Im Duft des Morgens,
umstrahlt von Himmelsbläue,
wanderte ein Jüngling den winkenden Bergen zu und fühlte sein frohes
Herz mit
allen Pulsen der Welt in gleicher Welle schlagen. Unbedroht und frei
trug ihn
sein Weg viele Stunden lang über das offene Land, bis mit einem Male,
an eines
Waldes Eingang, rings um ihn, nah und fern zugleich, unbegreiflich,
eine Stimme
klang: »Geh nicht durch diesen Wald, Jüngling, es sei denn, du wolltest
einen
Mord begehen.« Betroffen blieb der Jüngling stehen, blickte nach allen
Seiten,
und da nirgends ein lebendiges Wesen zu entdecken war, erkannte er, daß
ein
Geist zu ihm gesprochen hatte. Seine Kühnheit aber lehnte sich auf, so
dunklem
Zuruf gehorsam zu sein, und, den Gang nur wenig mäßigend, schritt er
unbeirrt
vorwärts, doch mit angespannten Sinnen, den unbekannten Feind
rechtzeitig zu
erspähen, den ihm jene Warnung verkündigen mochte. Niemand begegnete
ihm, kein
verdächtiges Geräusch ward vernehmbar, und unangefochten trat der
Jüngling bald
aus den schweren Schatten der Bäume ins Freie. Unter den letzten
breiten Ästen
ließ er zur Rast sich nieder und sandte den Blick über eine weite Wiese
hin,
den Bergen zu, aus denen schon mit strengem Umriß ein starrer Gipfel
als
letztes hohes Ziel sich aufrichtete. Kaum aber hatte der Jüngling sich
wieder
erhoben, als sich zum zweitenmal die unbegreifliche Stimme vernehmen
ließ,
rings um ihn, zugleich nah und fern, doch beschwörender als das
erstemal: »Geh
nicht über diese Wiese, Jüngling, es sei denn, du wolltest Verderben
bringen
über dein Vaterland.« Auch dieser neuen Warnung zu achten, verbot dem
Jüngling
sein Stolz, ja, er lächelte des leeren Wortschwalls, der
geheimnisvollen Sinnes
sich brüsten wollte, und eilte vorwärts, im Innern ungewiß, ob Ungeduld
oder
Unruhe ihm den Schritt beflügelte. Feuchte Abendnebel dunsteten in der
Ebene,
als er endlich der Felswand gegenüberstand, die zu bezwingen er sich
vorgenommen. Doch kaum hatte er den Fuß auf das kahle Gestein gesetzt,
so tönte
es, unbegreiflich, nah und fern zugleich, drohender als zuvor um ihn:
»Nicht
weiter, Jüngling, es sei denn, du wolltest den Tod erleiden.« Nun
sendete der
Jüngling ein überlautes Lachen in die Lüfte und setzte ohne Zögern und
ohne
Hast seine Wanderung fort. Je schwindelnder ihn der Pfad emportrug, um
so
freier fühlte er seine Brust sich weiten, und auf der kühn erklommenen
Spitze
umglühte der letzte Glanz des Tages sein Haupt. »Hier bin ich!« rief er
mit
erlöster Stimme. »War dies eine Prüfung, guter oder böser Geist, so hab
ich sie
bestanden. Kein Mord belastet meine Seele, ungekränkt in der Tiefe
schlummert
mir die geliebte Heimat, und ich lebe. Und wer du auch sein magst, ich
bin
stärker als du, denn ich habe dir nicht geglaubt und tat recht daran.«
Da
rollte es wie Ungewitter
von den fernsten Wänden
und immer näher heran: »Jüngling, du irrst!« und die Donnergewalt der
Worte
warf den Wanderer nieder.
Der
aber streckte sich auf
den schmalen Grat der Länge
nach hin, als wäre es eben seine Absicht gewesen, hier auszuruhen, und
mit
spöttischem Zucken der Mundwinkel sprach er wie vor sich hin: »So hätt'
ich
wirklich einen Mord begangen und hab' es gar nicht gemerkt?«
Und
es brauste um ihn: »Dein
achtloser Schritt hat
einen Wurm zertreten.«
Gleichgültig
erwiderte der
Jüngling: »Also weder ein
guter noch ein böser Geist sprach zu mir, sondern ein witziger Geist.
Ich habe
nicht gewußt, daß auch derlei um uns Sterbliche in den Lüften schwebt.«
Da
grollte es rings im fahlen
Dämmerschein der Höhe:
»So bist du derselbe nicht mehr, der heute morgens sein Herz mit allen
Pulsen
der Welt in gleicher Welle schlagen fühlte, daß dir ein Leben gering
erscheint,
von dessen Lust und Grauen kein Wissen in deine taube Seele dringt?«
»Ist
es so gemeint?«
entgegnete der Jüngling
stirnrunzelnd, »so bin ich hundert- und tausendfach schuldig, wie
andere
Sterbliche auch, deren achtloser Schritt unzähliges kleines Getier
immer und
immer wieder ohne böse Absicht vernichtet.«
»Um
des einen willen aber
warst du gewarnt. Weißt du,
wozu gerade dieser Wurm bestimmt war im unendlichen Lauf des Werdens
und
Geschehens?«
Gesenkten
Hauptes erwiderte
der Jüngling: »Da ich das
weder weiß noch wissen kann, so sei dir denn in Demut zugestanden, daß
ich auf
meiner Waldeswanderung unter vielen anderen auch gerade den Mord
begangen habe,
den zu verhüten dein Wille war. Aber wie ich es angestellt habe, auf
meinem
Wiesenweg Unheil über mein Vaterland zu bringen, das zu hören, bin ich
wirklich
begierig.«
»Sahst
du den bunten
Schmetterling,« raunte es um ihn,
»Jüngling, der eine Weile zu deiner Rechten flatterte?«
»Viele
sah ich, wohl auch
den, den du meinen magst.«
»Viele
sahst du. Manche trieb
deiner Lippen Hauch ab
von ihrer Bahn, den aber, den ich meine, jagte dein wilder Atem
ostwärts, und
so flatterte er meilenweit immer weiter, bis über die goldenen
Gitterstäbe, die
den königlichen Park umschließen. Von diesem Schmetterling aber wird
die Raupe
stammen, die übers Jahr an heißem Sommernachmittag über der jungen
Königin
weißen Nacken kriechen und sie so jäh aus ihrem Schlummer wecken wird,
daß ihr
das Herz im Leib erstarren und die Frucht ihres Schoßes hinsiechen muß.
Und
statt des rechtmäßigen, um sein Dasein betrogenen Sprossen erbt des
Königs
Bruder das Reich, tückisch, lasterhaft und grausam, wie er geschaffen,
stürzt
er das Volk in Verzweiflung, Empörung und endlich, zu eigener Rettung,
in
Kriegswirrnis, deiner geliebten Heimat zum unermeßlichen Verderben. An
all‘ dem
trägt kein anderer Schuld als du, Jüngling, dessen wilder Hauch den
bunten
Schmetterling auf jener Wiese ostwärts über goldene Gitterstäbe in den
Park des
Königs trieb.«
Der
Jüngling zuckte die
Achseln: »Daß all‘ dies
eintreffen kann, so wie du voraussagst, unsichtbarer Geist, wie
vermöcht' ich
es zu leugnen, da ja auf Erden immer eins aus dem anderen folgt, gar
oft
Ungeheueres aus Kleinem und Kleines wieder aus Ungeheurem? Aber was
soll mich
veranlassen, gerade dieser Prophezeiung zu trauen, da jene andere sich
nicht
erfüllte, die mir für meinen Felsenaufstieg den Tod angedroht hat?«
»Wer
hier emporstieg,« so
klang es furchtbar um ihn,
»der muß auch wieder hinab, wenn es ihn gelüstet, weiter unter den
Lebendigen
zu wandeln. Hast du das bedacht?«
Da
erhob sich der Jüngling
jäh, als wär' er gewillt,
augenblicks den rettenden Rückweg anzutreten. Doch als er mit
plötzlichem
Grauen der undurchdringlichen Nacht inne ward, die ihn umgab, begriff
er, daß
er zu so verwegenem Beginnen des Lichts bedurfte, und um seiner klaren
Sinne
für den Morgen gewiß zu sein, streckte er sich wieder hin auf den
schmalen Grat
und sehnte mit Inbrunst den stärkenden Schlaf herbei. Doch so
regungslos er
dalag, Gedanken und Sinne blieben ihm wach, schmerzlich geöffnet die
müden
Lider, und ahnungsvolle Schauer rannen ihm durch Herz und Adern. Der
schwindelnde Abgrund stand ihm immer und immer vor Augen, der ihm den
einzigen
Weg ins Leben zurück bedeutete, er, der sonst seines Schrittes sich
überall
sicher gedünkt hatte, fühlte in seiner Seele nie gekannte Zweifel
aufbeben und
immer peinvoller wühlen, bis er sie nicht länger ertragen konnte und
beschloß,
lieber gleich das Unvermeidliche zu wagen, als in Qual der Ungewißheit
den Tag
zu erwarten. Und wieder erhob er sich zu dem vermessenen Versuch, ohne
den
Segen der Helle, nur mit seinem tastenden Tritt des gefährlichen Weges
Meister
zu werden. Kaum aber hatte er den Fuß in die Finsternis gesetzt, so war
ihm wie
ein unwiderrufliches Urteil bewußt, daß sich nun in kürzester Frist
sein
geweissagtes Schicksal erfüllen mußte. Und in düsterem Zorn rief er in
die
Lüfte: »Unsichtbarer Geist, der mich dreimal gewarnt, dem ich dreimal
nicht
geglaubt habe und dem ich nun doch als dem Stärkeren mich beuge – ehe
du mich
vernichtest, gib dich mir zu erkennen.«
Und
es klang durch die Nacht,
umklammernd nah und
unergründlich fern zugleich: »Erkannt hat mich kein Sterblicher noch,
der Namen
hab' ich viele. Bestimmung nennen mich die Abergläubischen, die Toren
Zufall
und die Frommen Gott. Denen aber, die sich die Weisen dünken, bin ich
die
Kraft, die am Anfang aller Tage war und weiter wirkt unaufhaltsam in
die
Ewigkeit durch alles Geschehen.«
»So
fluch ich dir in meinem
letzten Augenblick,« rief der
Jüngling, mit der Bitternis des Todes im
Herzen. »Denn bist du die Kraft, die am Anfang aller Tage war und
weiter wirkt
in die Ewigkeit durch alles Geschehen, dann mußte ja all dies kommen,
wie es
kam, dann mußt' ich den Wald durchschreiten, um einen Mord zu begehen,
mußte
über diese Wiese wandern, um mein Vaterland zu verderben, mußte den
Felsen
erklimmen, um meinen Untergang zu finden – deiner Warnung zum Trotz.
Warum also
war ich verurteilt, sie zu hören, dreimal, die mir doch nichts nützen
durfte?
Mußte auch dies sein? Und warum, o Hohn über allem Hohn, muß ich
noch im
letzten Augenblick mein ohnmächtiges Warum dir entgegenwimmern?«
Da
war dem Jüngling, als
fliehe an den Rändern des
unsichtbaren Himmels, von ungeheurer Antwort schwer und ernst, ein
unbegreifliches Lachen hin. Doch wie er versuchte, ins Weite zu
horchen, wankte
und glitt der Boden unter seinem Fuß, und schon stürzte er hinab,
tiefer als
Millionen Abgründe tief – in ein Dunkel, darin alle Nächte lauerten,
die
gekommen sind und kommen werden vom Anbeginn bis zum Ende der Welten.
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