Geschichten
Aus dem Märchenbuch
der Wahrheit
Fritz
Mauthner
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Der
Kurrendejunge
Ende
Februar war’s, aber noch strenger Winter. Eisig wehte der Wind von
Nordost und jagte ein hartes Schneegestöber durch die Straßen. Da und
dort häufte er Berge von Schnee. Die Sonne war dem Untergange nahe und
immer kälter blies der Wind.
Der
Lehrer mit zehn Kurrendejungen hatte sein Stadtviertel abgesungen. Der
Erlös war gut. Bei solchem Wetter jagt man keinen Hund hinaus, sagten
die Bürger und warfen ihre Groschen in die Höfe hinunter. Der Lehrer
wollte das günstige Wetter benützen und noch eine Stunde im Vorort
singen. Da wohnten reiche Leute. Einmal hatte er dort ein Goldstück
bekommen.
Bei
den letzten Häusern der Stadt kehrte man rasch in einer Schenke ein.
Der Lehrer ließ Grog geben. Von jedem Glase durften zwei Jungen einen
Schluck nehmen, den Rest von allen Gläsern trank der Lehrer.
Nur
der kleine Gottlieb bekam nichts. Es war das achtjährige Söhnchen
einer Näherin und fromm erzogen.
„Ich
werde dich lehren, uns zu verpetzen, du Lausejunge. totschlagen tue ich
dich, wenn du noch einmal was weiter zu tratschen hast.“
Sie
setzten sich in Marsch. Fast eine halbe Stunde hatten sie bis zum
Vorort über freies Feld zu gehen. Der eisige Wind fegte noch heftiger.
Der kleine Gottlieb konnte kaum mitkommen. Die anderen waren guter
Dinge, und einer von den älteren Knaben pfiff einen Gassenhauer. Der
Lehrer verwies es ihm. Man könnte Leute treffen. Und durch einen
Schneehaufen stapfend gab er die Melodie an: „Ein Lämmlein geht und
trägt die Schuld.“
Gottlieb
konnte nicht mehr Schritt halten, er blieb zurück. Da stolperte der
Lehrer bis zu ihm heran, gab ihm einen Stoß vor die Brust und schrie:
„Wir
brauchen dich gar nicht, du Aufpasser! Du glaubst, weil du eine helle
Stimme hast! Machen wir allein. Wir brauchen dich nicht. Und du
brauchst uns nicht. Hier bleibst du, wenn du Lust hast! Petzer! Kannst
hier aufpassen und für dich allein singen!“
Und
fort stapfte der Lehrer mit den übrigen Jungen. Gottlieb nahm seine
letzten Kräfte zusammen, um zu folgen. Die Tränen liefen ihm über die
Wangen hinunter, und da und dort im Gesicht stach es ihn wie Eisnadeln.
Weiter
und weiter blieb er zurück, dann lief er ein Stückchen, ging wieder
langsamer, stieß irgendwo an und lag in einem Schneehaufen. Eisig jagte
der Wind über ihn hin.
Die
Füße schmerzten und der Kopf, und er hatte unsägliche Angst. Aus Angst
fing er zu singen an:
„Ein
Lämmlein geht und trägt die Schuld
Der
Welt und ihrer Kinder,
Es
geht und büßet in Geduld
Die
Sünden aller Sünder.
Es
geht dahin, wird matt und krank,
Ergibt
sich auf die Würgebank,
Entzieht
sich allen Freuden.“
Das
half. Die Schmerzen ließen nach. Eine warme Decke legte sich wie von
der Mutterhand geschoben, ganz sacht über Gottliebs Füße. Er hörte auf
zu weinen und schlief ein bißchen ein. Dann wachte er wieder auf , und
ihm war ganz wohl. Er öffnete die Augen nicht, es war ihm, als ob es
warmen Schnee schneite. Von der Ferne her vernahm er Hundegebell und
dazwischen den Choral seiner Genossen. Lächelnd wartete Gottlieb den
Vers ab bis „Entzieht sich allen Freuden“. Dann sang er mit seiner
hellen Stimme mit:
„Es
nimmt auf sich Schmach, Hohn und Spott,
Angst,
Wunden, Striemen, Kreuz und Tod,
Und
spricht: ich will’s gern leiden.“
Darauf
schlief Gottlieb ganz fest ein.
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