Er
hielt ihre Hand in der seinen und betrachtete ihr
blasses Gesicht, aus dem jede Spur des Lebens geschwunden schien. Da
öffnete
sie noch einmal die Augen. Er wußte, wenn sich diesmal die Lider
senkten, so
war es für immer. Ihre Brust hob sich schwer, und er wußte: dies ist
der letzte
Atemzug. Da ergriff ihn eine ungeheure Angst um sie, und er betete,
ohne daß
seine Lippen sich bewegten: »Laß sie mir, Unerbittlicher, laß sie mir!
Laß sie
mir noch einen Tag, noch eine Stunde, aber nimm sie mir nicht jetzt,
nicht
gleich!«
Da
sah er mit einem Male den Engel des Todes im
Fenster stehen, der hatte sein Flehen gehört und sprach zu ihm: »Was
willst du
von mir? Drei Jahre war sie dein Weib. Was kann diese letzte Stunde
dir, dem
Lebenden, und ihr, der Sterbenden, geben?«
»Alles!«
rief der Jüngling aus. »Denn diese drei Jahre
waren nichts. Niemals hab' ich ihr gesagt, wie ich sie liebe, und ich
hab'
ihr's nicht sagen können, weil ich selbst es nicht gewußt habe. Und nun
soll
sie dahingehen, ohne es jemals gehört zu haben. Darum fleh' ich zu dir:
Eine
Stunde gib mir noch, daß ich's ihr sagen kann, und ich will dir nicht
fluchen,
so grausam du bist!«
Da
antwortete der Engel des Todes: »Ich selbst kann
dir diese Stunde nicht schenken. Denn eine so große Fülle von Leben
über die
Erde verstreut ist, so abgemessen ist sie, und im Unendlichen gibt es
kein
Zuviel und kein Zuwenig. Was du von mir verlangst, kann ich nur von
einem
anderen Menschen für dich erbitten, dem eben noch eine Stunde des
Lebens und
nicht mehr beschieden ist.«
Da
leuchteten die Augen des Jünglings in neuer
Hoffnung, und er sprach: »Wenn das in deiner Macht steht, so mach dich
schnell
auf den Weg, die Zeit geht hin.«
Der
Engel schüttelte das Haupt. »Fürchte nichts.
Solange ich mit dir rede, rauscht die Zeit an dir vorbei, ohne Macht
über dich
zu haben. Komm, ich will dich unter meine Flügel nehmen, denn du
mußt bei
mir sein, wenn meinen Bitten Kraft innewohnen soll; aber du wirst
unsichtbar
sein.«
Kaum
hatte der Engel des Todes diese Worte
ausgesprochen, so fühlte sich der Jüngling vom Boden emporgehoben und
durch die
dämmernde Morgenluft davongetragen. Und noch im selben Augenblick fand
er sich
in einem Wald und wandelte an der Seite des Engels durch eine hohe,
dunkle
Allee. Da begegnete ihnen ein Mann, noch nicht alt und nicht mehr jung,
der in
tiefes Sinnen versunken war und erst aufsah, als ihm der Engel mit
seinen
schwarzen Flügeln den Weg versperrte. Der Mann erschrak zuerst, faßte
sich aber
bald und fragte mit viel Würde: »Ich glaube, dich zu kennen, und sehe
mit
Befriedigung, daß du dem Bilde sehr ähnlich bist, das ich mir von dir
gemacht
habe. Aber warum suchst du mich schon so früh auf?«
»Ich
weiß«, antwortete der Engel, »daß du dein ganzes
Leben damit verbracht hast, über mich nachzudenken, dich auf mich
vorzubereiten
und mich mit Anstand zu empfangen. Ich weiß auch, daß du das Nichtsein
für den
einzig wünschenswerten Zustand hältst, welcher den Menschen gegönnt
ist. Freue
dich! In einer Stunde wirst du dein Ziel erreicht haben.«
Der
Mann atmete auf.
»Aber
es kostet dich nur ein Wort«, fuhr der Engel
fort, »um sogleich in das, was du das Reich des Nichtseins nennst,
eingehen zu
können. Schenke mir diese Stunde, die dir nichts anderes sein kann als
ein
unwillkommener Aufschub, für ein anderes menschliches Wesen, dem sie
ein
ungeheures Glück bedeutet.«
»Das
werde ich keineswegs tun«, erwiderte der
Philosoph mit viel Freundlichkeit. »Gerade in dieser letzten Stunde
meines
Lebens kann es mir eher gelingen als in jeder anderen, das Rätsel der
Welt
endgültig zu lösen – eine Möglichkeit, auf die ich keineswegs
verzichten möchte;
und überdies finde ich, daß die Ewigkeit selbst für den erfreulichsten
Zustand,
der den Menschen gegönnt ist, eben lang genug sein mag. Ich wünsche
also, daß
du mich ruhig meinen Spaziergang fortsetzen läßt und gütigst nicht
früher
erscheinst, als das Schicksal oder Gott oder der Weltgeist – darüber
werde ich
ja bald Näheres erfahren – dir aufgetragen hat.« Damit wendete er sich
ab, und
der Todesengel flog mit dem Jüngling wieder von dannen.
Sogleich
befanden sie sich in einem dumpfen, schwach
erhellten Zimmer, am Fußende eines Bettes, darin ein elender und
verfallener
Mensch lag, der sich ächzend und stöhnend hin und her wälzte. Er
hatte
wohl auch das Rauschen der Flügel gehört, denn plötzlich schlug er die
Augen
auf und starrte den Engel mit Entsetzen an.
»Da
bin ich endlich«, sprach dieser mit milder Stimme.
»Da bin ich, den du in so vielen schmerzensreichen Tagen und Nächten
herbeigerufen hast. Ich kann dich gleich mit mir nehmen, wenn du mir
die eine
Stunde schenkst, die dir nach Gottes Ratschluß noch bevorstünde und die
furchtbarer wäre als alle, die du bisher erduldet.
Du
wirst nach Atem ringen, kalter Schweiß wird aus
allen deinen Poren brechen, du wirst reden und dich bewegen wollen;
aber du
wirst dich nicht mehr rühren und deinen jammernden Kindern und deiner
verzweifelnden Frau kein Wort des Abschieds sagen können. Du weißt noch
nicht,
was Hoffnungslosigkeit ist, in dieser Stunde wirst du es wissen und
wirst
fühlen, daß sie die grauenhafteste von allen Qualen ist, die über dich
verhängt
worden.«
Der
Kranke hatte sich im Bette aufgerichtet, schlug
mit den Händen um sich, als wollte er die Erscheinung vertreiben, und
schrie:
»Geh, geh! Du kommst noch immer zur rechten Zeit! Wärst du vor einem
Jahre
gekommen, so hätte ich dir gedankt; jetzt hab' ich mich an meine Qualen
längst
gewöhnt und weiß doch, daß ich lebe. Ja, ich lebe, ich lebe! Auch hab'
ich eben
nach dem berühmtesten Arzt der Stadt geschickt, er wird gleich da sein,
und
wenn mich auch die hundert anderen nicht retten konnten, vielleicht
wird der es
tun. So geh doch, geh!«
Die
Wärterin, die neben dem Kranken eingeschlafen war,
fiel ihm in die Arme, zugleich stürzten seine Kinder aus dem
Nebenzimmer
herbei, und der Todesengel flog mit dem Jüngling von dannen.
Nun
standen sie inmitten eines weiten Tales, darin die
Morgennebel lagen, vor einer ärmlichen Hütte. Auf einer Bank davor saß
ein
blindes, uraltes Weib ganz allein. –
»Wer
ist denn da?« flüsterte sie mit ihren welken
Lippen.
»Ich
bin es, der Engel des Todes.«
Da
zitterte die Greisin und fragte: »Muß ich denn
schon sterben?«
Der
Engel erwiderte: »Wie oft hast du geklagt, daß ich
dich ganz vergessen habe, in Armut und Elend bist du hundert Jahre alt
geworden, deine Kinder hat man vor dir ins Grab gelegt, deine Enkel
sind in alle
Welt verstreut und kümmern sich nicht um dich, du bist einsam und
blind. Nun
bin ich endlich da – begrüßest du mich nicht mit Freude?«
Und
die Alte flüsterte wieder: »Muß ich wirklich schon
fort? Muß ich wirklich schon fort?«
Der
Engel antwortete: »Wohl wäre dir noch eine Stunde
des Daseins bestimmt, aber was kann sie dir sein? Ich bitte dich, mir
sie für
Jemanden zu schenken, dem sie hunderttausendmal mehr wert ist als dir.
Denn zu
dir wird auch in dieser Stunde kein menschliches Wesen kommen, niemand
wird
deine Hand in der seinen halten, niemand dir die Augen zudrücken, und
das
Aufgehen der Sonne kannst du nicht sehen. Worauf willst du noch
warten?«
Da
kniete das Weib nieder und flehte: »Laß mir diese
Stunde, wenn sie doch einmal mir gehört. So dunkel und einsam sie sein
wird,
dort, wohin sie mich morgen tragen werden, ist es noch einsamer und
dunkler.
Verlasse mich, Engel des Todes, komme nicht früher, als es sein muß.«
Und
wieder nahm der Engel des Todes den Jüngling unter
seine Flügel und flog mit ihm davon. Plötzlich befanden sie sich in
einer
kleinen Zelle. An einem hölzernen Tischchen, auf dem zwei Kerzen
brannten, saß
mit Fesseln an den Händen und Füßen ein bleicher Mann und starrte durch
das
vergitterte Fenster ins Leere. Er fuhr zusammen, als plötzlich der
Engel
zwischen ihm und dem Fenster stand. Er fuhr sich über die Stirn, suchte
aufzustehen, und seine Ketten rasselten.
»Was
willst du denn jetzt schon?« schrie er heiser.
»Ich
will dich befreien«, sagte der Engel des Todes.
»Schon
jetzt, schon jetzt? Ich habe das Glöcklein noch
nicht läuten gehört; du kommst zu früh!«
»Du
hast recht«, sagte der Engel, »denn es ist wahr,
daß du in einer Stunde erst gerichtet werden sollst, weil du deine
Mutter
umgebracht hast. Aber wenn du mir diese letzte grauenvolle Stunde
schenkst für
einen anderen, der Besseres damit anfangen kann als du, so bin ich
bereit, dich
schon jetzt mit mir zu nehmen. Gleich wirst du hören, wie man im Hof
den Galgen
aufrichtet, bald wird das Gefängnistor knarren, um den Leuten Einlaß zu
gewähren, die deiner Hinrichtung beiwohnen wollen. Endlich wird sich
die Tür
deiner Zelle zum letztenmal öffnen, und draußen werden der
Scharfrichter und
seine Gesellen stehen, die dich die enge Treppe hinunterschleppen
werden, bis
zu dem Gerüst, auf dem du dein Leben in schimpflicher und martervoller
Weise
enden sollst.«
»Fort!
Fort!« schrie der Verurteilte. »Wenn ich auch
nur auf das kleinste Stück von meinem Leben verzichten wollte,
hätt' ich
mir ja längst den Kopf hier an die Wand rennen können, und alles wär'
vorbei
gewesen. Aber ich will nicht! Ich will nicht! Nein! Ich will das
Hämmern und
Schlagen im Hofe hören und das Knarren des Tores, und ich will mit
diesen Füßen
über die schmale Treppe hinuntergehen zu dem Gerüst, will die Menschen
sehen,
die gekommen sind, will hören, wie sie flüstern, und den Himmel will
ich noch
einmal schauen, bevor ich dorthin muß, wo ich nicht mehr sehen und
hören werde.
Und ich weiß eine Geschichte von einem, der hat Vater und Mutter
umgebracht,
und noch unter dem Galgen, mit dem Strick um den Hals, haben sie ihn
begnadigt.
Und wenn sie mich in den tiefsten Kerker werfen auf Lebenszeit, bei
Wasser und
trockenem Brot, zu Ratten und Mäusen, und ich soll nie wieder die Sonne
sehen,
so würd' es mir recht sein, bin dann noch immer besser dran als ein
toter Graf!
Hebe dich weg, verruchtes Gespenst, hebe dich weg!«
Noch
klang dem Jüngling das Fluchen des Verurteilten
im Ohr, da fand er sich schon in einem schönen, stillen Gemach, das
matt
erhellt war von einer roten Ampel, die von der Decke herabhing und
ihren Schein
über ein Himmelbett verbreitete, in dem ein junges Paar sich innig
umschlungen
hielt. Aber nur das junge Weib sah die Erscheinung und lächelte.
»Bist
du der Engel der Liebe?« fragte sie.
»Nein,
ich bin der Engel des Todes und komme, dir
deinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Denn ich will dich von hinnen
nehmen,
während du in den Armen des Geliebten ruhst.«
»Mit
ihm?«
»Nein
– allein.«
»Das
will ich nicht«, flüsterte das junge Weib.
»Und
willst du's auch nicht, wenn ich dir sage, daß du
doch in einer Stunde sterben müßtest?«
»In
einer Stunde?«
»Ja,
so ist es dir bestimmt. Aber dann wirst du allein
sein und wirst deine Arme vergeblich nach dem Geliebten ausstrecken.
Glaube
nicht, daß du träumst; was ich dir sage, ist wahr, so jung du bist.«
Da
schmiegte sie sich an den Geliebten und sagte: »Ich
will nicht sterben, ich will nicht sterben!«
Der
Geliebte lächelte und sagte: »Was hast du denn,
mein armes Kind?«
Da
sprach der Engel des Todes: »Du wirst mir diese
Stunde gern schenken, wenn ich dir sage, daß ich sie für eine
deiner Schwestern auf Erden brauche, die ebenso innig geliebt wird
als du
und die dahingehen soll, ohne es zu wissen!«
»Nein,
ich gebe dir diese Stunde nicht«, erwiderte das
junge Weib; »denn ich habe mich wohl gesehnt, in den Armen des
Geliebten zu
sterben, solang du mir fern warst, aber da ich dich vor mir sehe, will
ich auch
diese Stunde noch leben, und wär' es auch allein – und ohne Liebe!«
Da
trug der Engel den Jüngling in die Lüfte und sprach
zu ihm: »Nun bring' ich dich wieder heim.«
Den
Jüngling aber faßte eine namenlose Verzweiflung,
er klammerte sich mit beiden Armen an den Engel und rief: »Verlaß mich
nicht!
So kann ich nicht zurück! Die Fülle des Lebens ist ungeheuer, und
irgendwo in
der Welt muß diese einzige Stunde zu finden sein, die ich haben will
und um die
ich dich nochmals anflehe.«
Da
erwiderte der Engel: »Es ist so, wie du sagst. Aber
nun gibt es nur noch einen einzigen auf der Welt, der sie dir geben
kann, und
wenn der es nicht tut, so wird dich das elender machen als alle
Enttäuschungen,
die du bisher erfahren. Denn der eine bist du selbst, und die eine
Stunde mußt
du mit deinem ganzen Leben bezahlen.«
»So
nimm es hin!« rief der Jüngling freudig aus.
»Höre
mich an«, sprach der Engel. »Denn ich sage dir
noch mehr. Das Leben, das dir bevorsteht, wird Not, Krankheit und
Einsamkeit
sein. Bist du bereit, es hinzugeben, so gehst du nach Ablauf einer
Stunde mit
der, die du liebst, dahin.«
»Ich
danke dir, du gütiger Engel!« rief der Jüngling
aus. »Nun ist mein Flehen erhört.«
In
demselben Augenblick saß er wieder an dem Bette der
geliebten Frau, hielt ihre Hand in der seinen und wollte ihr sagen, wie
unendlich er sie liebte. Da sah er, wie sich ihre Lider schlössen, ihre
Brust
sich senkte. Er wartete eines neuen Blickes, eines neuen Hauches – doch
es war
vergeblich. Sie atmete nicht mehr, sie schaute nicht mehr – es war zu
Ende. Da
stürzte er in Verzweiflung an ihrem Bette zusammen und schrie auf:
»Engel des
Todes, warum hast du mich betrogen?«
Und
der Engel, der nun zu Häupten des Bettes stand,
sprach: »Armes Menschenkind! Glaubst du denn, daß es dir vergönnt ist,
durch
alle deine Liebe und durch allen deinen Schmerz hindurch in die Tiefen
deiner
Seele zu schauen, wo deine wahren Wünsche wohnen? Noch einmal wirst du
mich
sehen, da werde ich dich fragen, ob ich dich heute betrogen habe oder
du dich
selbst.«
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