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Literatur

"Verzweiflung", Ludwig Meidner (Ausschnitt), 1914, "Ludwig Meidner Archiv,  Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt a. M.
     
04.3


Prosadichtungen und Schriften
Georg Heym




Aus den Traumaufzeichnungen

 
26.VIII.07.
„Um beständig lebhaft zu träumen, bedarf es nichts mehr, als einige seiner Träume niederzuschreiben,“ sagte ein Weiser. Gut, da es mein Wunsch ist, oft zu träumen, befolge ich den Rat.
 
 
eodem die
Wir hatten ein unnennbares Verbrechen begangen. Nur ein tiefes Grauen war in uns geblieben, aber die Tat selbst war vergessen und so sehr ich mich quälte, ich konnte mich nicht erinnern. Nun saßen wir in der Folterkammer. Einem Gefährten spannte der Henker den Arm in einen Schraubstock und zerbrach ihn. Er ließ es willenlos geschehen. Der Henker sah furchtbar aus. Er war modern angezogen und hatte einen medizinischen weißen Mantel über seinen schwarzen Beinkleidern. Sein Gesicht war ganz ausdruckslos, fast gutmütig. Und das eben erschien mir so furchtbar. Dann verband er den Willenlosen, der ruhig fortging.
 
Mir und dem dritten Gefährten sollte ein Auge ausgestochen werden. Ich winkte ihm, er sollte mit mir fliehen, da die Tür auf die Landstraße hinaus offen stand. Aber er achtete nicht darauf. Er setzte sich ruhig nieder.
 
Der Henker trat vor ihn und bohrte ihm eine vielleicht 4 cm lange kleine Holzrolle, an der vorn ein kleiner scharfer Korkzieher angebracht war, in den Tränensack des linken Auges und drehte den Korkzieher immer tiefer in das Auge. Dann zog er ihn heraus. Nach einer Weile quoll Wasser hervor, das Auge lief aus. Ich entfloh. Als ich die Landstraße entlang eilen wollte, trat der Geblendete in die Tür. Seine Augenhöhle war schwarz. Er wischte sie sich mit dem Taschentuch aus. Mich befiel eine ungeheure bodenlose Traurigkeit und ich entfloh, und wußte nicht, wohin.
 
Ich erwachte.
   
9.10.1907
Ein Kind im Spiel am Abend mit einem andern, das halb Greis halb Kind. Ich fragte es, wer es sei “Ich bin der Unsterbliche Böse” war die Antwort.
 
 
30.III. 1908
Napoleon kämpfte in einem großen hellen Saal den letzten Entscheidungskampf. Er wurde nach langem Kampf bezwungen und man versprach ihm freien Abzug.
 
Zu Pferde verließ er mit seiner Gemahlin den Saal. Er sah groß, stattlich, herrlich aus.
 
Er trug schwarze Locken und war in einen grünen Rock mit weißer Weste gekleidet. Seine Gemahlin nach heutiger Mode. Er hob sie auf's Pferd und sagte dann: “So die Pferde haben endlich Tritt.“ Ihm folgte ein Paar zu Pferde, das ihm und der Kaiserin ganz glich. Sie  waren  größer  als alle im Saal. Als sie durch die Tür ritten, hörten sie von dem Tisch der vier royalistischen Adligen, die gesiegt hatten, die an die unterlegenen napoleonischen Garden gerichteten zornigen Worte: “Wartet, Wartet“
 
 
28.IV 1908
Ein Bild mit Schlangen, die durch das Wasser schwammen. Darum viel Tiger mit gestreckten Hälsen.
 
 
12.9.1908
Ich träumte, daß ich einen Schädel aus der Erde grub.
 
Ich war in einem Schloßhof. Sah eine schöne Landschaft unter ihm. Ein Adler kam auf mich zu. Seine Schwinge endete in eine Kralle. Er riß mich über dem Handgelenk. Dann flog er nach Dänemark.
 
 
19.6.1909
Ich trete in einer wahnsinnigen Tracht aus meinem Zimmer, von einem furchtbaren Phantom gejagt. Ich vermag mit letzter Willenskraft noch die Tür vor ihm zu schließen.
 
 
2. Juli 1910
Ich stand an einem großen See, der ganz mit einer Art Steinplatten bedeckt war. Es schien mir eine Art gefrorenen Wassers zu sein. Manchmal sah es aus wie die Haut, die sich auf Milch zieht. Es gingen einige Menschen darüber hin, Leute mit Tragelasten oder Körben, die wohl zu einem Markt gehen mochten. Ich wagte einige Schritte, und die Platten hielten. Ich fühlte, daß sie sehr dünn waren; wenn ich eine betrat, so schwankte sie hin und her. Ich war eine ganze Weile gegangen, da begegnete mir eine Frau, die meinte ich sollte umkehren, die Platten würden nun bald brüchig. Doch ich ging weiter. Plötzlich fühlte ich, wie die Platten unter mir schwanden, aber ich fiel nicht. Ich ging noch eine Weile auf dem Wasser weiter. Da kam mir der Gedanke ich möchte fallen können. In diesem Augenblick versank ich auch schon in ein grünes schlammiges, Schlingpflanzenreiches Wasser. Doch ich gab mich nicht verloren, ich begann zu schwimmen. Wie durch ein Wunder rückte das ferne Land mir näher und näher. Mit wenigen Stößen landete ich in einer sandigen, sonnigen Bucht.
 
 
20.8.10.
Traum von der Pest.
 
Eine öde Vorstadtstraße, wenig bebaut. Vor mir ein Abhang, im Grunde ein eingezäuntes Terrain, in dem ich die Pestkranken schlafen sehe.
 
Hinten über Feldern ein weiter grüner Wald. Und über allem ein ewig klarer blauer Frühlingshimmel.
 
Ein Karren voll mit Kranken kommt die Straße herauf. Es wirbelt in ihm von Gliedern. Furchtbare Gesichter heben sich aus der Masse der Leiber. 2 Männer begleiten ihn, die jeder ein Kissen, das mit Benzin gefüllt ist, an die Nase halten. Der Karren langt bei mir an. Das Brett hinten wird herausgezogen, und der Qualm und furchtbare Dunst der Beulen flutet heraus. Die Leiber stürzen sich überschlagend heraus, wie die Kohlen aus einem Kohlenwagen. Man drängt die Kranken nach dem Abhang zu. Sie stürzen ihn herunter, lallend von furchtbaren Delirien, singend, tanzend und aus zerfetzten Kleidern einen entsetzlichen Geruch verbreitend. Sie quellen in den Verschlag unten, in den entsetzlichen gräberlosen Totenacker. Der Wagen gähnt leer, als suchte er nach neuer Fracht. Der eine Mann mit dem Riechkissen sieht um sich. Er bemerkt einen harmlosen Passanten und läßt ihn festnehmen. Der sträubt sich mit aller Kraft. Aber er ist bald gefesselt und in den Zaun gestoßen.
 
Ich sehe herunter und sehe unten das Gewühl der Leiber, die in den Höhlen brennenden Augen, und furchtbar gereckten Fäuste. Ein wahnsinniges Brüllen. Sie wissen, sie werden dem Hungertode überliefert.
 
Hinten über den Wäldern hat sich der blaue Himmel mit kleinen weißen Wölkchen gefüllt.
 
Erklärung: Ich hatte einen Articel über Verbreitung von Seuchen durch die Eisenbahn gelesen.
 
Traum 20.11.10.
Eine Waldlandschaft, verschneit, ein winterlicher See. Am Ufer gehen lang Reid, Rudolf Balcke, und ich. Plötzlich habe ich ein eigentümliches Gefühl. Ich sehe empor. Und sehe einen Luftballon in rasender Fahrt über die Baumkronen streifen. Über der Gondel, in den Stricken hängt ein Mann, braune Jacke, kein Kragen, kein Hut. Schwarze struppige Haare, schwarzer Vollbart, das große Auge eines Wahnsinnigen. Er ist ungefähr doppelt so groß wie der Ballon u. führt furchtbare Sprünge u. Tänze an den Seilen aus.
 
Plötzlich landet der Ballon. Der Kerl springt heraus u. rast wie ein Wahnsinniger am See entlang. Er scheint irgendwelche Leute tot zu schlagen, denn ich höre ein Geschrei. Reid, der ganz vorn ist, beginnt zu laufen, Rudolf hinter ihm her. Ich nehme eine Stange auf, und renne den beiden nach. Als ich sie einhole, verändert sich die Landschaft. Sommer, blühende Sträucher. Ein Knabe steht aus dem Grase auf, u. zeigt uns die Schwielen, die er von dem Irren bekam. Wir sehen links in der Ferne eine breite Dorfstraße u. sehen den Irren noch mit wahnsinnigem Lauf zwischen den ersten Häusern hinrennen.
 
Dieser Traum hat mich irgendwie furchtbar erschreckt.
 
 
10.11.1911
Traum vor 2 Nächten: Ich bin in unserem Eßzimmer. Ein großer Tausendfuß kommt herein, er verfolgt mich und ist immer hinter mir her. Ich laufe in meine Stube, und suche die Tür zuzuklemmen. Aber da steckt er schon den Kopf herein. Und ich wache auf.
 
 
14.12.11.
Traum: geflügelter Stier. – Adler.
 
Einige Halswirbel entzwei. Viele Stiere – Der Adler schlägt sie alle. Die Stiere fliegen über das Wasser. Aber der Adler ist über ihnen. Die Stiere wollen den Adler einladen, und die eine Stierfrau – wie eine Pastorin – und ein Stierherr wollen ihn in die Mitte nehmen. Aber der Stierherr fängt es dumm an. Der Adler entweicht u. steigt in die Höhe. Die Stierfrau mit der goldenen Brille lacht.
 





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