Geschichten
Aus dem Märchenbuch
der Wahrheit
Fritz
Mauthner
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Scherbenfrühling
In
der Schule hat Jette es gelernt, daß der Frühling begonnen habe. Und es
ist wirklich Frühling geworden. Mutter klagt weniger, Vater flucht
weniger, Jette friert nicht mehr. Aber sie hat in der Schule auch
gelernt, daß der Frühling tausend Freuden bringe. Jette soll ihren
ersten deutschen Aufsatz machen über die Freuden des Frühlings. Jette
möchte darum den Frühling auch sehen.
Eine
Mitschülerin hat ihr drei Bohnen geschenkt. Auf dem Hofe, auf welchem
sie nicht spielen darf, hat sie die Hälfte eines zerbrochenen
Blumentopfes aufgelesen. In der großen Straße, wo Vater auf dem Bau
ist, hat sie dem Portier eine Tüte voll Erde aus dem Vorgärtchen
gestohlen. Sie hat die Bohnen eingesetzt und wartet auf den Frühling.
Seit vierzehn Tagen begießt sie täglich fünfmal ihren Scherben und
wartet. Sie friert nicht mehr, aber für die Bohnen ist es wohl noch zu
kalt.
Wenn
sie ihre fünf Treppen hoch am Fenster steht und auf den Frühling
wartet, dann sieht sie ein großes Stückchen Himmel, aber niemals die
Sonne; die scheint nicht vom Norden, das hat Jette wieder in der Schule
gelernt. Wie ein Schlot gehen die Hofwände herab bis zum Pflaster. Die
Kinder fallen nicht hinunter, wenn sie vorsichtig sind. Sie sieht vom
Fenster auf siebenzehn Schornsteine, zwei Wäscheböden, und gerade
gegenüber wohnen hinter zwei Fenstern mit roten Vorhängen zwei Mädchen,
wo immer was los ist. Bald wird da gelacht, bald geschimpft.
Jette
kommt wieder aus der Schule nach Hause. Sie geht ans Fenster und
schreit auf. An drei Stellen kommt ein weißgrüner, gebogener Stengel
aus der Erde. Sie kann vor Freude ihre Salzkartoffeln nicht essen, sie
kann vor Freude nicht schlafen. Am nächsten Morgen sind die Keimblätter
noch immer nicht aus der Erde heraus. Anstatt den Bibelvers zu lernen,
den sie auf hat, zupft und zupft sie an dem kleinsten Stengel. Endlich
bricht er ab und Jette läuft heulend zur Schule.
Am
nächsten Tage macht sie's gescheiter. Vorsichtig tut sie mit der
Haarnadel die Erde beiseite vom zweiten Stengel, bis die Keimblätter
frei sind. Dann zieht sie behutsam, leise die Bohne mit den kleinen
Würzelein aus der Erde, betrachtet das Wunder und gräbt es wieder ein.
Am Abend ist der zweite Stengel verwelkt.
Nun
aber wird die dritte Bohne gehegt und gepflegt. Kein Finger darf sie
berühren. Nur anhauchen muß sie Jette, und oft und lange mit der hohlen
Hand bedecken, damit sie schneller kommt.
Die
Bohne kommt und entfaltet schöne, große, grüne Blätter.
Mutter
ist nun zwar in der Charité und Vater ist exmittiert. Was tut das? Auf
einem Karren schleppt Vater sein bißchen Kram drei Straßen weiter. Auf
dem Karren sitzt Jette, ihren Scherben in der Hand und ihren Frühling.
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Der
Diamant im Mörtel
Einmal,
ganz zu Anfang der Weltgeschichte, wurde für einen der alten Götzen ein
steinernes Haus gebaut, eins von den Häusern, welche bestimmt waren,
durch Jahrtausende zu stehen. Sklaven türmten Quadern auf Quadern und
legten Mörtelschichten dazwischen.
Das
Haus war bestimmt, in seinem innersten Heiligtum die größte Kostbarkeit
zu bergen, die der Götze besaß, einen Diamanten. Als das Haus der
Vollendung nahe war, tat's ein boshafter junger Sklave: er stahl den
Edelstein des Götzen, warf ihn in den Mörtel und rührte ihn ein mit
Finger und Spatel. Und mit diesem Mörtel wurden die Wände des innersten
Heiligtums gemauert.
Der
Götze barg ruhig lächelnd einen falschen Diamanten im Tempel und sagte
seinen Priestern gar nicht, daß der echte im Mörtel stecke.
Eine
Kreuzspinne zieht ihre Fäden von Wand zu Wand des innersten Heiligtums.
Und es ist geweissagt: Wenn die Kreuzspinne mit ihren Fäden die
Quadermauern des Tempels zusammenreißen wird, dann wird auch der
Diamant im Mörtel zum Vorschein kommen.
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