Kranke
Menschheit 2
undatiert
In
ärztlichen Zimmern ist immer irgend etwas Geheimnisvolles. Da ist ein
Ruhebett,
das nicht der Ruhe dient, da sind Glaskästen mit glitzernden Dingern,
die dich
irgendwie feindselig ansehen. Da ist einer, der sich anschickt und
berufen ist,
zu erforschen, was im Kopf oder in der Brust oder im Bauch anders ist,
als es
nach den Gesetzen, die er kennt, zu sein hat. Heinrich Reinegg dachte
an einen
Uhrmacher, der die
Uhr schüttelt und ihre Rädchen lange und scharf durch eine Lupe
ansieht, ehe er
an die Arbeit geht, und an einen Mechaniker, der den Motor eines
Kraftrades in
Tätigkeit setzt und mit scharfem Ohr zu erforschen trachtet, ob er
unregelmäßig
klopft oder Nebengeräusche hat. Aber waren das nicht törichte Gedanken?
Menschen sind keine Uhren und keine Krafträder, und Ärzte können nicht
Uhrmacher und Mechaniker
sein.
Ein
Arzt, ein junger Mann mit einer großen Glatze, kam in das Zimmer. Er
sah
Heinrich Reinegg flüchtig, gleichgültig an. Dann beachtete er ihn nicht
mehr.
Er sprach kurz mit der Frau im weißen Mantel über einen „Fall“.
Einige Fachwörter, hinter denen Gesunde wie
Kranke immer etwas Drohendes wittern, schwirrten durch das Zimmer. Dann
ging
der Arzt.
Die
Frau schrieb Heinrich Reineggs Namen und Alter auf einen gelben
Papierbogen.
Dann tauchten ihre Augen, die sich hinter einer schlichten Brille zu
verbergen
suchten, in sein Gesicht.
„Erzählen
Sie“, sagte sie, „warum Sie zu uns geschickt wurden?“ Es schien
Heinrich
Reinegg, daß ihre Stimme gut klang und warm und freundlich war und ihre
Frage
nicht der geschäftsmäßigen Gewohnheitsfrage eines Uhrmachers glich.
Aber sie
besiegte sein Mißtrauen nicht, das immer wach und auf der Lauer war.
Er
saß verschlossen.
„Warum?“
sagte er, „ich hatte keine andere Wahl.“
Sie
wurde nicht ungeduldig. Nicht sogleich. Sie fragte weiter: „Waren Sie
krank?“
Es ist nett, dachte er, daß sie von der Vergangenheit spricht und nicht
vom
Augenblick. Ein bißchen spöttisch, kaum merklich, zuckten seine Lippen.
Krank?
Ja, ja, er war krank. Viele waren es in der Zeit, in der er
daniederlag. Und
nicht alle, die krank waren, lagen danieder wie er. Im Gegenteil: Sie
waren
sehr tätig und glaubten an ihre starke Gesundheit. Aber da fiel ihm
ein, daß es
gerade als Krankheitszeichen gelten könnte, wenn er andere für krank,
für noch
kranker hielt. Und er sprach den Gedanken nicht aus.
Krank?
Ja, ja, er wollte schon berichten. Er wollte gewiß nicht unhöflich
sein. Nicht,
weil sie eine Frau war. Das machte vielleicht das Reden noch
schwieriger. Aber
vielleicht, weil sie nicht wie eine Uhrmacherin fragte.
Er
sprach langsam und karg. Und vieles von dem, was nun durch sein Gehirn
zog,
sagte er nicht.
Krank?
Es gab - zu allen Zeiten - Diktatoren, die krank waren und Diktatoren
geworden
sind, weil sie krank waren.
War
nicht die Welt krank? Ihre Wirtschaft, ihre Ordnung? War nicht die
Menschheit
von Fieberschauern geschüttelt, seit zwanzig Jahren oder länger? Waren
nicht
ihre Nervenstränge schmerzhaft entzündet, überreizt? Hat nicht ein
krankes
Gehirn alle Hemmungen ausgeschaltet, so daß gefährliche Tollheiten
verübt
wurden sonder Zahl, vor denen kein Gitterbett Schutz gewährte? Es gab
Doktoren,
die, wie es auch in der Medizin vorzukommen pflegt, selbst an den
Krankheiten litten,
die sie heilen wollten. Es gab andere, die die Zahl der weißen Tafeln
mit den
Vorschriften für die erste und zweite und für die dritte Klasse
vervielfachen
wollten und die die Tafeln als Heilmittel priesen. Es gab Scharlatane,
die
sich, mit bunten Mänteln angetan, auf Marktplätze stellten
und ihre Kunst ausriefen und vorgaben, daß sie, wie die Quacksalber in
alten
und neuen Zeiten, nur ein Fläschchen mit einer gewissen Flüssigkeit
anzusehen
brauchten, um die Krankheit zu erkennen und sie heilen zu können; diese
hatten
den größten Zulauf. Und es gab ernste Doktoren, die die
Krankheitszeichen sahen
und sie eifrig bekämpfen wollten, aber ihre Ursachen nicht fanden oder
nicht
finden wollten, weil sie Angst hatten vor der Diagnose und den
Folgerungen, die
sie aus ihr hätten ziehen müssen.
Heinrich
Reinegg war versucht, die Frau, die weiße Frau, die da vor ihm saß, zu
fragen,
ob auch die medizinische Wissenschaft glaube, daß man, indem man
Krankheitszeichen vorübergehend mildere, die Krankheit beseitigen
könne. Er tat
es nicht. Vielleicht hätte sie auch das als ein Krankheitszeichen
gewertet. Er
sollte endlich von seiner eigenen Erkrankung sprechen.
Heinrich
Reinegg sah an der Frau vorbei. Bilder kamen in das kleine, ärztliche
Zimmer
und gingen. Bilder aus der kranken Welt, die vor der kleinen Pforte der
Anstalt,
durch die er gebückt gegangen war, begann.
Eine
Zelle kam. Zwei Eisenbetten standen mit Strohsäcken, die schwarz waren,
mit
Decken, die starrten. Ein Ofen stand, der kalt war. Ein Tisch wackelte.
Ein
Kübel stank. Eine hölzerne Wand, die um den Kübel war, krachte zu
Boden.
Heinrich Reinegg stellte die Wand auf
und las die Inschriften, die eingekritzelt waren. Sie fluchten,
beteuerten
Unschuld, klagten an. Sie lobten die Freiheit. Und die Liebe. Das Lob
auf die
Liebe war durch Zeichnungen ergänzt. Auf die Art haben die Menschen
schon in
ihren Höhlen in eisgrauen Vorzeiten die Liebe gepriesen.
Ein
Mann lag auf einem Strohsack und wehklagte: „Ich werde ein Verbrecher.
Da
werde ich ein Verbrecher.“
Ein
Schloß polterte. Ein eiserner Riegel rasselte. Eine Tür knarrte. Eine
Uniform
kam und schrie den Mann auf dem Strohsack an: „Ziehen Sie die Schuhe
aus!“
Heinrich
Reinegg grinste. Heinrich Reinegg humpelte durch das Gemach. Der rechte
Fuß
versagte, schmerzte, quälte. Ein Arzt kam, schüttelte das Haupt und
ging rasch.
Ein
Schloß polterte. Ein eiserner Riegel rasselte.
Ein
Lautsprecher spielte. Ein Mann stand auf dem Strohsack und lauschte.
Eine
Frauenstimme kam leise und zaghaft aus der Ferne. Eine Frauenstimme.
Zwei
Männer lagen auf schwarzen Strohsäcken. Sprachen. Schwiegen.
Fragten: Wie lange? Hofften. Zerschlugen die
Hoffnung. Rauchten. Rauchten ohne Unterlaß. Teilten Zigaretten. Waren
Freunde
und Kameraden. In der Zelle.
„Es
gibt Menschen, die es immer mit den stärkeren Bataillonen halten“,
höhnte Heinrich
Reinegg, „sie liegen nie in Zellen.“
„Ja“,
stöhnte sein Freund auf dem Strohsack, „ja, und ich - ich werde morgen
dem
Kerkermeister sagen, er soll mir irgendeine Arbeit geben. Ich ersticke.
Da
werde ich ein Verbrecher.“
„Du
wirst keiner. - Aber genügt es dir nicht, den Kübel auszutragen?“ Man
denkt
noch lange an jedes Wort, das man in der Zelle spricht und das zu einem
geredet
wird, dachte Heinrich Reinegg, als er im kleinen, hellen Raum vor der
Frau im
weißen Mantel saß.
Bilder
kamen. Und gingen.
Ein
Schloß polterte. Eine Tür knarrte. Ein Auto stand fahrbereit. Heinrich
Reinegg
humpelte. Bewaffnete begleiteten ihn. Ein Auto fuhr. Auf Straßen, die
herrlich verschneit
waren, durch Dörfer, die er kannte, durch Wälder, die er liebte.
Eine
Zelle kam, ein Richter kam, ein Arzt kam. Und Stunden gingen hin und
Nächte,
langsam, als wären es Ewigkeiten gewesen.
Und
einmal, einmal kam ein Tag. Heinrich Reinegg stand in der lauten Straße
einer
Stadt, hart auf seinen Stock gestützt. Wagen fuhren. Menschen gingen.
Frauen
lächelten. Männer arbeiteten. Für sie war es ein Tag wie gestern.
Frei!
Frei?
Die
Frau am Schreibtisch sah vor sich hin und hörte zu, und öfters schrieb
sie
rasch ein paar Sätze auf den gelben Papierbogen.
„Was
schreiben Sie da?“ fragte Heinrich Reinegg unwirsch.
Sie
lächelte. „Nichts Besonderes. Nur ein paar Bemerkungen über die
Krankheit des
rechten Beines. Das ist jetzt besser, nicht wahr? Aber was ist mit dem
Kopf?“
Kopf?
Eine heikle Angelegenheit. Je schiefer ein Kopf sitzt, desto fester ist
sein
Träger überzeugt, daß alle anderen Köpfe schief sind und er seinen
eigenen hoch
und gerade trägt.
Bilder
kamen.
Es
stand ein Mensch im Nebel einer kranken Welt. Fühlte Abgründe. Konnte
nicht
nach vorne und nicht nach rückwärts gehen. War getreten und gedemütigt.
War
hungernd. Dachte an sein Leben und lächelte in den Nebel hinein voll
Ingrimm
und Hohn. Denn da war immer eines, war immer dasselbe, Unentrinnbare:
Niederung, Klettern an der Wand und Rückfall. Da war eine Kindheit ohne
Lachen,
eine Mutter, die
er liebte und die starb, weil Mütter, die hungern und leiden,
frühzeitig an
Tuberkulose sterben müssen. Da war ein mühsamer Aufstieg. Er nahm
andere bei
der Hand und half ihnen klettern. Helfen! Helfen! In jeder Frau, die
ein Kopftuch
trug und voll Mühsal ging, sah er die Mutter. Und half! War froh. Für
Augenblicke. Kletterte. Rutschte.
Kletterte.
Rutschte!
Stand
im Nebel. Rief. Viele standen im Nebel und riefen. Er hörte sie nicht,
er sah
sie nicht. Aber er litt mit ihnen, und sie litten mit ihm. So kam zu
seinem
kleinen Schicksal das Leid vieler, die im Nebel irrten, und drückte
ihn, so daß
er auf die nasse Erde fiel im Nebel des Tales.
Bilder
kamen.
Ein
Mann lag im Bett. Gegenstände wogten: der Tisch, Bilder. Eine Pflanze
stand auf
dem Kasten. Zwei Pflanzen, die eine waren. Eine Pflanze, die doppelt
war. Wenn
der Mann ein Auge schloß, sah er eine Pflanze sich erheben. Wenn er
beide
öffnete, waren es zwei, die im scharfen Abstand voneinander standen.
Ein Mann
kam. Er hatte zwei Köpfe und zwei Krawatten. Ein Arzt hielt einen
Daumen in die
Höhe. „Sind es zwei, oder ist es einer?“ Es waren zwei. Der kranke
Mensch im
Bett aber dachte schwer und sagte: „Es ist einer.“ Seine Hand griff
nach einem
Glas, einem Löffel und fand das Ziel nicht.
Der
Mensch Heinrich Reinegg erbrach. Er freute sich ein wenig; das hielt er
für
natürlich und vernünftig.
Ein
Arzt rief voll Sorge: „Nicht rauchen! Er darf nicht rauchen! Es kann
die
Katastrophe sein.“ Heinrich Reinegg hörte es undeutlich; es gefiel ihm
sehr, daß
jener „Katastrophe“ sagte.
Ein
anderer Arzt aber kam und sagte: „Geben Sie ihm, was er will!“ Er
ärgerte sich,
weil die Taschenlampe, mit der er dem Kranken in die Augen leuchten
wollte,
streikte. Er befahl: „Sagen Sie: Gletscherrelief!“
Heinrich
Reinegg war entschlossen, es zu sagen. Ein neuer Befehl: „Strecken Sie
die
Zunge heraus!“ Heinrich Reinegg tat es gefügig; warum sollte er nicht
die Zunge
in die Welt strecken? Sie wich aber nach rechts.
Ein
Priester kam, war freundlich und fürsorglich und sagte: „Die Kirche
trifft
keine Schuld.“
Und
Stunden kamen, wo nichts war als Nebel und das dumpfe Verwundern in
Heinrich
Reinegg über die Zähigkeit seines flackernden Lebens.
Menschen
kamen und beteten. Bauern ließen Messen lesen. Frauen wehklagten, die
alt waren
und arm. Männer gingen Stunden und Stunden über Straßen und Steige um
eines
Grußes willen. Und es gab andere, wenige, die Freude äußerten über die
nahende
„Katastrophe“.
Heinrich
Reinegg aber straffte den zagenden Leib und erhob sich von der nassen
Erde.
Stand wieder im Nebel des Tales. Und versuchte, tastend und schwankend
und
langsam, zu gehen.
Die
Frau am Schreibtisch sprach und verscheuchte die Bilder.
„Bitte
gehen Sie jetzt ins Nebenzimmer, und ziehen Sie sich aus bis auf die
Unterwäsche! Dann kommen Sie wieder!“
Es
war ihm nicht klar, ob das nun natürlich war oder nicht. Aber der weiße
Mantel
entschied in diesem Raum. Er ging und kam in Unterhose und Hemd zurück.
Legte
sich auf das Ruhebett, das nicht der Ruhe diente. Die Frau stach mit
einer
feinen Nadel in den Kopf, links und rechts, wie wenn sie das Schicksal
darstellen wollte, und fragte nach dem Unterschied der Empfindung. Sie
ließ ihn
die Augen schließen und die Hände ausstrecken. Sie bat ihn, ihre Hand
zu
drücken. Er fragte spöttisch, wieviel Hände sie täglich drücken müsse.
Auf ihr
Geheiß ging er im Zimmer auf und ab. In
Unterhose und Hemd. Den rechten Fuß schleppte er ein bißchen nach.
Das ist lieblich, dachte Heinrich Reinegg, ein Mann in Unterhose
spaziert vor
einer Frau.
Aber
sie trug ja einen weißen Mantel, der die Frau verbarg. Für sie war der
Mann in
Unterhose offenbar weder eine liebliche noch eine unliebliche
Erscheinung,
sondern er gehörte in den Raum wie die ihres Gehäuses entkleidete Uhr
in die
Uhrmacherwerkstätte. Aber nein. Es gab doch Unterschiede. Zum Beispiel
den: Der
Uhrmacher entkleidet die Uhr in der Werkstätte, der Mann ging ins
Nebenzimmer
aus- und anziehen. Heinrich Reineggs Gesicht war versunken und finster
wie
immer, aber
in ihm war der leichte Spott, mit dem er sich selbst oft bedachte, den
er hegte
in bösen und scheinbar freundlichen Stunden wie einen Schutz;
vielleicht war es
nur ein Trug an sich selbst.
Als
der Mann wieder in ordentlichen Mannskleidern stak, fragte die Frau:
„Wie steht
es mit der Lunge?“
Er
zeigte einen Zettel, auf dem ein ärztlicher Bericht verzeichnet war.
Der
junge Arzt mit der großen Glatze kam in diesem Augenblick, besah den
Zettel und
meinte kühl: „Wir sind ja keine Lungenheilstätte, das ist wohl ein
Irrtum.“
„Nein,
nein“, sagte die Ärztin, „es ist kein Irrtum, er gehört schon zu uns.“
Es
ist schön, dachte Heinrich Reinegg, nun bin ich wohl endlich dort,
wohin ich
gehöre.