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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






Jugend
undatiert

 
Ich liebte es, mich unsichtbar zu machen. Ich träumte mir eine Tarnkappe. Ich war kein schwächlicher Knabe, der den Kampf unter allen Umständen zu fürchten hatte. Dennoch schien mir ein Kampf, in dem ich dem Gegner unsichtbar bliebe, als der einzig mögliche.
 
Ich war eine sogenannte hinterlistige Natur. Ich verachtete meine Altersgenossen, die ihre gleichen oder ungleichen Kräfte maßen. Ich hielt es für ehrenhaft, Feinde hinterrücks zu erledigen, und den Meuchelmord, wenn er gerechten Ursachen entsprang, hielt ich nicht für eine schändliche Tat.
 
Ich konnte mich davon überzeugen, daß ich unsichtbar sei, und gleichzeitig wissen, daß mich alle sehen müssen. Ich versteckte mich gern. Im Versteckspiel war ich ein Meister, und niemand konnte mich finden.
 
Ich verachtete immer die Helden ein wenig, von denen ich in den Sagen und Märchen las. Dennoch imponierten sie mir, nicht kraft ihrer Taten, sondern wegen der Stellung, die sie einnahmen, der großartigen Rolle, die sie spielen durften. Ich verglich mich gerne mit ihnen.  Denn ich war auch ehrgeizig, gewiß. Ich war entschlossen, den Durchschnitt der Menschen zu überragen, mit welchen Mitteln - wußte ich nicht. Ich war entschlossen, mich durch nichts hindern zu lassen.
 
Von der Armut, die meine Jugend umgab, fühlte ich wenig. Ich betrachtete sie als eines der vielen Hindernisse, die das Schicksal den Menschen in den Weg stellt. Sie war, nach berühmten Mustern, zu überwinden. Ich beneidete andere, satte und gutgekleidete Knaben nicht. Seit jeher wußte ich, daß ein Mitleid mit mir selbst ebenso verwerflich ist wie Mitleid mit andern. Freudig und mit einer Art Wollust bekannte ich mich zur Armut, ich schloß mich in sie ein und schied mich dadurch von den Altersgenossen.
 
Es war mir immer daran gelegen, mit allen gut zu leben. Denn ich erkannte früh, daß üble Gesinnung und Feindschaft von Schaden sein können, besonders die Feindschaft der Minderwertigen. Es hätte mir nicht an Mut gefehlt, einer Welt von Feinden die Stirn zu bieten. Aber der Friede war mir lieber als der Kampf, weil dieser mich verraten hätte und ich im Verborgenen leben wollte. Ebenso mangelte es mir nicht an Empörung gegen Lehrer und Vorgesetzte. Ich aber zeigte sie nicht. Ich war ein ausgezeichneter Schüler, nicht durch Fleiß, sondern durch Überlegenheit. Es wäre mir unwürdig erschienen, vom Lehrer bei einer verbotenen Lektüre, beim Zigarettenrauchen oder beim Abschreiben einer Schularbeit erwischt zu werden, zu stottern oder mir einsagen zu lassen. Ich fügte mich den unüberwindlichen Mächten, und weil sie mir nichts anhaben konnten, fühlte ich mich frei. Indessen die Rebellen, die Tollkühnen und die Aufrichtigen immer auf der Flucht vor den Lehrern waren, die Jägern glichen. Mich belustigte es, an dieser Jagd nicht teilzunehmen, sondern sie zu betrachten.
 
Es erschien mir unwürdig, bei einer Lüge ertappt zu werden, aber nicht unwürdig zu lügen. Unehrliche Vorteile, die nicht an den Tag kommen konnten, wußte ich auszunützen. Ich erkannte bald, daß mich die Menschen infolgedessen für ehrlich, aber schlau hielten und daß sie vor mir Angst hatten, aber mir keine Unredlichkeit zutrauten.
 
Sie faßten Zutrauen zu mir, trotz ihrer Furcht. Sie fragten mich um Rat, ich gewährte ihnen Hilfe. Sie wurden mir treu, sie blieben mir gleichgültig. Ich bezahlte ihnen ihre Treue und blieb ihnen nichts mehr schuldig. Sie beneideten mich, ich ließ mich beneiden. Ich hatte Erfolge, und es freute mich, die Konsequenzen der Erfolge, nicht sie selbst, auszunützen.
 
Bald sah ich, daß ich in Gefahr war, mich in mich selbst zu verlieben. Ich begann achtzugeben. Ich wollte vor mir selbst ebenso sicher sein, wie ich es vor den andern war. Dabei kam mir meine im landläufigen Sinn sehr tadelhafte und unmoralische Natur zu Hilfe. Ich durfte jeden Tag neue Fehler an mir entdecken, denn ich war damals noch überzeugt, daß Egoismus, Schlechtigkeit, Hochmut, Tücke und Feigheit absolute Fehler sind. Ich brachte es fertig, mir zu gefallen und mich für verworfen zu halten. Ich wollte nicht edel sein. Es genügte mir, erkannt zu haben, daß ich nicht edel sei. Diese Erkenntnis schützte mich ebenso vor mir selbst, wie meine Laster mich vor den andern schützten.
 
Ich glaubte an die Existenz und an die fruchtbare Kraft der Tugenden, ich wußte nur, daß sie für mich nichts getaugt hätten. Ich glaubte an die edle Gesinnung großer Männer und an die Fruchtlosigkeit gemeiner Bestrebungen. Ich glaubte an positive Kräfte und haßte die negativen. Ich haßte den Teufel. Aber an Gott glaubte ich nur schüchtern, und während ich genau wußte, daß er nicht existiere, betete ich dennoch zu ihm.
 
Zwei Jahre lang, von meinem vierzehnten bis zum sechzehnten Lebensjahr, war ich ein Atheist. Ich sah zum Himmel empor und wußte, daß er aus blauer Luft bestand. Ich hatte aber gar nicht bemerkt, daß Gott nicht verschwunden, sondern gleichsam nur übergesiedelt war, aus dem Himmel irgendwohin anders, ich wußte nicht, wohin, wahrscheinlich aber in meine Nähe. Daß niemand die Welt regierte, war mir offenbar, daß aber jemand meine eigenen Wege überwachte, fühlte ich. Ich betete oft, und meine Gebete waren sehr kurz. Sie bestanden in einem Gedanken, ja nur in einem Einfall. Der, zu dem ich betete, half immer, er strafte niemals. Ja, ich schämte mich nicht, ihn um seine Unterstützung bei meinen unedlen, beinahe verbrecherischen, auf jeden Fall aber sündhaften Unternehmungen zu bitten. Er half auch da. Ich hätte ihn immer verleugnet. Aber desto eifriger glaubte ich ihm. Er war da wie eine Wirklichkeit.
 
Erst zwei Jahre später wuchs der Gott, den ich nur für mich in Anspruch genommen hatte, zum Weltengott und Herrn des Alls. Daß er mir gut gesinnt war, gleichsam aus alter Kameradschaft, wußte ich. Ich fürchtete ihn nicht. Ich vertraute ihm. Und wenn mir Schlimmes widerfuhr, war mir's keine Strafe, sondern eine mir noch verborgene, maskierte Gnade.
 
Ich hatte nichts mehr zu fürchten. Mit Gott lebte ich gut, mich selbst kannte ich, die Menschen hatte ich in der Gewalt. Gespenster, Tote und Geister wußte ich zu versöhnen. Erschienen sie mir im Traum, so erschrak ich nicht, sondern unterhielt mich mit ihnen sachlich und höflich. Ich lief nicht vor ihnen davon, sie mußten also einsehn, daß bei mir nicht viel zu holen war.
 
Nur Tod und Krankheiten fürchtete ich. An das Weiterleben in einer andern Form glaubte ich, aber es war mir unangenehm, plötzlich und unvorbereitet in eine unbekannte, niemals vorher zu erforschende Umgebung zu gelangen. Ich mied den Tod, ich mied Begräbnisse, Friedhöfe und den Anblick von Leichen. Einmal kam ich zufällig zu einem Begräbnis - und war wochenlang erschüttert. Ich fühlte mich selbst dem Tod nahe und machte mich bereit zu sterben.
 
Als ich aber sah, daß mein Leben dennoch stärker war, hörte ich auf, die Ansteckungsgefahr des Todes zu fürchten. Ich ging auf einen alten Friedhof und blieb dort lange Stunden. Ich befreundete mich mit einem Friedhofswächter, der mir gruselige Geschichten erzählte, an die ich nicht glaubte. Er sprach von übernatürlichen Erscheinungen und von der wachen Kraft der Toten, die vor dem Begräbnis in der Totenkammer lagen. Einmal blieb ich eine Nacht lang bei den Toten.
Sie rührten sich nicht. Ich glaubte dennoch nicht an ihren endgültigen Tod. Aber es schien mir klar zu sein, daß ihnen oder uns die Fähigkeit der Verständigung fehlte.
 
Ich gewöhnte mich an den Anblick der Leichen, an die Raserei der Hinterbliebenen, an traurige Gesänge, an Schauderhaftes, Geheimnisvolles und sogar Häßliches. Ich sah einmal, wie ein Telegraphenmast einen Arbeiter fällte. Er fiel ohne Laut zu Boden. Ich sah seinen zerschmetterten Schädel, schmeckte mit den Augen das schnell gerinnende Blut, hörte das Jammern seiner Frau und seiner zwei Töchter und war nicht erschüttert. Von nun aber ließ mich fremdes Leid unbeteiligt. Einmal verbrühte sich meine Mutter die Hand. Sie litt schrecklich. Sie stöhnte. Ich blieb ruhig. Einmal scheuten die Pferde eines Wagens, der Kutscher wurde eine lange Strecke mitgeschleift. Ich blickte kühl auf diesen Vorgang, der alle Menschen in Aufregung versetzte. Nichts brachte mich aus der Fassung. Ich wäre niemals imstande gewesen, einen Menschen unter eigener Lebensgefahr zu retten. Ich möchte keinem Ertrinkenden nachspringen, ich habe nicht schwimmen gelernt, ich will nicht schwimmen. Ich verachte die vergeblichen Versuche der Menschen, es den Fischen gleichzutun, und ich glaube an vollkommene Apparate, die es uns möglich machen werden, auf dem Wasser spazierenzugehn. Solange diese zuverlässigen Erfindungen fehlen, mögen sie ertrinken, die Selbstmörder! Ich zweifle daran, ob die Welt etwas an ihnen gewinnt. Aber um mich wäre es schade.
 
Ich verlasse mich nicht auf den Körper, ich verlasse mich nur auf den siegreichen menschlichen Geist. Einer Pistole traue ich mehr als einem Boxer, und ich freue mich, daß die stärksten Muskeln einer Kugel nicht standhalten. Ich freue mich über die Nutzlosigkeit der Panzer und der Schwerter, und die männliche Tapferkeit scheint mir eine aussichtslose Sache.
 
Allerdings wußte ich schon früh, daß den Frauen Heldentaten imponieren, und ich verachtete die Frauen deswegen. Allein, sie schienen mir unentbehrlich, sie reizten mich, und ich genoß ihre Nacktheit, wenn sie angezogen waren. Ich wollte sie verführen, besitzen und verlassen.
 
Ich schwärmte niemals für eine, ich war nicht verliebt. Das ganze weibliche Geschlecht empfand ich als ein Individuum. Einmal sah ich eine junge Dienerin in einer Badeanstalt. Ich saß im Warteraum, wartete auf eine freie Zelle, sie sprach mit zwei alten Frauen und streckte beide Arme in die Höhe, ohne Grund, ohne Zweck. Ihre Brüste strafften sich, ihre Bluse ließ ein Stück weißer Unterkleidung frei, ihre Füße schlüpften halb aus den Pantoffeln. Sie erschien mir sehr begehrenswert, mir schwindelte fast. Sie sah mich an, sie winkte mir, aber ich floh.
 
In der Nacht hatte ich Furcht, mich zu entkleiden. Ich fürchtete meine eigene Nacktheit, die einsame, nur männliche, und wünschte mir von Herzen, Mann und Weib in einem zu sein, Genießer und Genossener, Liebender und Empfangender, ich kam mir unvollkommen vor, brachte mich in Erregung, verwirklichte mir das Mädchen, zauberte sie ins Bett, genoß sie, verlor aber im Rausch nicht die Besinnung, sondern wußte jeden Augenblick, daß sie nicht da war und fern von mir mit einem andern schlief.
 
Schließlich stand ich auf, ging hinaus, da stand meine fünfzehnjährige Nachbarin am Fenster. Sie erwartete ihre Eltern, die auf ein Hochzeitsfest entfernt wohnender Verwandten gegangen waren. Ich stieg zu ihr ins Zimmer, löschte die Lampe aus, und wir schliefen zwei Stunden nebeneinander. Als ich fortging, weinte sie, aber sie rührte sich nicht. „Du wirst mich heiraten!“ sagte sie glücklich und weinend. „Vielleicht!“ antwortete ich.
 
Um diese Zeit begann ich, Dichter zu lieben, Dramen und Gedichte. Ich behielt alles im Gedächtnis, ohne eigentlich auswendig zu lernen. Ich schätzte ihre Schönheiten, die Sprache, das Bild und den Klang und ließ mich verführen, auch den Inhalt zu lieben, mehr, als mir zustand. Um die Schönheiten der Dichtungen genauer zu genießen und durchaus zu verstehn, schien es mir nötig, mich zu verlieben. Ich suchte mir ein hübsches Mädchen, das viele meiner Altersgenossen anbeteten, und ging ihr auf der Straße nach. Ich dachte an sie, träumte von ihr, aber ich wußte bei alledem, daß ich nicht imstande gewesen wäre, ihr etwas zu opfern; daß ich im Regen vor ihrem Fenster ging, nur um zu sehen, wie es ist, wenn man leidet, aber nicht, um zu leiden. Ich konnte bald befriedigt feststellen, daß ich wußte, was die Liebe sei. Ich wandte mich hierauf anderen Angelegenheiten zu.
 
Ich wandte mich den Angelegenheiten zu, von denen die Gedichte und Dramen handeln, die sogenannten großen Gegenstände, die erhabenen Gedanken, die Ideen und deren moralische Ereignisse, die Ideale, die Natur, die Sittlichkeit, das Vaterland, die Freiheit, die Nation und die Sprache. Alle diese Begriffe bestanden für mich, wie nur reale Gegenstände bestehen können, ferne, aber doch mit Sinnen vernehmbar wie Glocken, an deren hoher, beinahe himmlischer Existenz man nicht zweifelt, weil man ihre Klänge hört. Damals wußte ich noch nichts von den Beziehungen des Klangs zum Instrument, das ihn gebärt, von der Spannung, die sich bildet zwischen dem Fluß der Zeit und der Stabilität der Dinge, und ich war ein kleiner egozentrischer Skeptiker, der das allgemein Gültige verehrte, ohne es anzuwenden.
 
Las ich ein Gedicht, so zweifelte ich nicht daran, daß es recht hatte. Besang einer eine Wiese, so war mir die Schönheit dieser Wiese so nahe wie dem Dichter. Ich hatte Respekt vor dem Gedruckten. Ich verehrte die Tradition. Ich liebte nichts Besonderes unter dem Allgemeinen. Ich zog nicht einen Dichter dem andern vor. Ich schätzte nicht die Gegenstände, die der eine behandelte, höher als die des andern. Alle schätzte ich gleichmäßig.
 
Ich schätzte den Faust und Wilhelm Tell. Shakespeare lernte ich auswendig und Hölderlin, und obwohl ich Widersprüche entdeckte, lag doch das Verschiedene, das die großen Männer trennt, unter einer einzigen einigenden Schicht von Erhabenheit, Anmut und Adel. Nie hätte ich so gehandelt wie ihre Helden. Aber ich glaubte doch, daß die Dichter und ihre Helden objektiv recht hatten. Ich wußte nicht, weshalb Nathan der Weise es nötig hatte, so edel zu sein. Ich empfand Mitleid im tragischen Sinn mit Shylock. Aber ich glaubte eben, ich selbst wäre eine Ausnahme, keine beneidenswerte, keine schätzbare, eher eine verworfene. Alles, was gepredigt, gesungen und geglaubt wurde, hatte recht und paßte für die Welt. Wenn einer seine Liebesschmerzen besang, so verstand ich zwar nicht, warum er so leide, aber ich glaubte, daß es normal sei, so zu leiden.
 
Sprichwörter, die zu meiner persönlichen, ganz eigenen Auffassung des Lebens nicht paßten, hielt ich dennoch für tiefsinnig, zumindest für die Ergebnisse weiser Erfahrungen und Bekenntnisse. Zitate, die im Laufe der Jahre geflügelt worden sind, hielt ich für den Ausdruck einer allgemein anerkannten, durch die Stimme des Volks und der Zeiten befestigten, begründeten Weisheit . . .
 
. . . Ich besuchte die Universität gleichgültig, enttäuscht, ohne Fleiß und nicht mit der Andacht, mit der ich manchmal als Gymnasiast an sie gedacht hatte. Ich studierte Germanistik und exakte Philosophie, das heißt, ich hörte die Vorträge einiger Professoren, die mich langweilten.
 
Im Gymnasium hatte ich mir nach den Beschreibungen vorgestellt, die Wissenschaft auf einer Hochschule wäre, eben weil sie ledig sei der kleinlichen Formen, die an den Mittelschulen angewendet würden, wirklich edel, frei und stolz. Nun sah ich, daß die Professoren sich keine Mühe gaben, daß sie nur eine halbe Stunde lasen, manchmal fortblieben und die Vorlesung ausfallen ließen und daß die meisten sich bei den Prüfungen dennoch das Recht anmaßten, streng zu sein, sehr kleinlich, noch kleinlicher als Mittelschullehrer, zu prüfen, sich von persönlichen Gefühlen, Sympathien und Abneigungen leiten zu lassen. Ich dachte an die Mittelschule mit einer gewissen Trauer zurück.
 
Ihre Lehrer erschienen mir besser, edler, vorurteilsfreier und ärmer. Manche Seminarstunden, in denen gotische Übungen und mittelhochdeutsche Grammatik vorgenommen wurden, waren genauso wie Unterrichtsstunden in der Mittelschule, nur daß man hier zur Aufmerksamkeit nicht gezwungen war und die Klasse verlassen durfte, wenn man nicht mehr sitzen wollte. Es gab Dummköpfe unter den Studenten, ehrgeizige und eingebildete . . .

 





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