lifedays-seite

moment in time



Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






Kranke Menschheit 2
undatiert


In ärztlichen Zimmern ist immer irgend etwas Geheimnisvolles. Da ist ein Ruhebett, das nicht der Ruhe dient, da sind Glaskästen mit glitzernden Dingern, die dich irgendwie feindselig ansehen. Da ist einer, der sich anschickt und berufen ist, zu erforschen, was im Kopf oder in der Brust oder im Bauch anders ist, als es nach den Gesetzen, die er kennt, zu sein hat. Heinrich Reinegg dachte an einen Uhrmacher, der die Uhr schüttelt und ihre Rädchen lange und scharf durch eine Lupe ansieht, ehe er an die Arbeit geht, und an einen Mechaniker, der den Motor eines Kraftrades in Tätigkeit setzt und mit scharfem Ohr zu erforschen trachtet, ob er unregelmäßig klopft oder Nebengeräusche hat. Aber waren das nicht törichte Gedanken? Menschen sind keine Uhren und keine Krafträder, und Ärzte können nicht Uhrmacher und Mechaniker sein.
 
Ein Arzt, ein junger Mann mit einer großen Glatze, kam in das Zimmer. Er sah Heinrich Reinegg flüchtig, gleichgültig an. Dann beachtete er ihn nicht mehr. Er sprach kurz mit der Frau im weißen Mantel über einen „Fall“.  Einige Fachwörter, hinter denen Gesunde wie Kranke immer etwas Drohendes wittern, schwirrten durch das Zimmer. Dann ging der Arzt.
 
Die Frau schrieb Heinrich Reineggs Namen und Alter auf einen gelben Papierbogen. Dann tauchten ihre Augen, die sich hinter einer schlichten Brille zu verbergen suchten, in sein Gesicht.
 
„Erzählen Sie“, sagte sie, „warum Sie zu uns geschickt wurden?“ Es schien Heinrich Reinegg, daß ihre Stimme gut klang und warm und freundlich war und ihre Frage nicht der geschäftsmäßigen Gewohnheitsfrage eines Uhrmachers glich. Aber sie besiegte sein Mißtrauen nicht, das immer wach und auf der Lauer war.
 
Er saß verschlossen.
 
„Warum?“ sagte er, „ich hatte keine andere Wahl.“
 
Sie wurde nicht ungeduldig. Nicht sogleich. Sie fragte weiter: „Waren Sie krank?“ Es ist nett, dachte er, daß sie von der Vergangenheit spricht und nicht vom Augenblick. Ein bißchen spöttisch, kaum merklich, zuckten seine Lippen.
 
Krank? Ja, ja, er war krank. Viele waren es in der Zeit, in der er daniederlag. Und nicht alle, die krank waren, lagen danieder wie er. Im Gegenteil: Sie waren sehr tätig und glaubten an ihre starke Gesundheit. Aber da fiel ihm ein, daß es gerade als Krankheitszeichen gelten könnte, wenn er andere für krank, für noch kranker hielt. Und er sprach den Gedanken nicht aus.
 
Krank? Ja, ja, er wollte schon berichten. Er wollte gewiß nicht unhöflich sein. Nicht, weil sie eine Frau war. Das machte vielleicht das Reden noch schwieriger. Aber vielleicht, weil sie nicht wie eine Uhrmacherin fragte.
 
Er sprach langsam und karg. Und vieles von dem, was nun durch sein Gehirn zog, sagte er nicht.
 
Krank? Es gab - zu allen Zeiten - Diktatoren, die krank waren und Diktatoren geworden sind, weil sie krank waren.
 
War nicht die Welt krank? Ihre Wirtschaft, ihre Ordnung? War nicht die Menschheit von Fieberschauern geschüttelt, seit zwanzig Jahren oder länger? Waren nicht ihre Nervenstränge schmerzhaft entzündet, überreizt? Hat nicht ein krankes Gehirn alle Hemmungen ausgeschaltet, so daß gefährliche Tollheiten verübt wurden sonder Zahl, vor denen kein Gitterbett Schutz gewährte? Es gab Doktoren, die, wie es auch in der Medizin vorzukommen pflegt, selbst an den Krankheiten litten, die sie heilen wollten. Es gab andere, die die Zahl der weißen Tafeln mit den Vorschriften für die erste und zweite und für die dritte Klasse vervielfachen wollten und die die Tafeln als Heilmittel priesen. Es gab Scharlatane, die sich, mit bunten Mänteln angetan, auf Marktplätze stellten und ihre Kunst ausriefen und vorgaben, daß sie, wie die Quacksalber in alten und neuen Zeiten, nur ein Fläschchen mit einer gewissen Flüssigkeit anzusehen brauchten, um die Krankheit zu erkennen und sie heilen zu können; diese hatten den größten Zulauf. Und es gab ernste Doktoren, die die Krankheitszeichen sahen und sie eifrig bekämpfen wollten, aber ihre Ursachen nicht fanden oder nicht finden wollten, weil sie Angst hatten vor der Diagnose und den Folgerungen, die sie aus ihr hätten ziehen müssen.
 
Heinrich Reinegg war versucht, die Frau, die weiße Frau, die da vor ihm saß, zu fragen, ob auch die medizinische Wissenschaft glaube, daß man, indem man Krankheitszeichen vorübergehend mildere, die Krankheit beseitigen könne. Er tat es nicht. Vielleicht hätte sie auch das als ein Krankheitszeichen gewertet. Er sollte endlich von seiner eigenen Erkrankung sprechen.
 
Heinrich Reinegg sah an der Frau vorbei. Bilder kamen in das kleine, ärztliche Zimmer und gingen. Bilder aus der kranken Welt, die vor der kleinen Pforte der Anstalt, durch die er gebückt gegangen war, begann.
 
Eine Zelle kam. Zwei Eisenbetten standen mit Strohsäcken, die schwarz waren, mit Decken, die starrten. Ein Ofen stand, der kalt war. Ein Tisch wackelte. Ein Kübel stank. Eine hölzerne Wand, die um den Kübel war, krachte zu Boden. Heinrich  Reinegg stellte die Wand auf und las die Inschriften, die eingekritzelt waren. Sie fluchten, beteuerten Unschuld, klagten an. Sie lobten die Freiheit. Und die Liebe. Das Lob auf die Liebe war durch Zeichnungen ergänzt. Auf die Art haben die Menschen schon in ihren Höhlen in eisgrauen Vorzeiten die Liebe gepriesen.
 
Ein Mann lag auf einem Strohsack und wehklagte: „Ich werde ein Verbrecher.
Da werde ich ein Verbrecher.“
 
Ein Schloß polterte. Ein eiserner Riegel rasselte. Eine Tür knarrte. Eine Uniform kam und schrie den Mann auf dem Strohsack an: „Ziehen Sie die Schuhe aus!“
 
Heinrich Reinegg grinste. Heinrich Reinegg humpelte durch das Gemach. Der rechte Fuß versagte, schmerzte, quälte. Ein Arzt kam, schüttelte das Haupt und ging rasch.
 
Ein Schloß polterte. Ein eiserner Riegel rasselte.
 
Ein Lautsprecher spielte. Ein Mann stand auf dem Strohsack und lauschte. Eine Frauenstimme kam leise und zaghaft aus der Ferne. Eine Frauenstimme.
 
Zwei Männer lagen auf schwarzen Strohsäcken. Sprachen. Schwiegen.  Fragten: Wie lange? Hofften. Zerschlugen die Hoffnung. Rauchten. Rauchten ohne Unterlaß. Teilten Zigaretten. Waren Freunde und Kameraden. In der Zelle.
 
„Es gibt Menschen, die es immer mit den stärkeren Bataillonen halten“, höhnte Heinrich Reinegg, „sie liegen nie in Zellen.“
 
„Ja“, stöhnte sein Freund auf dem Strohsack, „ja, und ich - ich werde morgen dem Kerkermeister sagen, er soll mir irgendeine Arbeit geben. Ich ersticke. Da werde ich ein Verbrecher.“
 
„Du wirst keiner. - Aber genügt es dir nicht, den Kübel auszutragen?“ Man denkt noch lange an jedes Wort, das man in der Zelle spricht und das zu einem geredet wird, dachte Heinrich Reinegg, als er im kleinen, hellen Raum vor der Frau im weißen Mantel saß.
 
Bilder kamen. Und gingen.
 
Ein Schloß polterte. Eine Tür knarrte. Ein Auto stand fahrbereit. Heinrich Reinegg humpelte. Bewaffnete begleiteten ihn. Ein Auto fuhr. Auf Straßen, die herrlich verschneit waren, durch Dörfer, die er kannte, durch Wälder, die er liebte.
 
Eine Zelle kam, ein Richter kam, ein Arzt kam. Und Stunden gingen hin und Nächte, langsam, als wären es Ewigkeiten gewesen.
 
Und einmal, einmal kam ein Tag. Heinrich Reinegg stand in der lauten Straße einer Stadt, hart auf seinen Stock gestützt. Wagen fuhren. Menschen gingen. Frauen lächelten. Männer arbeiteten. Für sie war es ein Tag wie gestern.
 
Frei! Frei?
 
Die Frau am Schreibtisch sah vor sich hin und hörte zu, und öfters schrieb sie rasch ein paar Sätze auf den gelben Papierbogen.
 
„Was schreiben Sie da?“ fragte Heinrich Reinegg unwirsch.
 
Sie lächelte. „Nichts Besonderes. Nur ein paar Bemerkungen über die Krankheit des rechten Beines. Das ist jetzt besser, nicht wahr? Aber was ist mit dem Kopf?“
 
Kopf? Eine heikle Angelegenheit. Je schiefer ein Kopf sitzt, desto fester ist sein Träger überzeugt, daß alle anderen Köpfe schief sind und er seinen eigenen hoch und gerade trägt.
 
Bilder kamen.
 
Es stand ein Mensch im Nebel einer kranken Welt. Fühlte Abgründe. Konnte nicht nach vorne und nicht nach rückwärts gehen. War getreten und gedemütigt. War hungernd. Dachte an sein Leben und lächelte in den Nebel hinein voll Ingrimm und Hohn. Denn da war immer eines, war immer dasselbe, Unentrinnbare: Niederung, Klettern an der Wand und Rückfall. Da war eine Kindheit ohne Lachen, eine Mutter, die er liebte und die starb, weil Mütter, die hungern und leiden, frühzeitig an Tuberkulose sterben müssen. Da war ein mühsamer Aufstieg. Er nahm andere bei der Hand und half ihnen klettern. Helfen! Helfen! In jeder Frau, die ein Kopftuch trug und voll Mühsal ging, sah er die Mutter. Und half! War froh. Für Augenblicke. Kletterte. Rutschte.
Kletterte.
Rutschte!
Stand im Nebel. Rief. Viele standen im Nebel und riefen. Er hörte sie nicht, er sah sie nicht. Aber er litt mit ihnen, und sie litten mit ihm. So kam zu seinem kleinen Schicksal das Leid vieler, die im Nebel irrten, und drückte ihn, so daß er auf die nasse Erde fiel im Nebel des Tales.
 
Bilder kamen.
 
Ein Mann lag im Bett. Gegenstände wogten: der Tisch, Bilder. Eine Pflanze stand auf dem Kasten. Zwei Pflanzen, die eine waren. Eine Pflanze, die doppelt war. Wenn der Mann ein Auge schloß, sah er eine Pflanze sich erheben. Wenn er beide öffnete, waren es zwei, die im scharfen Abstand voneinander standen. Ein Mann kam. Er hatte zwei Köpfe und zwei Krawatten. Ein Arzt hielt einen Daumen in die Höhe. „Sind es zwei, oder ist es einer?“ Es waren zwei. Der kranke Mensch im Bett aber dachte schwer und sagte: „Es ist einer.“ Seine Hand griff nach einem Glas, einem Löffel und fand das Ziel nicht.
 
Der Mensch Heinrich Reinegg erbrach. Er freute sich ein wenig; das hielt er für natürlich und vernünftig.
 
Ein Arzt rief voll Sorge: „Nicht rauchen! Er darf nicht rauchen! Es kann die Katastrophe sein.“ Heinrich Reinegg hörte es undeutlich; es gefiel ihm sehr, daß jener „Katastrophe“ sagte.
 
Ein anderer Arzt aber kam und sagte: „Geben Sie ihm, was er will!“ Er ärgerte sich, weil die Taschenlampe, mit der er dem Kranken in die Augen leuchten wollte, streikte. Er befahl: „Sagen Sie: Gletscherrelief!“
 
Heinrich Reinegg war entschlossen, es zu sagen. Ein neuer Befehl: „Strecken Sie die Zunge heraus!“ Heinrich Reinegg tat es gefügig; warum sollte er nicht die Zunge in die Welt strecken? Sie wich aber nach rechts.
 
Ein Priester kam, war freundlich und fürsorglich und sagte: „Die Kirche trifft keine Schuld.“
 
Und Stunden kamen, wo nichts war als Nebel und das dumpfe Verwundern in Heinrich Reinegg über die Zähigkeit seines flackernden Lebens.
 
Menschen kamen und beteten. Bauern ließen Messen lesen. Frauen wehklagten, die alt waren und arm. Männer gingen Stunden und Stunden über Straßen und Steige um eines Grußes willen. Und es gab andere, wenige, die Freude äußerten über die nahende „Katastrophe“.
 
Heinrich Reinegg aber straffte den zagenden Leib und erhob sich von der nassen Erde. Stand wieder im Nebel des Tales. Und versuchte, tastend und schwankend und langsam, zu gehen.
 
Die Frau am Schreibtisch sprach und verscheuchte die Bilder.
 
„Bitte gehen Sie jetzt ins Nebenzimmer, und ziehen Sie sich aus bis auf die Unterwäsche! Dann kommen Sie wieder!“
 
Es war ihm nicht klar, ob das nun natürlich war oder nicht. Aber der weiße Mantel entschied in diesem Raum. Er ging und kam in Unterhose und Hemd zurück. Legte sich auf das Ruhebett, das nicht der Ruhe diente. Die Frau stach mit einer feinen Nadel in den Kopf, links und rechts, wie wenn sie das Schicksal darstellen wollte, und fragte nach dem Unterschied der Empfindung. Sie ließ ihn die Augen schließen und die Hände ausstrecken. Sie bat ihn, ihre Hand zu drücken. Er fragte spöttisch, wieviel Hände sie täglich drücken müsse. Auf ihr Geheiß ging er im Zimmer auf und ab. In Unterhose und Hemd. Den rechten Fuß schleppte er ein bißchen nach. Das ist lieblich, dachte Heinrich Reinegg, ein Mann in Unterhose spaziert vor einer Frau.

Aber sie trug ja einen weißen Mantel, der die Frau verbarg. Für sie war der Mann in Unterhose offenbar weder eine liebliche noch eine unliebliche Erscheinung, sondern er gehörte in den Raum wie die ihres Gehäuses entkleidete Uhr in die Uhrmacherwerkstätte. Aber nein. Es gab doch Unterschiede. Zum Beispiel den: Der Uhrmacher entkleidet die Uhr in der Werkstätte, der Mann ging ins Nebenzimmer aus- und anziehen. Heinrich Reineggs Gesicht war versunken und finster wie immer, aber in ihm war der leichte Spott, mit dem er sich selbst oft bedachte, den er hegte in bösen und scheinbar freundlichen Stunden wie einen Schutz; vielleicht war es nur ein Trug an sich selbst.
 
Als der Mann wieder in ordentlichen Mannskleidern stak, fragte die Frau: „Wie steht es mit der Lunge?“
 
Er zeigte einen Zettel, auf dem ein ärztlicher Bericht verzeichnet war.
 
Der junge Arzt mit der großen Glatze kam in diesem Augenblick, besah den Zettel und meinte kühl: „Wir sind ja keine Lungenheilstätte, das ist wohl ein Irrtum.“
 
„Nein, nein“, sagte die Ärztin, „es ist kein Irrtum, er gehört schon zu uns.“
 
Es ist schön, dachte Heinrich Reinegg, nun bin ich wohl endlich dort, wohin ich gehöre.
 
 





   lifedays-seite - moment in time