie hatten ihn in einen Wagen gepackt, hier
draußen
war er abgeladen worden. So eine Ungerechtigkeit, so eine
Unverschämtheit.
Und
wem hatte er das alles zu verdanken? Doch nur
seiner Frau. So, und mit der würde er jetzt abrechnen. Die stand noch
hoch im
Konto.
Er
riß in seiner Wut von dem Feldrande ein Büschel
Kornähren ab und schwenkte es wie einen Stock in der Hand. Dann stand
er auf,
und nun wehe ihr.
Er
nahm das Bündel mit seinen Sachen über seine
Schultern, dann setzte er sich wieder in Marsch. Aber er wußte nicht
recht, wo
er hingehen sollte. Ganz hinten über den Feldern rauchte ein
Schornstein. Den
kannte er, der war nicht weit von seiner Wohnung.
Er
verließ die Straße und bog in die Felder ab, mitten
hinein in die Halme. Geradeswegs auf sein Ziel zu. Was das für ein
Vergnügen war, so in die dicken Halme zu treten, die unter seinem
Fuß knackten
und barsten.
Er
machte die Augen zu, und ein seliges Lächeln flog
über sein Gesicht.
Es
war ihm, als wenn er über einen weiten Platz ginge.
Da lagen viele, viele Menschen, alle mit dem Kopfe auf der Erde. Es war
so, wie
auf dem Bild in der Wohnung des Direktors, wo viele tausend Leute in
weißen
Mänteln und Kapuzen vor einem großen Stein lagen, den sie anbeteten.
Und dies
Bild hieß Kaaba. »Kaaba, Kaaba«, wiederholte er bei jedem Schritt. Er
sagte das
wie eine mächtige Beschwörungsformel, und jedesmal trat er dann rechts
und
links um sich, auf die vielen weißen Köpfe. Und dann knackten die
Schädel; es
gab einen Ton, wie wenn jemand eine Nuß mit einem Hammer entzweihaut.
Manche
klangen ganz zart, das waren die dünnen, das
waren die Kinderschädel. Da gab es einen Ton, wie Silber, leicht,
luftig wie
eine kleine Wolke. Manche wieder schnarrten, wenn man auf sie trat,
ähnlich wie
Waldteufel. Und dann kamen ihre roten, flatternden Zungen aus dem Munde
heraus,
wie es bei den Gummibällen war. Ach, es war wunderschön.
Manche
waren so weich, daß man gleichsam einsank. Sie
blieben an den Füßen kleben. Und so ging er mit zwei Schädeln an den
Beinen
dahin, als wäre er eben aus zwei Eierschalen ausgekrochen, die er noch
nicht
ganz abgeschüttelt hatte.
Am
meisten freute es ihn aber, wenn er irgendwo den
Kopf von einem alten Manne sah, kahl und blank, wie eine marmorne
Kugel. Da
setzte er erst ganz vorsichtig auf und wippte erst ein paarmal zur
Probe, so,
so, so. Und dann trat er zu, knax, daß das Gehirn ordentlich spritzte,
wie ein
kleiner goldener Springbrunnen.
Allmählich
wurde er müde. Er erinnerte sich plötzlich
an den Verrückten, der glaubte, er hätte gläserne Beine, und er könnte
nicht
laufen. Er hatte den ganzen Tag auf seinem
Schneidertisch gesessen, aber die
Wärter hatten ihn immer erst hintragen müssen. Allein war er keinen
Schritt
gegangen. Wenn sie ihn auf seine Beine stellten, ging er einfach nicht
weiter.
Dabei waren seine Beine ganz gesund, das sah doch jeder. Sogar auf das
Klosett
war er nicht einmal allein gegangen, nein, wie einer doch so verrückt
sein
konnte. Das war ja zum Lachen.
Neulich
war der Pfarrer zu Besuch gewesen, und da
hatte er mit ihm über den Verrückten gesprochen: »Sehen Sie mal, Herr
Pastor,
der da, der Schneider, der ist doch zu verrückt. So ein dämliches Aas!«
Und da
hatte der Pastor gelacht, daß die Wände gewackelt hatten.
Er
trat aus den Halmen heraus, allenthalben klebte
Stroh an seinem Anzug und an seinem Haar. Sein Kleiderbündel hatte er
unterwegs
verloren. Die Ähren trug er noch in seiner Hand, und er schwenkte sie
vor sich
her wie eine goldene Fahne. Er marschierte stramm aus. »Rechten,
Linken, Speck
und Schinken«, summte er vor sich hin. Und die Kletten, die an seiner
Hose
saßen, flogen in weiten Bogen ab.
»Abteilung
halt«, kommandierte er. Er steckte seine
Fahne in den Sand des Feldwegs und warf sich in den Graben.
Plötzlich
bekam er vor der Sonne Angst, die auf seine
Schläfe brannte. Er glaubte, sie wollte über ihn herfallen, und steckte
sein
Gesicht tief in das Gras hinein. Dann schlief er ein.
Kinderstimmen
weckten ihn auf. Neben ihm standen ein
kleiner Junge und ein kleines Mädchen. Als sie sahen, daß der Mann
aufgewacht
war, liefen sie weg.
Er
bekam eine furchtbare Wut auf diese beiden Kinder,
er wurde im Gesicht rot wie ein Krebs.
Mit
einem Satze sprang er auf und lief den Kindern
nach. Als die seine Schritte hörten, fingen sie an zu schreien und
liefen
schneller. Der kleine Junge zog sein Schwesterchen hinter sich her. Das
stolperte, fiel hin und fing an zu weinen.
Und
weinen konnte er überhaupt nicht vertragen.
Er
holte die Kinder ein und riß das kleine Mädchen aus
dem Sande auf. Es sah das verzerrte Gesicht über sich und schrie laut
auf. Auch
der Junge schrie und wollte fortlaufen. Da bekam er ihn mit der andern
Hand zu
packen. Er schlug die Köpfe der beiden Kinder gegeneinander. Eins,
zwei, drei,
eins, zwei, drei, zählte er, und bei drei krachten die beiden kleinen
Schädel
immer zusammen wie das reine Donnerwetter. Jetzt kam schon das Blut.
Das
berauschte ihn, machte ihn zu einem Gott. Er mußte singen. Ihm fiel ein
Choral
ein. Und er sang:
»Ein
feste Burg ist unser Gott,
Ein
gute Wehr und Waffen.
Er
hilft uns frei aus aller Not,
Die
uns jetzt hat betroffen.
Der
alt böse Feind,
Mit
Ernst er's jetzt meint,
Groß
Macht und viel List
Sein
grausam Rüstung ist,
Auf
Erd ist nicht sein's gleichen.«
Er
akzentuierte die einzelnen Takte laut, und bei
jedem ließ er die beiden kleinen Köpfe aufeinanderstoßen, wie ein
Musiker, der
seine Becken zusammenhaut.
Als
der Choral zu Ende war, ließ er die beiden
zerschmetterten Schädel aus seinen Händen fallen. Er begann wie in
einer
Verzückung um die beiden Leichen herumzutanzen. Dabei schwang er seine
Arme wie
ein großer Vogel, und das Blut daran sprang um ihn herum wie ein
feuriger
Regen.
Mit
einem Male schlug seine Stimmung um. Ein
unbezwingliches Mitleid mit den beiden armen Kindern schnürte ihm von
innen
heraus fast den Hals ab. Er hob ihre Leichname aus dem Staub des Weges
und schleppte
sie in das Korn hinüber. Er wischte mit einer Handvoll Unkraut das
Blut, das
Gehirn und den Schmutz aus dem Gesicht und setzte sich zwischen die
beiden
kleinen Leichen. Dann nahm er ihre Händchen in seine Faust und
streichelte sie
mit blutigen Fingern.
Er
mußte weinen, große Tränen liefen langsam über
seine Backen hinunter.
Ihm
kam der Gedanke, daß er vielleicht die Kinder
wieder zum Leben bringen könnte. Er kniete sich über ihre Gesichter und
blies
seinen Atem in die Löcher ihrer Schädel. Aber die Kinder rührten sich
nicht. Da
dachte er, es wäre vielleicht noch nicht genug, und wiederholte den
Versuch.
Aber auch dieses Mal war es nichts. »Na denn eben nicht«, sagte er,
»tot ist
tot.«
Nach
und nach kamen unzählige Mengen von Fliegen,
Mücken und anderem Ungeziefer aus den Feldern heraus, hinter dem
Blutgeruch
her. Sie schwebten wie eine dichte Wolke über den Wunden. Ein paar Mal
machte
er den Versuch, sie fortzutreiben. Als er aber selbst gestochen wurde,
wurde
ihm die Sache zu unbequem. Er stand auf und ging fort, während sich die
Insekten
in einem dicken schwarzen Schwarm auf die blutigen Löcher der Schädel
stürzten.
Ja,
wo nun hin?
Da
fiel ihm seine Aufgabe wieder ein. Er hatte ja mit
seiner Frau abzurechnen. Und im Vorgefühl seiner Rache leuchtete sein
Gesicht
wie eine purpurne Sonne.
Er
bog in eine Landstraße ein, die auf die Vorstadt
zuführte.
Er
sah sich um.
Die
Straße war leer. In der Ferne verlor sich der Weg.
Oben auf einem Hügel hinter ihm saß ein Mann vor einem Leierkasten.
Jetzt kam
über den Hügel eine Frau herauf, die einen kleinen Handwagen hinter
sich
herzog.
Er
wartete, bis sie heran war, ließ sie an sich vorbei
und ging ihr nach.
Er
glaubte, sie zu kennen. War das nicht die
Grünkramfritzen von der Ecke? Er wollte sie ansprechen, aber er schämte
sich.
Ach, die denkt, ich bin ja der Verrückte aus Nr. 17. Wenn die mich
wiedererkennt, die lacht mich ja aus. Und ich lasse mich nicht
auslachen, zum
Donnerwetter. Eher schlage ich ihr den Schädel ein.
Er
fühlte, daß in ihm wieder die Wut aufkommen wollte.
Er fürchtete sich vor dieser dunklen Tollheit. Pfui, jetzt wird sie
mich gleich
wieder haben, dachte er. Ihn schwindelte, er hielt sich an einem Baum
und
schloß die Augen.
Plötzlich
sah er das Tier wieder, das in ihm saß.
Unten zwischen dem Magen, wie eine große Hyäne. Hatte die einen Rachen.
Und das
Aas wollte ’raus. Ja, ja, du mußt ’raus.
Jetzt
war er selber das Tier, und auf allen vieren
kroch er die Straße entlang. Schnell, schnell, sonst läuft sie weg. Wie
die
laufen kann, aber so eine Hyäne ist noch schneller.
Er
bellte laut wie ein Schakal. Die Frau sah sich um.
Als sie da einen Mann auf Händen und Füßen hinter sich herlaufen sah,
das wirre
Haar in dem dicken Gesicht, weiß von Staub, da ließ sie ihren Wagen
stehen, und
laut schreiend rannte sie die Straße hinunter.
Da
sprang das Tier auf. Wie ein Wilder war es hinter
ihr her. Seine lange Mähne flog, seine Krallen schlugen in die Luft,
und aus
seinem Rachen hing seine Zunge heraus.
Jetzt
hörte es schon den Atem der Frau. Die keuchte,
schrie und jagte davon, was sie konnte. So, noch ein, zwei Sätze. Nun
springt
das Tier ihr auf den Hals mitten hinauf.
Die
Frau wälzt sich im Sand, das Tier schmeißt sie
herum. Hier ist die Kehle, da ist das beste Blut; man trinkt immer aus
der
Kehle. Es haut seinen Rachen in ihre Gurgel und saugt das Blut aus
ihrem Leibe.
Pfui Teufel, ist das aber schön.
Das
Tier läßt die Frau liegen und springt auf. Da oben
kommt noch einer. Ist der aber dumm. Der merkt ja gar nicht, daß
hier
Hyänen sitzen. So ein Idiot, na.
Der
alte Mann kam heran. Als er nahe war, sah er aus
seiner großen Brille die Frau, die im Sande lag mit ihren verrutschten
Röcken
und ihren Knien, die sie im Todeskampf auf den Leib gezogen hatte. Auch
um
ihren Kopf war eine große Blutlache.
Er
blieb neben der Frau stehen, starr vor Bestürzung.
Da
teilten sich die hohen Kornblumen, und heraus kam
ein Mann, verwüstet und zerrissen. Sein Mund war ganz voll Blut.
»Das
ist sicher der Mörder«, dachte der alte Mann.
In
seiner Angst wußte er nicht recht, was er machen
sollte. Sollte er fortlaufen oder sollte er stehenbleiben?
Am
Ende wollte er es zuerst einmal mit Freundlichkeit
versuchen. Denn mit dem da war es doch nicht ganz richtig, das sah man
ja.
»Guten
Tag«, sagte der Verrückte.
»Guten
Tag«, antwortete der alte Mann, »das ist ja ein
schreckliches Unglück.«
»Ja,
ja, das ist ein schreckliches Unglück, da haben
Sie ganz recht«, sagte der Verrückte. Seine Stimme zitterte.
»Aber
ich muß weitergehen. Entschuldigen Sie nur.«
Und
der alte Mann ging zuerst ein paar Schritte
langsam. Als er etwas weiter fort war und merkte, daß der Mörder ihm
nicht
nachlief, ging er schneller. Und endlich fing er an zu rennen wie ein
kleiner
Junge.
»Nein,
sieht der komisch aus, wie der da rennt. Ist
das ein verrücktes Haus.« Und der Irre lachte über das ganze Gesicht,
das Blut
zog sich in den Falten zusammen. Er sah aus wie ein furchtbarer Teufel.
Aber
schließlich, mochte der laufen. Der hatte ja ganz
recht. Er würde es auch so machen. Denn hier konnten gleich wieder die
Hyänen
aus dem Korn kommen.
»Aber
pfui, bin ich schmutzig.« Er besah sich. »Wo
kommt denn das viele Blut her?«
Und
er riß der Frau ihre Schürze ab und wischte sich
das Blut ab, so gut es ging.
Sein
Gedächtnis verlor sich. Er wußte zuletzt nicht
mehr, wo er war. Er ging wieder querfeldein, über Feldwege, durch
Felder, im
brennenden Mittag. Er erschien sich wie eine große Blume, die durch die
Felder
wandert. Etwa eine Sonnenrose. Genau konnte er es nicht erkennen.
Er
fühlte Hunger.
Später
fand er einen Rübenacker, er riß ein paar Rüben
heraus und aß sie.
In
einem Felde stieß er auf einen Weiher.
Der
lag da wie ein großes schwarzes Tuch mitten in dem
Gold des Kornes.
Er
bekam Lust, zu baden, zog sich aus und stieg in das
Wasser. Wie das gut tat, wie das ruhig machte. Er atmete den Duft des
Wassers,
über dem die Würze der weiten sommerlichen Felder lag. »Ach, Wasser,
Wasser«,
sagte er leise, als wenn er jemand rufen wollte. Und nun schwamm er wie
ein
großer weißer Fisch in dem zitternden Teich.
Am
Ufer flocht er sich eine Krone aus dem Schilf und
besah sich im Wasser. Dann sprang er am Ufer herum und tanzte nackt in
der
weißen Sonne, groß, stark und schön wie ein Satyr.
Plötzlich
kam ihm der Gedanke, daß er etwas
Unanständiges täte. Er zog sich schnell an, machte sich klein und kroch
in das
Korn.
Wenn
jetzt der Wärter kommt und mich hier findet, der
wird schön schimpfen, der zeigt das dem Direktor an, dachte er. Als
aber
niemand kam, faßte er wieder Mut und setzte seinen Weg fort.
Mit
einem Male stand er vor einem Gartenzaun. Dahinter
waren Obstbäume. Wäsche war daran zum Trocknen aufgehängt, Kinder
schliefen dazwischen. Er ging daran entlang und trat auf eine Straße.
Da
waren ziemlich viele Menschen, die an ihm
vorübergingen, ohne auf ihn zu achten. Eine elektrische Bahn fuhr
vorbei.
Ihn
überkam das Gefühl einer grenzenlosen
Verlassenheit, das Heimweh packte ihn mit aller Gewalt. Am liebsten
wäre er auf
der Stelle nach der Anstalt zurückgelaufen. Aber er wußte nicht, wo er
war. Und
wen sollte er fragen? Er konnte doch nicht sagen: »Sie, wo ist denn die
Irrenanstalt?« Dann würde er sicher für einen Verrückten gehalten
werden, und
das ging denn doch nicht.
Und
er wußte ja auch, was er wollte. Er hatte ja noch
viel zu erledigen.
An
der Ecke der Straße stand ein Schutzmann. Der Irre
beschloß, den nach seiner Straße zu fragen, traute sich aber nicht
recht.
Schließlich konnte er aber doch nicht ewig hier stehenbleiben. Er ging
also auf
den Schutzmann los. Plötzlich merkte er, daß auf seiner Weste noch ein
großer
Blutfleck war. Na, den durfte der Schutzmann aber nicht zu sehen
kriegen. Und
er knöpfte seinen Rock zu. Er überlegte, was er sagen wollte, Wort für
Wort,
wiederholte es sich ein paarmal.
Es
lief alles gut ab. Er nahm den Hut ab, fragte nach
seiner Straße, der Schutzmann wies ihn hin.
Das
ist ja gar nicht einmal weit, dachte er. Und nun
kannte er auch die Straßen wieder. Hatten die sich aber verändert,
jetzt fuhr
hier sogar schon die Elektrische.
Er
machte sich auf den Weg, er schlich an den Häusern
entlang; wenn ihm jemand begegnete, kehrte er sein Gesicht nach der
Wand. Er
schämte sich.
So
kam er vor sein Haus. Vor der Türe spielten Kinder,
die ihn neugierig ansahen. Er ging die Stiege hinauf. Überall roch
es nach
Essen. Er schlich auf den Zehenspitzen weiter. Als er unter sich eine
Tür gehen
hörte, zog er auch noch die Schuhe aus.
Nun
war er vor seiner Tür. Er setzte sich einen
Augenblick auf die Treppe und überlegte. Denn jetzt war der große
Moment da.
Und was geschehen mußte, mußte geschehen, das war gar keine Frage.
Er
stand auf und klingelte. Alles blieb still. Er ging
ein paarmal auf dem Treppenflur hin und her. Er las das Schild
gegenüber. Da
wohnten nun auch andere Leute. Und nun ging er wieder zurück und
klingelte noch
einmal. Aber es kam wieder niemand. Er bückte sich, um durch das
Schlüsselloch
zu sehen, da war aber alles schwarz. Er legte sein Ohr an die Tür, um
irgend
etwas zu hören, vielleicht einen Schritt, ein Geflüster, es blieb aber
alles
stumm.
Und
nun kam ihm ein Gedanke. Mit einem Male wußte er,
warum ihm niemand aufmachte. Seine Frau hatte Angst vor ihm, seine
Frau, die
hatte keine Traute. Das Aas, das wußte schon, was los war. Na, nu aber.
Er
trat ein paar Schritte zurück. Seine Augen wurden
ganz klein, wie rote Punkte. Seine niedre Stirn lief noch mehr
zusammen. Er
krümmte sich zusammen. Und nun sprang er in einem großen Satz gegen die
Tür.
Die krachte laut, hielt aber den Stoß aus. Da schrie er aus allen
Kräften und
sprang noch einmal. Und dieses Mal gab die Tür nach. Ihre Bretter
krachten, das
Schloß sprang aus, sie ging auf, und er stürzte hinein.
Da
sah er eine leere Wohnung. Links war die Küche,
rechts die Stube. Die Tapete war abgerissen. Überall auf der Diele lag
Staub
und abgefallene Farbe.
So,
seine Frau hatte sich also verkrochen. Er rannte
die vier Wände der leeren Stube ab, den kleinen Korridor, das Klosett,
die
Kammer. Nirgends war etwas, alles leer. In der Küche auch nichts. Da
sprang er
mit einem Satze auf den Kochherd.
Aber
da war sie ja, da lief sie ja herum. Sie sah aus
wie eine große graue Ratte. So also sah sie aus. Sie lief immer an der
Küchenwand entlang, immer herum, und er riß eine eiserne Platte von dem
Ofen
und warf sie nach der Ratte. Aber die war viel flinker. Aber jetzt,
jetzt wird
er sie treffen. Und er warf noch einmal. Aber jetzt. Und das
Bombardement der
eisernen Herdringe krachte gegen die Wände, daß der Staub überall
herunterrasselte.
Er
fing an zu schreien. Er brüllte wie besessen: »Du
Schlafburschenhure, du Sau, du . . .« Er brüllte, daß das ganze Haus
zitterte.
Überall
klapperten die Türen, überall entstand Lärm.
Jetzt kam es schon die Treppe herauf.
Da
standen schon zwei Männer in der Tür und dahinter
ein Haufen von Frauen, die an ihren Schürzen ein ganzes Bataillon
kleiner
Kinder nachzogen.
Sie
sahen den Tobenden oben auf seinem Herd. Die
beiden Männer sprachen sich gegenseitig Mut zu. Da flog dem einen ein
Feuerhaken gegen den Schädel, der andere wurde zu Boden geschmissen,
und mit
ein paar großen Sätzen sprang der Irrsinnige wie ein riesiger
Orang-Utan mitten
über das Volk hinweg. Er raste die Treppen hinauf, kam an die
Bodenleiter,
schwang sich auf das Dach, kroch über ein paar Mauern, um Schornsteine,
verschwand in einer Luke, stürzte eine Treppe hinunter und befand sich
plötzlich auf einem grünen Platz. Eine leere Bank stand vor ihm. Er
ließ sich
auf sie niederfallen, streckte das Gesicht in seine Hände und begann,
leise vor
sich hin zu weinen.
Er
hatte das Bedürfnis, zu schlafen. Als er sich auf
der Bank langlegen wollte, sah er aus einer Straße, geführt von ein
paar
Schutzleuten wie von Generalen, einen großen Haufen Menschen kommen.
Die
wollen mich wohl suchen, ich soll wieder ’raus
nach der Anstalt. Sie denken wohl, ich weiß nicht allein, was ich zu
tun habe,
dachte er.
Er
verließ schnell den Park. Seine Mütze blieb auf der
Bank liegen. Und von fern sah er noch, wie sie einer der Männer gleich
einer
Trophäe in der Luft herumschwenkte.
Er
kam durch ein paar volle Straßen, über einen Platz,
wieder durch Straßen. Ihm wurde unbehaglich in den Menschenmassen. Er
fühlte
sich beengt, er suchte nach einem stillen Winkel, wo er sich hinlegen
konnte.
In einem Hause war ein großes Hoftor. Davor stand ein Mann in einer
braunen
Livree mit goldenen Knöpfen. Sonst schien da aber niemand zu sein. Er
ging an
dem Diener vorbei, der ihn auch ruhig passieren ließ. Das wunderte ihn
eigentlich. Kennt er mich denn nicht, fragte er sich. Und er fühlte
sich
eigentlich beleidigt.
Er
kam an eine Tür, die sich fortwährend drehte. Auf
einmal wurde er von einem Türflügel erfaßt, bekam einen Stoß und war
plötzlich
in einer weiten Halle.
Da
waren unzählige Tische, voll Spitzen, Kleidern.
Alles schwamm in einem goldigen Lichte, das sich durch hohe Fenster in
der
Dämmerung des riesigen Raumes verteilte. Von der Decke hing ein
riesiger
Kronleuchter, glitzerten zahllose Diamanten.
An
der Seite der Halle führten große Freitreppen
hinauf, über die einzelne Menschen hinauf- und herunterstiegen.
Donnerwetter,
ist das eine feine Kirche, dachte er. An
den Gängen standen Herren in schwarzen Anzügen, Mädchen in schwarzen
Kleidern.
Hinter einem Pulte saß eine Frau, vor ihr zählte jemand Geld auf. Ein
Stück
fiel hinunter und klapperte auf die Erde.
Er
stieg die Treppe hinauf, kam durch viele große
Gemächer voll allerhand Möbeln, Geräten, Bildern. In einem waren viele
Uhren
aufgestellt, die alle mit einem Male schlugen. Hinter einem großen
Vorhang
ertönte ein Harmonium, eine schwermütige Musik, die sich langsam in der
Ferne
zu verlieren schien. Er schlug den Vorhang verstohlen zurück, da sah er
viele
Menschen, die einer Spielerin zuhörten. Alle sahen ernst und andächtig
aus, und
ihm wurde ganz feierlich zu Mute. Aber er wagte sich nicht hinein.
Er
kam an eine vergitterte Tür. Dahinter war ein großer
Schacht, in dem einige Seile herauf und herunter zu laufen schienen.
Ein großer
Kasten kam von unten herauf, das Gitter wurde zurückgezogen. Jemand
sagte:
»Bitte aufwärts«, er war in dem Kasten und schwebte wie ein Vogel in
die Höhe
hinauf.
Oben
begegnete er vielen Menschen, die um große Tische
voll von Tellern, Vasen, Gläsern, Gefäßen herumstanden oder sich in den
Gängen
zwischen einer Reihe von Podien bewegten, auf denen wie ein Feld
gläserner
Blumen schlanke Kristalle, Leuchter oder bunte Lampen aus gemaltem
Porzellan
prangten. An der Wand, entlang an diesen Kostbarkeiten, lief, um eine
kurze
Treppe erhöht, eine schmale Galerie hin.
Er
wand sich durch die Massen hindurch, er kam über
die Treppe auf die Galerie hinauf. Er lehnte sich an das Geländer,
unten sah er
die Menschen hinströmen, die wie unzählige schwarze Fliegen mit ihren
Köpfen,
Beinen und Armen in ewiger Bewegung ein ewiges Summen hervorzubringen
schienen.
Und eingeschläfert von der Monotonie dieser Geräusche, betäubt von der
Schwüle
des Nachmittags, krank von den Exaltationen dieses Tages schloß er
seine Augen.
Er
war ein großer weißer Vogel über einem großen
einsamen Meer, gewiegt von einer ewigen Helle, hoch im Blauen. Sein
Haupt stieß
an die weißen Wolken, er war Nachbar der Sonne, die über seinem Haupte
den
Himmel füllte, eine große goldene Schale, die gewaltig zu dröhnen
begann.
Seine
Schwingen, weißer als ein Schneemeer, stark, mit
Achsen wie Baumstämme klafterten über den Horizont, unten tief in der
Flut
schienen purpurne Inseln zu schwimmen, großen rosigen Muscheln gleich.
Ein
unendlicher Friede, eine ewige Ruhe zitterte unter diesem ewigen
Himmel.
Er
wußte nicht, flog er so schnell, oder wurde das
Meer unter ihm fortgezogen. Das war also das Meer.
Wenn
er das den andern erzählen würde in der Anstalt,
heute abend in den Schlafsälen, die würden schön neidisch sein. Darüber
freute
er sich eigentlich am meisten. Aber dem Doktor wollte er lieber gar
nichts
erzählen, der würde wieder sagen: »So, so.« Aber der glaubte doch
nichts. Das war
so ein Halunke. Wenn er auch immer sagte, er glaubte alles.
Unten
im Meere schwamm ein großer weißer Kahn mit
langsamen Segeln. Wie einer aus dem Humboldthafen, dachte er, aber
größer.
Teufel,
was war es doch schön, ein Vogel zu sein.
Warum war er nicht schon lange ein Vogel geworden, Und er rollte seine
Augen in
der Luft herum.
Unter
ihm wurden ein paar Frauen auf ihn aufmerksam.
Sie lachten. Andere kamen, es entstand ein Gedränge, Ladenmädchen
rannten nach
dem Geschäftsführer.
Er
stieg auf die Brüstung, richtete sich auf und
schien oben über der Menge zu schweben.
Unter
ihm in dem Ozean war ein riesiges Licht. Er
mußte jetzt herabtauchen, jetzt war es Zeit, auf das Meer zu sinken.
Aber
da war etwas Schwarzes, etwas Feindliches, das
störte ihn, das wollte ihn nicht hinunterlassen. Aber er wird das schon
kriegen, er ist ja so stark.
Und
er holt aus und springt von der Balustrade mitten
in die japanischen Gläser, in die chinesischen Lackmalereien, in die
Kristalle
von Tiffany. Da ist das Schwarze, da ist das, – und er reißt ein
Ladenmädchen zu sich herauf, legt ihr die Hände um die Kehle und drückt
zu.
Und
die Menge flieht durch die Gänge, stürzt die
Treppen übereinander herab, gellendes Geschrei erfüllt das ganze Haus.
»Feuer,
Feuer«, wird geschrien. In einem Augenblicke ist die ganze Etage leer.
Nur ein
paar kleine Kinder liegen vor der Treppentür, totgetreten oder
erdrückt.
Er
kniet auf seinem Opfer und drückt es langsam zu
Tode.
Um
ihn herum ist das große goldene Meer, das seine
Wogen zu beiden Seiten wie gewaltige schimmernde Dächer türmt. Er
reitet auf
einem schwarzen Fisch, er umarmt seinen Kopf mit den Armen. Ist der
aber dick,
denkt er. Tief unter ihm sieht er in der grünen Tiefe, verloren in ein
paar
zitternden Sonnenstrahlen, grüne Schlösser, grüne Gärten in einer
ewigen Tiefe.
Wie weit mögen die sein? Wenn er doch einmal da hinunter könnte, dort
unten.
Die
Schlösser rücken immer tiefer, die Gärten scheinen
immer tiefer zu sinken.
Er
weint, er wird ja niemals dahinkommen. Er ist nur
ein armes Aas. Und der Fisch unter ihm wird auch frech, der zappelt
noch, dem
Biest wird er es schon besorgen, und er drückt ihm den Hals ab.
Hinter
der Tür erschien ein Mann, legte ein Gewehr an
die Backe, zielte. Der Schuß traf den Wahnsinnigen in den Hinterkopf.
Er
schwankte ein paarmal hin und her, dann fiel er schwer über sein
letztes Opfer,
unter die klirrenden Gläser.
Und
während das Blut aus der Wunde schoß, war es ihm,
als sänke er nun in die Tiefe, immer tiefer, leise wie eine Flaumfeder.
Eine
ewige Musik stieg von unten herauf und sein sterbendes Herz tat sich
auf,
zitternd in einer unermeßlichen Seligkeit.
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