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04.3
Geschichten
Oskar Loerke
Von der modernen Lyrik
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Von der
modernen Lyrik
Die
Lyriker
des Neuen haben gemeinsam etwas künstlerisch Gewalttätiges, denn das
Wachstum
aller Felder, welche die Zeit besät und beackert, ist so erdrückend,
veränderungs- und überraschungsvoll, daß es Kühnheit kostet, mit der
Kunst
nachzukommen. Keine Zeit hat das Aussehen der Welt und das Aussehen des
Lebens
so jäh bereichert wie unsere. Für jeden, der es betrachten will, ist es
da, für
den Dichter am meisten. Immer war erst dann etwas wirklich, sobald es
in den
Dichtern war. Immer waren erst wirklich Dichter, wenn sie etwas Neues
auszusprechen hatten. Wohl konnten sie es niemals anderswo als in sich
finden,
doch sie sprachen es im Gleichnis der ganzen erneuten Welt. Heute ist
diese
Erleichterung zur äußeren Erschwerung geworden.
Darum
wollen
wir zunächst alle Lyriker preisen, die das Moderne sich überhaupt
angehen
lassen. Wir wollen die Großstädte, die Weltstädte dichten, die beinahe
so jung
wie wir sind. Wir wollen die Sinfonien des Stahls, des Eisens und aller
schnellen Kräfte hören, die fast noch jünger sind als wir. Wir wollen
das
moderne Tempo wiederschaffen, weil es uns schafft. Wir wollen unsere
feinen,
kranken Nerven singen, sie werden davon gesund werden. Hinausgetrieben
werde,
wer die Mühe um all das bekämpft, totgeschlagen werde er, wenn er ein
Künstler
ist.
Dennoch!
Wenn
wir beim Lesen unserer jüngsten Gedichte uns über das durch seine bloße
Nennung
Erregende hinaus Rechenschaft geben, so stellen wir oft die
grundsätzliche
Frage: Was ist ein Gedicht? Nicht, weil das zufällig Gelesene schwach
wäre; wir
wissen, in jeder großen, geistigen Bewegung ist der Wille öfter
vorhanden als
die Kraft. Im Gegenteil, gerade vor den starken Erzeugnissen regt sich
jene
Frage. Wir mögen eben nicht vergessen, daß unser Volk eine große
lyrische Kunst
besitzt. Wir mögen auch nicht unsere Erfahrung vergessen, daß in jeder
Zeit
zwei Arten von <Dilettantismus> nebeneinander hergehen, ein
heruntergekommener, altmodischer und ein angesehener moderner, und wir
geben
zu, daß der zweite Lob verdient, damit der erste daraus werde. Wir
wollen die
notwendigen Irrtümer begehen, zugleich aber eingestehen, daß es
Irrtümer sind.
Noch
konnten
wir die Bestandteile unserer neuen Welt nicht zum Weltgebäude fügen.
Uns waren
nur zwei Arme gewachsen. Es hätten zweihundert sein müssen, und darum
haben wir
rasch alles zusammengehäuft und den Haufen als die neue Welt
bezeichnet. Wirft
jemand Backsteine, Kalk, Bretter, Glas, Nägel übereinander und sagt
davon: es
ist mein Haus? Kann man also dieses Verfahren etwa auf eine große Stadt
ausdehnen und das, was daraus wird, anreden: O du mein Berlin? Wir sind
zu
stolz auf unseren Besitz, doch wenn wir ihn Stück für Stück in Rhythmen
und
Reime tun, so haben wir ihn schon ausgegeben, bevor wir ihn besaßen.
Wir gehen
zuviel an die Dinge heran, anstatt sie uns angehen zu lassen. Immerhin,
sie
werden ihr Schicksal fühlen, daß sie uns verfallen sind und werden uns
morgen
nicht mehr widerstehen. Wenn auf dem Umweg vorläufig wenigstens nur so
viel
herauskäme wie jener Ausruf an die Weltstadt! Das wäre schon ein
Gedicht, wenn
auch ein bescheidenes. – Soweit sind wir leider noch nicht. Wir leben
auf
Vorschuß. An den Gedichten fehlt noch das Gedicht.
Wir
suchen die
Leere zu erfüllen – und irren wieder. Uralte, an sich wahre Gefühle und
Erlebnisse mögen sich nicht mehr in den Begriffen aussprechen, die
ihnen früher
zum künstlerischen Leben verhalfen. Sie suchen sich zu verjüngen,
vermögen es
aber erst teilweise. Daraus entstehen Widersprüche, und die Wahrheit
der
Empfindung wird auf halbem Wege zur Unwahrheit. Wenn man in einer Ode
auf eine
Postkutsche statt Postkutsche immer Aeroplan einsetzt und statt trabte
flog
sagt, so wird das Endergebnis doch wieder eine Postkutschenode sein.
Umgekehrt
gelingt bei manchem modernen Hymnus auf das Automobilfahren die
Umwandlung nach
rückwärts, indem man nur aus Motor Pferd und aus Hupe Posthorn macht.
Wir
wollen den Mut haben, einzugestehen: auch an diesen Versen fehlt das
Gedicht.
Auch an diesen hat das Moderne es zerstört.
So
sucht man
denn die Wandlung zum Guten organisch von innen zu schaffen. Dieser
Pfad ist
theoretisch derselbe wie die anderen. Nur wird er vom anderen Ende
angetreten;
das Ziel liegt in der Mitte. Der Rhythmus ist so ewig und so
vergänglich wie
der Mensch. Er ist da. Er ist nicht zu erfinden, sondern nur zu finden.
Darum
gibt es keinen modernen Rhythmus, wenn man ihn von 1900 an rechnet,
aber es
gibt einen modernen Rhythmus, wenn man den Beginn seiner Epoche vom
Jahr 1 der
Erde datiert. Das Wesen der Menschen hat sich in ein paar Jahrzehnten
nicht so
sehr verändert, wie wir gern behaupten. Darum wollen wir unserm
Wörterbuch die
neuen Vokabeln einreihen, anstatt alle alten Blätter auszureißen; es
wird
manche darin geben, die wir selten aufschlagen, andere sind ersetzt,
die
meisten bleiben unentbehrlich. Ist das Dichterwörterbuch fertig, so
sprechen
wir: Es gibt jetzt keinen unpoetischen Gegenstand. Es gibt aber auch
keinen
poetischen. Und nun mache sich der Dichter an eine Blinddarmoperation.
Seine
große oder kleine Kunst wird sie poetisch oder unpoetisch zeigen. –
Stellen wir
zum Wörterbuch das Musterbuch! Gegrüßt sei, wer die alten Formen
zerbricht und
neue bringt. Nie aber ist auch hier das Neue das Einzige, höchstens, wo
es
alles Alte groß in sich aufgehen ließe. Ist das vorstellbar? Etwa die
doch
immer neuen freien Rhythmen sind oft, wenn man sie prosaisch einrückt,
weder
Rhythmen noch frei. – Fügen wir endlich zum Wörter- und Musterbuch
ebenso
vollständig und nicht in einem Auszug das Lebensbuch! Vielleicht wird
da ein
guter Stadtdichter auch mitunter ein guter Landdichter sein? Vielleicht
wird
jemand, der seinen Gefühlen für einen Mühlenbach lyrisch Luft macht,
wenn er
sie noch hat, frei und unverwirrt genug sein, um auch ein reines,
unstaffiertes
Luftschiffgedicht zu schaffen. Eine freche Erotik sei so frech wie
irgendmöglich, nur nicht gegen eine andere Erotik, sonst könnte diese
einmal in
sie schlüpfen und sie zum unvermögenden Zwitter machen. Diejenigen,
denen die
feinsten, unentschiedensten, hellhörigsten, jüngsten Stimmungen das
Hirn
bewegen, machen aus sich selbst kranke und unerfreuliche Erscheinungen,
sobald
sie das Starke und Strömende leugnen. Höchste Klarheit vor der modernen
Wirrnis
ist wünschenswert: deshalb ist es dumm, eine Lebensmystik zu bekämpfen,
die,
das Gegenteil von Verworrenheit, die unmittelbarste, ungetrübteste und
untrüglichste, freilich seltenste Form ist, das Leben zu fassen. Sie
ist auch
ewig und auch modern.
Das Radikalste
und das Konservativste bilden in der Kunst keinen Gegensatz, ja, wenn
man Lust
hat, ein Paradox gelten zu lassen, so sind sie dasselbe.
Erstdruck und Druckvorlage
Zeit im Bild. Moderne illustrierte
Wochenschrift.
Jg. 10, 1912, Nr. 27, 27. Juni,
S. 691. [PDF]
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