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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929
Romane und Erzählungen





Die Flucht ohne Ende - Seite 9
Ein Bericht 1927

XXXI

 

So kam Tunda in das Haus des Herrn Cardillac.
 
Er hatte nie ein größeres Haus gesehen. Es erschien ihm noch geräumiger, als es war, weil er es nicht ganz kennenlernte, weil er immer wieder nur Teile, Bruchstücke des Hauses zu sehen bekam, er kannte dieses so wenig, wie man ein Lexikon kennt, aus dem man nur von Zeit zu Zeit einen bestimmten Band herausgreift, um ein bestimmtes Wort zu suchen. Am stärksten interessierte ihn Fräulein Pauline, mit der er Konversation zu führen hatte. Achtzehnjährig, braun, von dem Teint, den man vom Balkan her kennt - Herr Cardillac kam aus dem südlichen Rumänien -, dem Teint, der an die Farbe von Meteorsteinen erinnert und aus Eisen, Wind und Sonne zu bestehen scheint, mit abfallenden, schmalen, ärmlichen und mitleiderweckenden Schultern, mit weichen und sanften Hüften, denen einmal eine gefährliche, entstellende Breite drohte, erschien Pauline würdig eines besseren Vaters, als es der ihrige war, und eines reicheren, satteren Lebens, als sie führte. Es war eine der verhängnisvollen Neigungen Tundas, mit den hübschen Frauen Mitleid zu haben. Ihre Schönheit schien ihm nur der berechtigte Lohn für ihren Wert zu sein, er konnte sich nicht daran gewöhnen zu denken, daß die Schönheit eines weiblichen Körpers kein Überfluß, keine Gnade, kein Luxus ist, etwa wie das Genie eines männlichen Geistes, sondern das selbstverständliche Werkzeug ihrer Existenz wie ihre Gliedmaßen, ihr Kopf, ihre Augen. Ihre Schönheit ist das einfache, ja das primäre Abzeichen einer Frau, wie die Brust ein Organ ihrer Geschlechtlichkeit und ihrer Mütterlichkeit. Die meisten Frauen sind schön - ebenso wie die meisten Menschen keine Krüppel sind. Tunda aber verblüffte jede Schönheit in dem Maße, daß er eine Erklärung für sie in einem nicht genügend gewürdigten Verdienst ihrer Trägerin zu suchen geneigt war. Am Anfang seiner Liebe stand immer das Mitleid - neben dem Zwang, eine himmelschreiende Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen.
 
Zuerst also überschätzte er Pauline. Es bereitete ihm ein Vergnügen, zu sehen, wie sie ins Zimmer trat, in dem er sie erwartete, wie sie einen Augenblick lang einen Spalt der Tür offenließ, die in ihr Zimmer führte und das mit unbeschreiblichen, gestaltlosen, rein atmosphärischen Kostbarkeiten gefüllt zu sein schien. Es freute ihn zu sehen, wie sie mit graziöser Hilflosigkeit den Arm hinter den Rücken steckte, um die Tür, deren Klinke sich in der Höhe ihres Kopfes befand, zu schließen - sie tat es wie etwas Verborgenes, Gefährliches und nur ihnen beiden Bewußtes, so daß es jedesmal einen Augenblick aussah, als hätten sie hier eine verbotene  Zusammenkunft. Ihre dünnen Hände, die kaum etwas zu halten wagten, waren kühl, von einer zarten, nur zögernd verblassenden Röte, die ständig an die jüngst verflossenen Backfischjahre Paulines erinnerte. Sie gebrauchte diese Hände vorsichtig, als wären es geliehene, kostbare Gliedmaßen; ungefähr wie junge Vögel ihre Flügel, so empfand Pauline ihre Hände. Sie streckte den Arm zu weit aus, oder sie hielt den Ellenbogen zu ängstlich an die Brust gepreßt, sie hatte noch nicht Übung im Abschätzen der Distanzen. Es gefiel Tunda die Viertelbogenrundung am Profil des gesenkten Kinns und der weiße, weiche Flaum, der über dem ganzen braunroten Angesicht gebreitet war, eine Art silbernes Moos der Jugend und der Schönheit.
 
Dennoch wußte er immer, daß dieses Mädchen, so jung und klein es auch noch war, ebenso wie die Großen aus einer Welt kam, die er verachtete und die ihre Schönheit nicht verdiente. Von welchen Menschen kam sie, zu welchen Menschen fuhr sie? Ihre Tage und Nächte waren ausgefüllt mit den schmählichen und lächerlichen Gedanken, Reden, Erlebnissen und Bewegungen dieser Menschen. Sie fuhr mit ihnen spazieren, besuchte Bälle, Berge und Badeorte, verliebte sich in sie, spielte und tanzte mit ihnen, heiratete einen von ihnen und gebar Kinder, die ihnen allen glichen. Grund genug, sie zu verachten! Grund genug zu denken, daß die Natur, blind wie sie ist, auch die Frauen dieser widernatürlichen Kaste schön macht, wie sie ihre Männer gesund wachsen läßt. Ähnlich wie ein Mönch, der in die Gefahr gerät, an einer Frau Gefallen zu finden, dieser Gefahr entgeht dank der unnatürlichen, aber unfehlbaren Methode, die Frau von ihren Reizen zu subtrahieren, so begann Tunda, Pauline zu ihrer Welt zu addieren. Bald fand er in der Tiefe ihrer hurtigen, koketten und stets besonnten Augen, in der anatomisch nicht festzustellenden, medizinisch nicht benannten Tiefe eine stumpfe Wand, an der die Bilder der Welt traurig zerschellten.
 
Er fand in den glatten und gepflegten Zügen die kalte Dummheit, die so ähnlich ist der lieblichen Gutmütigkeit, der herzlichen Grazie, der ahnungslosen Lebensfreude, diese trostlose, entzückende, elegante Dummheit, die sich des Bettlers am Straßenrand erbarmt und mit jedem ihrer leichten Schritte tausend Leben zertritt.
 
Es war ein reiches Haus. Die jungen Leute, die dort verkehrten, kannten sich in den Tattersalls und auf den internationalen Sportplätzen ebensogut aus wie ihre Väter auf den Juwelenbörsen zwischen Bukarest und Amsterdam. Aber ebenso wie an leichter Farbenblindheit Kranke für einen Teil der Farbenskala keine Empfindung haben und Violett von Blau und Blau von Dunkelgrün schwer oder gar nicht unterscheiden können, so fehlte diesen jungen Leuten der Sinn für Schönheit, Häßlichkeit, Natürlichkeit, Unnatur, Annehmlichkeit und Ekel bestimmter Situationen und bestimmter »Zustände«. Ja, dergleichen hatten sie überhaupt nicht. Am meisten wunderte sich Tunda darüber, daß sie, die doch von der Natur begeistert und mit ihr verbündet zu sein vorgaben und es auch glaubten, von den wechselnden Launen der Natur gar nicht berührt wurden, daß sie an trüben und kühlen wie an warmen und heiteren Tagen die gleiche Physiognomie des Gemüts aufwiesen, daß sie in gewittriger Schwüle wie in frischer Nachregenzeit, am Mittag, bei Auf- und Untergang der Sonne sich immer in jener heiter-festlichen, hastigen und etwas verschwitzten Stimmung befanden, wie sie bei Tennisturnieren Teilnehmer und Ballaufklauber beherrscht. Im Smoking wie im Sporthemd waren sie die gleichen. Mit starken, weißen, breiten und wie eine Reklame für Kalodont wirkenden Zähnen, die sie entblößten, statt zu lächeln, mit breit wattierten Schultern und schmalen Taillen, mit großen, muskulösen und von jedem Tastgefühl gesäuberten Händen, mit bunten und dünnen Katzenschleifchen am Hals, mit sauber geschnittenem, gut gepflegtem Haar, das seine Farbe niemals zu verlieren versprach, massiert, geduscht und jeden Augenblick wie aus Seebädern gestiegen, kamen ihm die jungen Männer wie eine Art großstädtischer, gezähmter und auf dem Korso gehaltener Raubtiere entgegen, für deren Unterhalt der Magistrat zu sorgen hatte. Sie sprachen mit schallenden Stimmen, in den Mundhöhlen entstand schon das Echo. Höflichkeitsphrasen, wie sie in den billigsten Führern zu einem guten Benehmen stehen, sagten sie mit unerschütterlichem Ernst auf. Von allen Gebieten des menschlichen Lebens wußten sie zu sprechen, in dem Ton, in dem die mondänen Zeitschriften auf den letzten Seiten und im kleinsten Druck, nachdem die Moden der nächsten Saison absolviert sind, pflichtgemäß von Politik, Literatur und Finanzen berichten. Über Maschinen und Automobile unterhielten sich die jungen Leute in der Sprache der Inserate.

Überhaupt schienen sie ihren Stil aus den Anzeigenteilen der Zeitungen zu beziehen. Immer wußten sie Bescheid - und was sie von Dingen und Zuständen sagten, traf Dinge und Zustände ungefähr so, wie die Aufnahme eines fliegenden Photographen im Park die Physiognomie eines unruhigen Brautpaares.
 
Die weiblichen Mitglieder dieser Gesellschaft führten ein frohgelauntes Leben in dünnen, bunten, leichten und kostbaren Kleidchen. Sie gingen auf tadellos geformten Beinen, in Schuhen von überraschendem, ja manchmal exzentrischem Schnitt über das Pflaster, lenkten Automobile, galoppierten auf Pferden, kutschierten leichte Wägelchen, und Claude Anet war der Autor ihres Herzens. Sie tauchten niemals einzeln oder zu zweit auf, sie formierten sich, den Zugvögeln ähnlich, in Schwärmen, und sie waren alle gleich schön wie Vögel. Untereinander mochten sie sich wohl durch bestimmte Kleider und Schleifen, durch die Verschiedenheit einiger Haarfärbemittel und Lippenstifte unterscheiden. Dem Außenstehenden aber waren sie Kinder derselben Mutter, Schwestern von verblüffender Gleichheit. Daß sie verschiedene Namen trugen, war ein Irrtum der Behörden.
 
Übrigens hatten die meisten englische Vornamen. Man hatte sie – und das war vollkommen gerecht - nicht nach Heiligen genannt und nicht nach Großmüttern, sondern nach Heldinnen amerikanischer Filme oder englischer Salonlustspiele.  Nichts fehlte ihnen mehr zur Übernahme bestimmter Rollen. So wie sie ins Zimmer traten, eine Wolke von Duft und Schönheit vor sich her wehend und um sich verbreitend, konnten sie eine Bühne betreten oder sich in agierende Schatten auf einer Leinwand verwandeln. Es war selbstverständlich, daß sie, die so lebendig waren, nicht lebten. Tunda empfand sie nicht als Wirklichkeiten, ebenso wie man die Girls auf den Varietebühnen, weil sie so unwahrscheinlich gleichartig, schön und zahlreich sind, trotz ihrer körperlichen Lebhaftigkeit, ihrer fleischlichen Tugenden dennoch wie eine Art Wachtraum empfindet, eingeschaltet zwischen Amüsiernummern, Folgen einer hypnotischen Suggestion. Alle diese Mädchen erschienen Tunda wesenlos wie Photographien in Illustrierten Zeitungen. Es war, wenn sie ihm entgegenkamen, als hätte er sie aufgeblättert. In Wirklichkeit waren sie ja auch die anmutigen Objekte der illustrierten Zeitungen. Sie waren ja die größere Hälfte der mondänen Welt, im Winter (strahlend weiße Wolle an den Körpern) im blendenden Schnee von St. Moritz rodelnd, im Februar blumenbekränzt auf dem Faschingskorso in Nizza, im Sommer nackt an den Ufern der Meere, im Herbst heimkehrend und mit neuen Hüten die Wintersaison eröffnend.
 
Sie waren alle schön. Sie besaßen die Schönheit einer Gattung. Es schien, als hätte ihr Schöpfer eine große Quantität Schönheit an alle gleichmäßig verteilt, aber sie reichte nicht aus, um sie untereinander zu differenzieren.

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XXXII

Dachte Tunda an Irene, so erschien sie ihm ebensoweit von dieser sorglosen und anmutigen Welt entfernt wie er selbst. Man kann ein solches Verhältnis »romantisch« nennen. Es scheint mir, daß dies der einzige Begriff ist, der heute noch Berechtigung hat. Es scheint mir, daß zwischen der Qual, diese Wirklichkeit, diese unwahren Kategorien, seelenlosen Begriffe, ausgehöhlten Schemata zu ertragen, und der Lust, in einer Unwirklichkeit zu leben, die sich selbst bekennt, keine Wahl mehr sein kann. Zwischen einer Irene, die Golf spielt und Charleston tanzt, und einer, die nicht einmal polizeilich registriert ist, vor die Wahl gestellt, entschied sich Tunda für die zweite. Was aber gab ihm das Recht, eine Frau zu erwarten, die anders war als alle, die er sah? Als Frau G. zum Beispiel, die er doch einen Abend lang geliebt hatte, das ferne Abbild der fernen Irene. - Nur die Tatsache, daß er sie versäumt hatte; daß er auf dem Wege zu ihr, von einem fremden Schicksal wie von einem Wind ergriffen, in andere Gegenden getragen worden war, in andere Jahre, in eine andere Existenz.

 
Es war das letzte Mal, daß er zu Pauline kam. Ihre Koffer standen halbgefüllt und immer offen in ihrem Zimmer. Sie fuhr endlich nach Dresden. Tunda sprach mit ihrem Vater. Herr Cardillac saß auf einem Stuhl, der ihn nicht ganz fassen konnte, er ragte über den Sitz hinaus und über die Lehne, obwohl er nicht etwa allzuviel Fett oder Fleisch besaß, sondern eher muskulös als dick war, eher gedrungen als kolossal.

Er war klein, er stand auf kurzen Beinen sehr fest, unerschütterlich wie ein eiserner Gegenstand, sein Nacken war rot und hart, sein Hals kurz, seine Hände breit, aber seine Finger, als hätte er sie erst spät anfertigen lassen, von einer gewissen Grazie. Sie machten ihn beinahe sympathisch, wenn sie ungezogen auf dem Tische trommelten oder die Knöpfe der Weste abtasteten oder zwischen Hals und Kragen krochen, um den steifen Hemdsaum zu lockern. Ja, Tunda fand Herrn Cardillac sogar erträglich.

Die ältere Generation konnte er überhaupt besser leiden. Ein Sohn des Herrn Cardillac wäre ihm unerträglich gewesen. Der Vater aber hatte noch, wenn er sich für kurze Augenblicke vergaß und schwach wurde, die sympathische, biedere, eigentlich mitleidheischende Armut des arbeitenden Mannes, die einer Vorurteilslosigkeit gleich ist und der Güte nahekommt. Seine simple Ehrlichkeit lag begraben, aber fühlbar unter einer Schicht von anerzogenen Manieren, schwer erworbenen und schwer erhaltenen Hemmungen, unter mühsam aufgeschichteten Verteidigungsschanzen aus Stolz, Selbstbewußtsein und nachgeahmter Eitelkeit. Wenn man aber Herrn Cardillac ins Auge sah - er trug eine Brille, ohne weitsichtig zu sein und nur um sein nacktes Auge zu maskieren, über dem die Brauen ausgegangen waren -, wenn man gleichsam mit einem vertrauten Blick diese Brille abnahm und also Herrn Cardillac entkleidete, dann geschah es, daß er mit leiser Stimme von seiner harten Jugend zu sprechen begann und nur wenig log. In dem Augenblick aber, in dem die Rede auf das Allgemeine geriet, wurde Cardillac offiziell, und es war, als hätte er das Mandat, die Gesellschaft zu vertreten, deren Stütze er war und die ihm seine angenehme Lage ermöglichte.
 
Tunda unterhielt sich also mit Herrn Cardillac, er war sogar ein bißchen wehmütig, da er sein Haus verlassen sollte. Cardillac lud ihn ein, im Winter wiederzukommen. Es gebe kleinere und wohl auch größere, aber meist intime Gesellschaftsabende, bei denen junge Männer immer gerne gesehen würden. Sie schüttelten sich die Hände, Tunda nahm einen Scheck entgegen, verabschiedete sich von Fräulein Pauline und ging.
 
Vor dem Haustor stand ein Auto, der Motor sang noch, der Chauffeur machte die Tür auf, und eine Dame trat heraus. Sie war schlank, blond, grau gekleidet. Tunda sah mit einem Blick die schmalen Schuhe, graues, glattes Leder, die den Fuß sanft umspannten, sah den dünnen, gleichsam blühenden Strumpf, diese künstliche und doppelt erregende Haut des Beins, er umklammerte mit beiden Augen, wie mit zwei Händen, die schmalen, lockeren Hüften. Die Frau kam immer näher, und obwohl vom Rand des Bürgersteigs bis zur Schwelle des Hauses, auf der er stand, kaum drei Schritte zurückzulegen waren, schien es ihm, als dauerte ihr Weg eine halbe Ewigkeit, als ginge sie zu ihm, geradewegs zu ihm und nicht in das Haus und als hätte er schon seit Jahren auf diesem Fleck diese Frau erwartet.
 
Ja, sie kam heran, er sah in ihr schönes, stolzes, geliebtes Gesicht. Sie erwiderte seinen Blick. Sie sah ihn an, ein bißchen unwillig und ein bißchen geschmeichelt, wie Frauen im Vorübergehen den Spiegel eines Restaurants oder einer Treppe sehen, vergnügt festzustellen, wie schön sie sind, und die Billigkeit des Glases verachten, das dennoch nicht imstande ist, ihre Schönheit wiederzugeben. Irene sah Tunda und erkannte ihn nicht. Eine Wand stand in der Tiefe ihres Auges, eine Wand zwischen Netzhaut und Seele, eine Wand in ihren grauen, kühlen, unwilligen Augen.
 
Irene gehörte zur anderen Welt. Sie ging zu den Cardillacs. Sie fuhr mit Fräulein Pauline nach Dresden. Sie lebte gesund und glücklich, spielte Golf, badete an den sandigen Ufern der Meere, hatte einen reichen Mann, empfing und gab Gesellschaften, gehörte Wohltätigkeitsvereinen an  und hatte ein gutes Herz. Tunda aber erkannte sie nicht.

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XXXIII


Tunda bekam einen dicken Brief, endlich den ersten Brief von Baranowicz.
 
Er hatte einige Umwege gemacht, war von Berlin zu Georg gegangen, es war ein weit gewanderter Brief, drei Monate hatte er gebraucht. Es schien, daß er unterwegs zugenommen hatte.
 
Baranowicz dankte für das Geld, er war bereit, es zurückzuschicken und noch etwas dazu. Denn er hatte glänzende Geschäfte gemacht, einen Teil seines Grundstückes hatte ihm der Staat abgekauft, die Erde enthielt kostbare Minerale. Man sprach von Platin. Außerdem würde in einem halben Jahre eine neue wissenschaftliche Expedition abgehen, mit Baranowicz als Führer durch die Taiga. Hätte Tunda Lust, so könnte er mitkommen. Baranowicz hatte schon Vorschuß für allerhand Ausrüstungen bekommen.
 
Dann kam ein Abschnitt, der Tunda ein wenig überraschte. Er lautete:
 
»Fast hätte ich das Wichtigste vergessen: Vor zwei Monaten kam eine Frau bei mir an, es taute schon, und die Tage wurden länger, eine Frau wie ein Vogel. Sie stellte sich als meine Schwägerin vor, sie kam vom Kaukasus her, mit vielen Pelzen und Deiner Photographie als Beweis, drei Wochen hatte sie gebraucht. Ein Pelzhändler aus Omsk brachte sie, Du hättest ihr Geld geschickt, sagte sie. Und zu mir kam sie, weil ich ihr einziger Verwandter in der Welt wäre - und ihr Onkel, ein  Töpfer, sei gestorben.
 
Sie heißt Alja und ist den größten Teil des Tages stumm. Ich lasse sie wohnen, mache ihr ein Bett, und so lebt sie neben mir. Wir sprechen selten, und ich frage sie nicht, was sie ohne Dich machen wird. Sie spricht sehr schlecht Russisch, wenn sie überhaupt den Mund aufmacht. Wenn ich mich recht darauf verstehe, ist sie schön.
 
Ich kann ihr auch Geld geben, wenn Du willst, daß sie zu Dir kommt. Ich kann sie aber auch behalten. Mir ist es gleich! Schreibe mir, Irkutsk postlagernd. Jeden Monat holt Isaak Gorin, der Grammophonhändler, meine Post ab.
 
Ich hab‘ ihm auch ein Grammophon abgekauft, und die Frau, die Deine Frau zu sein angibt, hört gern zu. Manchmal weint sie auch. Vielleicht weint sie um Dich, denke ich so - und dann können mir auch die Tränen kommen.
 
Jekaterina Pawlowna wollte ich schon einmal zu mir holen, aber sie geht nicht. Sie hat Geld erspart. Sie will nicht unter Wölfen sterben, sagt sie, sondern in der Stadt, unter Menschen.«
 
Tunda konnte also zurückkehren - zu Baranowicz, von dem er fortgegangen war, Irene zu suchen.
 
Er konnte zurückkehren. Seine Frau erwartete ihn schon.
 
Er sah das Gehöft seines Bruders, die zwei Hunde, Barin und Jegor, den großen kupfernen Kessel, in dem das Fleisch kochte, die Felle der Elentiere auf dem tiefen Bett, er hörte den Schlag der Uhr und das leise Ächzen, das sie vor jedem Schlag ausstieß, und das harte Klopfen der Rabenschnäbel auf dem Fensterbrett.
 
Aber er hatte keine Sehnsucht nach der Taiga. Hier, so schien es ihm, war sein Platz und sein Untergang. Er lebte vom Geruch der Fäulnis, und er nährte sich von dem Moder, er atmete den Staub der zerfallenden Häuser und lauschte mit Entzücken dem Gesang der Holzwürmer.
 
Er behält die Photographie Irenes, wie er sie jahrelang getragen hat. Sie liegt auf seiner Brust. Er geht mit ihr durch die Straßen. Auf dem Platz vor der Madeleine bleibt er stehen und sieht in die Rue Royale.
 
Damals traf ich Tunda.

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XXXIV

Es war am 27. August 1926, um vier Uhr nachmittags, die Läden waren voll, in den Warenhäusern drängten sich die Frauen, in den Modesalons drehten sich die Mannequins, in den Konditoreien plauderten die Nichtstuer, in den Fabriken sausten die Räder, an den Ufern der Seine lausten sich die Bettler, im Bois de Boulogne küßten sich die Liebespaare, in den Gärten fuhren die Kinder Karussell. Es war um diese Stunde, da stand mein Freund Tunda, 32 Jahre alt, gesund und frisch, ein junger, starker Mann von allerhand Talenten, auf dem Platz vor der Madeleine, inmitten der Hauptstadt der Welt und wußte nicht, was er machen sollte. Er hatte keinen Beruf, keine Liebe, keine Lust, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz und nicht einmal Egoismus.

 
So überflüssig wie er war niemand in der Welt.

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